European Song Contest: And the winner is … Vienna

Perfekt gestylt wie Drag Queen Conchita Wurst ging der 60. Song Contest als eine Multimedia-Show über die Bühne, die neue Maßstäbe setzt. An ihr Gesicht und die weißen Strichmännchen werden sich noch viele erinnern, wenn der hektische Stillstand unserer Zeit längst weiterhastet. Äußerst wirksam kontrastierten die sympathischen Strichmännchen das Glitzerspektakel, die pantomimische Interaktion des schwedischen Contest-Siegers mit ihnen ist Inszenierung vom Feinsten. Wien ist bei Lichte betrachtet der wirkliche Sieger. Die Stadt bewies sich als Eventplatz der Superlative. Der Staatssender ORF kann das auf seine Habenseite buchen. „Song“ bleibt keiner. In den Zwischenräumen blitzten nationale und politische Vorlieben als Abstimmungs-Motive auf. Und technische Vorkehrungen, Unerwünschtes weg-zu-manipulieren, die beunruhigen.




Ohne die unwiderstehliche Einladung meines Freundes Luki hätte ich wohl nie einen Song Contest verfolgt. Dass Luki Wiener ist, verdoppelte Weitwinkel und Tiefenschärfe unserer Betrachtung. Das Wissen des – in einem anderen Teil seines Lebens – führenden innovativen Heurigenwirts Luki um „die Leute“ ist jedem soziologischen Zugang überlegen. Mit jedem Land, das seine Punkte an die Kandidaten der anderen Länder vergab, wurden seine Kommentare, die seiner Franziska und meiner Barbara bissiger und unser Erstaunen über die erkennbaren Abstimmungs-Motive größer. Melodie und Stimme spielten die letzte Geige, Inszenierung und Performance die zweite, Politik und Nationalität die erste.

Wird Beifalls-Manipulation Standard?

12-mal gab es die maximale Punktezahl 12 für Schweden, ihre Bekanntgabe wurde jedes Mal lautstark begrüßt. Die Russin Polina Gagarina, eine der wenigen Stimmen von Kraft bei diesem Contest, lag in Führung, als 20 von 40 Ländern ihre Punkte abgeliefert hatten. Jedes mal, wenn es Punkte für Russland gab, buhte das Contest-Volk mit Stimmen, Händen und Füßen. Erst nachdem Schwedens Måns Zelmerlöw immer deutlicher führte, nahmen die Buhrufe für Russland ab. Sie galten nicht der Sängerin, sondern Putin. Als Conchita Wurst das Publikum bat, auch bei Wertungen pro Russland zu applaudieren, weil das bei Building Bridges jeder Teilnehmer verdient, entstand eine peinlich Stille. Noch peinlicher allerdings musste der offensichtlich eingeblendete Kunstbeifall wirken.

Auf Buhrufe für russische Kandidaten war die Europäische Rundfunkunion (EBU) vorbereitet. Schon im letzten Jahr hatte es solche als Protest gegen die Besetzung der Krim und den Krieg im Osten der Ukraine gegeben. Deshalb hatte das Kommunikationsteam der EBU für technische Vorkehrungen bei der Eurovisions-Übertragung in der Wiener Stadthalle gesorgt, um Buhrufe zu unterdrücken. Der EBU ist unangenehm, dass die Geräuschbremse versagte. Mich sorgt, dass die Vereinigung der öffentlich-rechtlichen Sender Europas solche Manipulationsprogramme vorbereitet. Gibt es sie erst einmal, werden sie nicht nur zum Schutz des völkerverbindenden Mottos „Building Bridges“ des Megaevents Song Contest eingesetzt. Und nicht nur von EBU-Sendern.

Publikums-Manipulation durch das Einblenden von nicht existentem Beifall in der amerikanischen Soap Opera sind nichts Neues. Wenn aber das Ein- und Ausblenden, Verstärken und Abschwächen Standard im Fernsehen wird, muss Joseph Goebbels in der Hölle trotz aller Hitze vor Neid erblassen. Müssen wir uns auf eine Propagandamaschinerie im XXL-Format einrichten?

Vor Neid erblassen müsste auch Leni Riefenstahl angesichts des Wiener Spektakels. Das Logo des 60. ESC war eine leuchtende Kugel mit dem treffenden Namen „The Sphere“: 629 Kugeln, Durchmesser 20 Zentimeter, ein Kilogramm schwer, mit Raps gefüllt an unsichtbaren Seilen unter die Hallendecke gehängt tanzten in einer Rasterformation von 17 Reihen und 37 Spalten über den Zuschauern. Als Zentrum der Bühne formten 1.288 LED-Stelen ein 44 Meter langes, gut 14 Meter hohes und 22 Meter tiefes Auge. Der Einsatz dieses Multimedia-Giganten produzierte Bildfolgen, deren Wirkung am TV-Schirm sich wohl niemand entziehen kann. Der Schöpfer dieses Werks ist der Münchner Bühnendesigner Florian Wieder, der auch den ESC in Düsseldorf 2011 und Baku 2012 gestaltete. Im Song Contest gingen Deutschland und Österreich leer aus. Bei der Inszenierung hat Deutschland mit Florian Wieder neben dem Sieger Wien und Österreich auch noch einen guten Platz.

Nationale Zuneigungen dominieren die Bewertungen

50 Prozent der Stimmen wurden in den Ländern im Televoting abgegeben, die andere Hälfte von fünfköpfigen Juries, aus beiden Werten wurde die Punktezahl gebildet. Im Verlauf des Abends fing unsere Viererrunde an, zu raten, welches Land welchem acht, zehn und zwölf Punkte gibt. Und wir lagen erstaunlich oft richtig.

Finnland verteilte 8 an Russland, 10 an Estland und 12 an Schweden. Estland gab Russland 12 und Schweden 10; 8 an Ungarn resultieren klar aus der gemeinsamen finn-ugrischen asiatischen Herkunft und Sprachfamilie. Litauen hatte 8 Punkte für den baltischen Nachbarn Estland, trug mit 10 Punkten zum Sieg Schwedens bei und widmete 12 dem anderen baltischen Bruder Lettland – null für Russland. Lettlands 12 gingen an Schweden, 10 an Russland und 8 an Italien. Norwegen hatte für Nachbar Schweden 12 Punkte, 10 für Australien und 8 für Lettland. Auch Schweden gab Australien 12 Punkte; mit 10 an Belgien und 8 an Italien unterstrich es seine politisch neutrale Haltung. Zu Russlands Sieg wollten Norwegen und Schweden nicht beitragen. Wer sich für die anderen Länderwertungen interessiert, bitte hier klicken.

Gender code und win win

Während der Song-Contest-Tage sorgten 49 Wiener Fußgänger-Ampeln nicht nur für die Sicherheit, sondern auch für Gender-Zweisamkeit, was Wien zusätzlich weltweit in die Schlagzeilen brachte. Ab sofort bleiben die Ampelpärchen permanent  – und sollen schon bald auch in München blinken. Na wenn das deutsch-österreichische Bande nicht stärkt, nachdem sie sich mit Null Contest-Punkten endlich einmal auf Augenhöhe begegnen?




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