Hans-Jochen Vogel hat das Zentrale des christlichen Glaubens begriffen

Der verstorbene SPD-Politiker fand im Alter zum christlichen Glauben. Das letzte Gespräch mit ihm bleibt unvergesslich.

© Michael Kramers

Ja, er hat gelitten „wie ein Hund“. Weniger am Zustand seiner maroden SPD und seinen Ideologie-besessenen Nachfolgern. Mehr daran, dass sich Wolfgang Schäuble weigerte, ihm zu vergeben. Im Gegenteil: Der Mann, der das Wort „christlich“ im Parteinamen trägt, kofferte sogar Jahre später noch nach: „Ich habe Mühe, den Namen Vogel noch in den Mund zu nehmen.“ Was war passiert? Hans-Jochen Vogel hatte dem damaligen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden vom Pult des Bundestages schneidend scharf zugerufen: „Dieser Mann ist unter dem Eindruck seiner Behinderung sehr hart geworden, manche meinen sogar böse.“ 1994 war das, und ich merkte bei vielen Gesprächen, wie sehr die Weigerung zu Verzeihen dem Mann zusetzte, der sich im Alter ganz bewußt dem Glauben an Jesus Christus zugewandt hatte. Bei unserem Interview 2015 wollte er nicht mehr darüber sprechen. Ihm war anderes wichtiger.

Zum Schluss dieses Interviews holte er nochmal tief Luft. Die Zeit war fast abgelaufen. Er wollte ganz offensichtlich die letzten Minuten noch nutzen. Testamentarisch. „Der Glaube ist nicht nur etwas für alte Leute. Gerade die Jungen brauchen einen archimedischen Punkt. Und das ist der unbewegte Beweger, nämlich Gott.“ Und dann, der Hammer: „Das wichtigste Datum der Zukunft ist das Jüngste Gericht. Wir werden vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Dann gibt es endlich Gerechtigkeit, auch für die vielen, die in ihren Familien als Kinder mibssraucht wurden und schweigen müssen.“ Ja, das war die andere Seite des Hans-Jochen Vogel. Nicht nur der Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger, die wandelnde Klarsichthülle und Büroklammer. Josef Kraus hat in seinem TE-Kommentar völlig recht: „Einen wie ihn wird es in der SPD nicht mehr geben. Zwischen ihm und dem aktuellen Gespann liegen Welten.“ Interessant: Wenn es in der SPD brannte, holte man zu deren Lebzeiten Johannes Rau oder Hans-Jochen Vogel aus der Mottenkiste, um zu retten, was zu retten ist. Zwei überzeugte und vor allem bekennende Christen.

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2015 signalisierte mir sein Bruder Bernhard, Jochen würde gern noch ein größeres Interview geben, am liebsten in meiner Sendung. „Ich habe ihn doch noch nie gewählt!“, war meine spontane Reaktion. Wir lachten beide. Es müsse aber in seinem Altenheim in München sein. Mit meinem Team reiste ich nach Bayern. Als ich nachmittags zum Set kam, feixten meine Kollegen und zeigten auf ein Buch: „Das hat Vogel eben vorbeigebracht. Es wird für dich eine lange Nacht.“ Es war gerade erschienen: „Niemals aufgeben – Mit Werten in Führung bleiben.“ Voller Bleistift-Bemerkungen, mit vielen Zetteln drin, Fragen, Ergänzungen, Kritik.

Wie sehr es in ihm arbeitete, merkte ich bereits im Februar 2005. Wir hatten beide bei der Christlichen Polizeivereinigung (CPV) in Nürnberg gesprochen. Jetzt verhinderte ein Schneesturm den Abflug nach Berlin. Der Flughafenchef wollte uns in die VIP-Lounge führen. Doch Vogel lehnte kategorisch ab. So sprachen wir in einem ruhigen Eckchen zwei Stunden über Gott und die Welt. Mehr über Gott. Bei einem privaten Abendessen bei Johannes Rau im Schloß Bellevue hatte er im Vorjahr unvermutet erzählt: Er sei so beeindruckt von den Bibelarbeiten bei der „Internationalen Berliner Begegnung“, einem Ableger des parlamentarischen Gebetsfrühstücks, die der Verleger Friedrich Hänssler regelmäßig hielt. Er käme gar nicht so schnell mit dem Mitschreiben nach. „Dieser Mann glaubt an alles, was in der Bibel steht. Und erzählt die Geschichten mit Humor, aber einem heiligen Ernst. So etwas habe ich noch nie gehört.“ Ja, durch die Arbeit dieser überparteilichen Gebetsfrühstücke, die heute noch existieren, ist dieser Mann zum lebendigen Glauben gekommen. Anstöße kamen auch von einem seiner Leibwächter, einem überzeugten Christen. Erst unlängst sagte er mir, der Vergleiche mit vielen deutschen Spitzenpolitikern ziehen kann: „Dieser Hans-Jochen Vogel ist durch und durch echt.“ Geschichten, die ich vertraulich über andere aus der Politiker-Kaste hörte, haben mir manche Illusion geraubt über Menschen, die ich bisher für glaubwürdig, seriös und gradlinig hielt.

Das Vogel-Interview werde ich nie vergessen. Über die aktuelle politische Lage und das Umfrageelend seiner Partei war er kurz angebunden. Doch ein damals brandaktuelles Thema lag ihm am Herzen: Er sprach sich vehement gegen jegliche Form von Sterbehilfe aus. Das sei eine Sache Gottes, und nicht des Menschen. Und er wolle in keiner Gesellschaft leben, in der alte, pflegebedürftige Leute sich geradezu überflüssig und als Belastung fühlen und dann lieber sterben wollen. Der Zwang dazu sei doch förmlich programmiert.

Urgestein Hans-Jochen Vogel
Einen wie ihn wird es in der SPD nicht mehr geben
Vogel, der das Reden über Gott lieber seinem Bruder Bernhard überließ, wurde in diesem langen Interview, seinem letzten, sehr offen. Er habe eine bewusste Entscheidung für den christlichen Glauben getroffen. Leider erst so spät. Er würde jetzt vieles anders machen und bei jeder Entscheidung fragen: „Was würde Jesus jetzt tun oder sagen.“ Natürlich lag die Frage bei einem fast 90jährigen auf der Hand: „Haben Sie Angst vor dem Tod?“ Ein energisches „Nein!“ mit der knappen Begründung: Seit er Jesus kenne, habe er keine Angst mehr davor.

Für mich schließt sich ein Kreis. 1972 war ich als Student bei den Olympischen Spielen in München. Im Stadion ein „deutsches Sommermärchen.“ Doch dann der schreckliche Anschlag palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft. Abbrechen oder nicht, war die Frage im Stadion und in aller Welt. Oberbürgermeister Vogel war für Weitermachen. In seiner ruhigen Art erklärte er das über die Medien überzeugend. Noch wichtiger war für die Stimmung der damalige Stadionsprecher Joachim Fuchsberger mit seiner sonoren, beruhigenden Stimme. Wir trafen uns kurz vor seinem Tod im ARD-Talk Hart aber fair. Hinterher solle ich mir bitte Zeit nehmen. Wir redeten bis ihn die Nacht. Nach dem furchtbaren Tod seines Sohnes nagte an Fuchsberger die Sinnfrage, er hatte ein gebrochenes Herz: „Ich wohne ja direkt neben ihrem alten Kollegen Harry Valerien. Wir sind uns zu 99 Prozent einig. Was wir denken und essen, wo wir Urlaub machen und was wir wählen. Nur dass Harry dauernd von Jesus erzählt….“ Nach einer fast endlosen Pause fügte er leise hinzu: „Aber er hat keine Angst vor dem Tod.“

Ja, das ist der entscheidende Unterschied, der Markenkern von Christen und Kirche. Nicht diesen elende Politisieren von Kanzeln und Kathedern, diese oft bildungsferne bischöfliche Einmischung in Themen, die besser bei Politik, Gewerkschaften oder dem Roten Kreuz aufgehoben wären. Hans-Jochen Vogel hat das Zentrale des christlichen Glaubens, wenn auch spät, begriffen. Er ruhe in Frieden.

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Kommentare ( 16 )

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friedrich - wilhelm
3 Jahre her

…….de mortuis nihil nisi bene! ich weiß nicht, was ich von diesem interview
halten soll! vogel war auch niemals mein mann als politiker, doch hätte ich ihn
gerne
t i e f e r theologisch befragt, dann wären vielleicht manche antworten gekommen, die mich mehr überzeugt hätten!

friedrich - wilhelm
3 Jahre her
Antworten an  friedrich - wilhelm

….am meisten an hj vogel störte mich, daß er maßgebend anteil an der gründung des seeheimer kreises hatte! und d a s hat mich nicht für ihn eingenommen! zu der zeit war ich aber nicht mehr mitglied in der spd! der radikalenerlass und die notstandsgesetze, die schon damals vorbereitet wurden, haben mich vertrieben, obwohl ich damals mit walter möller und anderen in hessen süd die konvergenzkriter ien ausgearbeitet hatten, die zu willy brandts ostpolitik führten!

friedrich - wilhelm
3 Jahre her
Antworten an  friedrich - wilhelm

….ich muß erläutern: der seeheimer kreis wurde g e g e n willy brandt gegründet!

Mozartin
3 Jahre her

Ich erinnere mich an diesen Vorwurf gegen Schäuble und er missfiel mir. Vielleicht wog dieser m.E. haltlose Vorwurf für Schäuble umso mehr, als er Vogel achtete. Man sagt immer, dass eine Entschuldigung immer nur gewährt werden kann. Ich denke, eine ausgesprochene Bitte hat auch Bestand, jedenfalls vor Gott. Ich habe nie etwas von Helmut Kohl gehalten, für mich ein Meister der Attitüde. Schäuble könnte schon damals gelitten haben. Trotz Behinderung ist er seiner Partei ein Licht in der Finsternis, um es sehr überspitzt zu sagen. Hans-Jochen Vogel ruhe in Frieden, Wolfgang Schäuble möge seiner Partei und der Bundesrepublik noch lange… Mehr

huberto
3 Jahre her

Kurzer Hinweis zu „Ja, das ist der entscheidende Unterschied, der Markenkern von Christen und Kirche.“ Nein, keine Angst vor dem Tod zu haben, hat primär nichts mit der Institution Kirche zu tun. Einige Stichpunkte. Jacob Böhme via Ronald Steckel oder Im Lichte der Wahrheit können der Beginn der eigenen reise sein. Zum Geleite! „Die Binde fällt und Glaube wird zur Überzeugung. Nur in der Überzeugung liegt Befreiung und Erlösung! Ich spreche nur zu denen, welche ernsthaft suchen. Sie müssen fähig und gewillt sein, sachlich dieses Sachliche zu prüfen! Religiöse Fanatiker und haltlose Schwärmer mögen ferne davon bleiben; denn sie sind… Mehr

F.Peter
3 Jahre her

Wie Menschen agieren, denen jegliche Zentrierung in ihrem Leben fehlt, können wir doch derzeit allerorten und in allen Lebensbereichen wahrnehmen. Und wenn dann das führende Personal eines Landes, meinetwegen auch Eliten genannt, sich nur noch um ein goldenes Kalb bewegen und alle Werte einer Gemeinschaft negieren, braucht man sich über das Verhalten des „Fußvolkes“ nicht zu wundern! In der kleinsten Gemeinschaft einer Bevölkerung schon zu beobachten, der Familie; wenn da kein Rahmen von Anstand, Rücksichtnahme, respektvollem Umgang herrscht, herrscht Anarchie!

Otis.P. Driftwood
3 Jahre her

„Das wichtigste Datum der Zukunft ist das Jüngste Gericht. Wir werden vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Dann gibt es endlich Gerechtigkeit, auch für die vielen, die in ihren Familien als Kinder mibssraucht wurden und schweigen müssen.“
So ist es. Besonders die abgetriebenen Kinder werden sich dann bei Jochen Vogel, seiner Partei und allen anderen Kämpfern gegen § 218 bedanken, daß sie den Niedergang der SPD nicht miterleben mußten.

Unterfranken-Pommer aus Bayern
3 Jahre her

Möge er seinen Frieden finden.

Ein Kommentar sei mir erlaubt: „Er habe eine bewusste Entscheidung für den christlichen Glauben getroffen. Leider erst so spät. Er würde jetzt vieles anders machen und bei jeder Entscheidung fragen“

Im aktiven (Politiker)-Leben ist aktiv gelebter christlicher Glaube meiner Einschätzung nach eher hinderlich. Und für AM ist er auch nur ein weiteres Mittel zum Zweck. Das Schäuble ein „böser Mensch“ geworden ist…schwer zu verneinen.

Stiller Ruf
3 Jahre her

Könnte aber auch damit zu tun haben, dass sie im **geschäft „Politik“, vom christlichen Glauben abgefallen sind bzw. ihn nicht durchhalten konnten…

Peter Kern
3 Jahre her

Was soll man da noch sagen? Großartig, einfach ein großartiger Blick auf Hans-Jochen Vogel!

F.Peter
3 Jahre her
Antworten an  Peter Kern

Man könnte zum Beispiel festhalten, dass zwischen H.J. Vogel un dem heutigen Personal der Spezialdemokraten Galaxien liegen – in jeder Hinsicht!

Walter Knoch
3 Jahre her

Auch ich habe seine Partei nie gewählt. Seinen Bruder Bernhard, der in Speyer wohnt(e), und einmal direkt gewählter Kandidat für den Wahlkreis Speyer-Neustadt war, sehr wohl. Bernhard Vogel, später lange Jahre Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz war, verkörperte für mich den Geist der CDU. Aber von Bernhard Vogel soll hier nicht die Rede sein. Leute wie Helmut Schmidt, Georg Leber, Hans Apel und auch Hans-Jochen Vogel waren Leute, denen ich die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland sehr wohl an die Hand hätte geben können. Ich hoffe, er sieht jetzt, was er zu Lebzeiten nur glauben konnte. Mir selbst ist der Glaube an einen… Mehr

Koedoe
3 Jahre her
Antworten an  Walter Knoch

Natürlich kenne ich Ihre „guten Gründe“ nicht. Denke beim Lesen Ihrer Zeilen an eigene Verlusterfahrung. Ich kenne solche den Zweifel an dem persönlichen Gott- vor allem aber kenne ich die Erfahrung seiner Nähe in den richtig dunklen Zeiten. Das hat den Zweifel überwunden. Ihr Status quo ante ist nicht verloren, keinesfalls.

Hans-Jochen Vogel soll schauen, was er geglaubt und gehofft und für gut befunden hat.

elly
3 Jahre her

“ Und er wolle in keiner Gesellschaft leben, in der alte, pflegebedürftige Leute sich geradezu überflüssig und als Belastung fühlen und dann lieber sterben wollen.“ dann ist es gut für ihn, dass er nicht mehr miterleben musste und nicht mehr muss, wie es den Pflegeheimbewohnern derzeit geht. Mit der Parole „Risikogruppen schützen“ wurden diese in Isolationshaft genommen. Manchmal radel ich am Garten eines Pflegeheims vorbei, bleibe am Zaun stehen und unterhalte mich mit den alten Leuten, die im Rollstuhl „zum Lüften“ nach draußen geschoben wurden – O-Ton der Senioren. Sie fühlen sich nicht nur überflüssig, sie haben ein schlechtes Gewissen,… Mehr

Unterfranken-Pommer aus Bayern
3 Jahre her
Antworten an  elly

Ich habe letzten Oktober einen hochbetagten und über die Jahre zu einem guten Freund gewordenen Herrn das letzte Geleit gegeben. Wunderbarer Mensch, Kriegsteilnehmer, Ostpreuße. Der schaut sich das jetzt alles kopfschüttelnd von oben an.

Davor zwei und danach eine Verwandtschaften, den letzten am 11.03. Wir sind dem Lieben Gott dankbar, daß wir meinen Onkel noch im Krankenhaus besuchen konnten und die Beerdigung ein paar Wochen später noch normal stattfand. Nur fünf Tage später wäre das nicht mehr möglich gewesen.

Ich bin sehr froh, daß keiner von ihnen diesen ganzen ** mitmachen mußte. 😐

Lars Baecker
3 Jahre her

Bildung, Menschlichkeit, Streitbarkeit, Verantwortungsbewusstsein. Welcher Politiker in ähnlichen Positionen wie Hans-Jochen Vogel vereint diese Merkmale noch? Ich war nie SPD-Wähler, aber ich habe die Partei ob dieser Persönlichkeiten immer geachtet und bewundert. Das Erbe Vogels treten Lichtgestalten wie Kühnert und andere an. Keine Bildung, und Menschlichkeit sowie Verantwortungsbewußtsein lediglich als Ausfluss ideologischer Besserwisserei.
Der Tod Hans-Jochen Vogels nimmt mich mit, da mir wieder einmal bewusst wird, dass die Zeit, in der man (zumindest) glauben durfte, dass das Schicksal unseres Landes treuhänderisch gestaltet wird. Heute ist offensichtlich, dass dies Vergangenheit ist.