Das Bundesverfassungsgericht klammert einen brisanten Antrag aus

Das Bundesverfassungsgericht soll über die Wiederholung der Wahl in Berlin entscheiden. Auffällig ist, dass es dabei nicht den weitestgehenden Antrag vorzieht. Denn nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland ist die Bundestagswahl problematisch, weil die Briefwahl zum Regelfall geworden ist.

IMAGO / Stockhoff
Das Bundesverfassungsgericht hat angekündigt, am 19. Dezember eine Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wegen der Berliner Wahlpannen zu verkünden. Diese war seitens des Bundesverfassungsgerichts vor einiger Zeit offenbar stellvertretend für zahlreiche Wahlprüfungsbeschwerden, darunter auch eine der AfD-Bundestagsfraktion sowie die von zwei Tichy-Lesern, die sich einem Wahlprüfungsaufruf der Atlas-Initiative angeschlossen hatten, auch mündlich verhandelt worden.

Die lange Verfahrensdauer gibt jetzt vielfach Anlass zu Kritik. Denn nun wird eine Wiederholungswahl im Bundesland Berlin oder jedenfalls in einigen Wahlbezirken frühestens Anfang 2024 stattfinden. Auf jeden Fall muss in 431 Wahllokalen neu gewählt werden, denn dies hatte ja bereits der Deutsche Bundestag in Reaktion auf zahlreiche Wahleinsprüche so entschieden; die Wahlprüfungsbeschwerden wurden erhoben, weil vielen Einspruchsführern der Beschluss des Bundestages, der insofern ja „in eigener Sache“ entscheidet, allzu zurückhaltend erscheint. Jedenfalls steht der Beschluss des Bundestages doch in sehr starkem Kontrast zu der Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs im Herbst 2022, nach dem die Abgeordnetenhauswahl, die ja gleichzeitig mit der Bundestagswahl am 22. September 2021 stattgefunden hatte, bereits im Februar 2023 komplett zu wiederholen war.

Bei Wahlwiederholungen ist es so: werden Wahlpannen geltend gemacht und besteht wenigstens die Möglichkeit ihrer „Mandatsrelevanz“, so muss die Wahl wiederholt werden. Dies jedoch nur in denjenigen Wahllokalen, in denen die Fehler und ihre mögliche Mandatsrelevanz hinlänglich substantiiert dargelegt worden sind, denn das ansonsten bestehende, nicht oder nicht durchgreifend angefochtene Wahlergebnis ist ebenfalls schützenswert. Also wählt selbst bei spektakulär erfolgreichen Wahlprüfungsbeschwerden gegen eine Bundestagswahl immer nur eine kleine Minderheit der Wahlberechtigten nochmal.

Die Wiederholung einer gesamten Bundestagswahl, wie eben der Abgeordnetenhauswahl in Berlin, stand noch niemals im Entferntesten zur Rede; das Bundesverfassungsgericht pflegt, schon um die Legitimität der Politik nicht übermäßig anzukratzen, regelmäßig, die Anforderungen an die Darlegungen zur „Mandatsrelevanz“ ungeachtet des eigentlich geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes so zu überspannen, daß bisher kaum je eine Wahlprüfungsbeschwerde erfolgreich war. Und das wirft wiederum ein Problem der als tragender Wahlrechtsgrundsatz gebotenen „Gleichheit der Wahl“ auf (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), den die Minderheit, die neu wählen darf, nimmt nicht an der „gleichen“ Wahl teil wie alle übrigen Bürger, sondern wählt ein zweites Mal, diesmal korrektiv, unter völlig veränderten politischen Bedingungen.

Man merkt also: die hier aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Probleme sind ihrer Natur nach nicht wirklich lösbar. Man würde sie praktisch immer noch am besten dadurch bewältigen, dass man das Verfahren möglichst beschleunigt, damit die Nachwahl zeitlich möglichst bald nach der Ausgangswahl stattfindet, so daß die politische Gesamtsituation noch einigermaßen ähnlich ist.

Aber dieser Forderung steht natürlich entgegen, dass auf Bundesebene – anders als im Bundesland Berlin – bei Wahleinsprüchen immer erst der Bundestag als in eigener Sache entscheidende Instanz vorgeschaltet ist, das Bundesverfassungsgericht ist immer erst Rechtsmittelinstanz. Und der Bundestag, der seine einmal erreichte Besetzung nicht nur soweit als möglich, sondern auch so lange wie möglich erhalten zu wollen pflegt, zieht das Einspruchsverfahren eigentlich immer in die Länge! Aber das Bundesverfassungsgericht hat nun auch über ein Jahr gebraucht.

Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings auch aus einem anderen Grund – der der breiten Öffentlichkeit offenbar unbekannt geblieben ist – schwer nachvollziehbar: Es sind beim Bundesverfassungsgericht nicht nur etliche Wahlprüfungsbeschwerden wegen des Berliner Wahlchaos, wie eben auch die der beiden Tichy-Leser, anhängig, sondern darüber hinaus die Wahlprüfungsbeschwerde eines süddeutschen Einspruchsführers, die mit den Berliner Wahlpannen nichts zu tun hat.

In dieser rein rechtliche begründeten Wahlprüfungsbeschwerde wird die gesamte Bundestagswahl als ungültig behauptet, und zwar wegen des beispiellos hohen Briefwähleranteils, der bundesweit bei rund 47 Prozent lag, in etlichen Bundesländern deutlich über 50 Prozent und in Bayern deutlich über 60 Prozent. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht selber 2009 geurteilt, die Briefwahl dürfe nie zum „Regelfall“ werden. Das war sie aber 2021 eindeutig! In den beiden Wahlprüfungsbeschwerden der Tichy-Leser wird diese Argumentation dann hilfsweise ebenfalls übernommen.

Und nun verhält es sich nach anerkannten rechtsmethodischen Grundsätzen so: es wäre zuerst immer über den weitestgehenden Antrag zu verhandeln und zu entscheiden, und dies wäre jedenfalls der des süddeutschen Beschwerdeführers gewesen, da diese eben mit einer rechtlich nachvollziehbaren Argumentation – immerhin stützt er sich unmittelbar auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selber! – die Ungültigkeit der gesamten Bundestagswahl geltend macht, hilfsweise ihre Ungültigkeit in etlichen großen Flächenländern, allen voran Bayern mit dem höchsten Briefwähleranteil.

Und hierüber hätte zuerst entschieden werden müssen! Denn es bliebe ja irrelevant und wäre auch gar nicht zu entscheiden, ob in Berlin nun in nur 431 oder deutlich mehr Wahllokalen neu gewählt werden muß, wenn es hierauf gar nicht ankäme, weil ohnehin die gesamte Bundestagswahl zu wiederholen wäre! Und dieses ergibt sich eben zwanglos, wenn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selber aus dem Jahr 2009 noch gilt.

Der süddeutsche Beschwerdeführer hat jedoch trotz einer Sachstandsanfrage im Sommer von seiner Beschwerde noch nichts weiter gehört.

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Kommentare ( 26 )

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Sonny
5 Monate her

Ich zweifle nicht mehr daran, dass das Bundesverfassungsgericht nur ein Steigbügelhalter der jeweiligen Regierungen geworden ist. Für einen normalen Menschen ist es nicht nachvollziehbar, dass das Ergebnis einer manipulierten bzw. gefälschten Wahl … a) überhaupt zu einer Regierungsbildung führt und fortlaufend daran fest gehalten wird und … b) die Betrüger nicht einmal gesucht und bestraft werden und… c) eine Verzögerungstaktik gefahren wird, um die Betrüger weitermachen zu lassen. Das grenzt an Landesverrat. Und wer weiß schon, wo noch überall betrogen wurde, was bei den Recherchen nicht ans Licht gekommen ist. Da können die mit ihren Gesetzesverdrehungen rumschwurbeln, wie sie wollen.… Mehr

Last edited 5 Monate her by Sonny
Dr_Dolittle
5 Monate her

Das BVG hat sich in meinen Augen disqualifiziert als es den Verlust der beruflichen Existenz als mit dem Begriff der „Freiwilligkeit“ vereinbar erklärte. Es ging um die Rechtmäßigkeit der „freiwilligen“ einrichtungsbezogenen Impfpflicht als Vorstufe zur ebenso „freiwilligen“ Allgemeinen Impfpflicht. Den Unterschied zu der „Freiwilligkeit“ mit der Angehörige von Republikflüchtlingen in der demokratischsten aller Republiken und GeStaPo-Opfer im 1000 jährigen Reich ihre Habseligkeiten abgeben mußten konnte mir noch niemand so recht erklären.

CIVIS
5 Monate her

Leider gibt es gegenüber dem Bundesverfassungsgericht -schon aus eigener Machtvollkommenheit heraus- nicht die Möglichkeit einer Un- bzw. Nichttätigkeitsklage.

Aber allein die Nichtbeantwortung und Nichtbeachtung (nicht einmal eine Eingangsbestätigung ?) zur Beschwerde und Sachstandsanfrage durch den süddeutschen Beschwerdeführer stellt eine Schofeligkeit sondergleichen dar und belegt die Wert- bzw. Geringschätzung des Gerichts dem einzelnen Staatsbürger gegenüber.

Rechtsprechung und Rechtsfindung nicht nach Gutsherrenart;
dafür aber nach Art des Bundesverfassungsgerichtes.

Last edited 5 Monate her by CIVIS
Fabian S.
5 Monate her

Ich erwarte von diesem undemokratischen und politischen Schein-Gericht nichts anderes als sich alles so hinzudrehen wie es passt oder Sachen auszuklammern. Das war in der DDR auch nicht anders.

Rolfo
5 Monate her

Das Verfassungsgericht wird „ja – aber“ sagen. Denn dem Vorrang des vorgeblichen Schutzes der körperlichen Unversehrtheit in Zeiten einer ausgerufenen Pandemie vor allen anderen Grundrechten hat das Verfassungsgericht ja bereits freien Lauf gegeben. — So wird die massenhafte-Briefwahl gerechtfertigt. Ich denke, noch viel weitreichender beabsichtigt das Gericht aus Klimagründen eingeschränkte Freiheitsgrundrechte zu legitimieren, jedenfalls scheint sich das Gericht auf das Abenteuer CO2-Budgets und dergleichen mehr lustige Theorien eingelassen zu haben. Immerhin nimmt es das Pariser Klimaabkommen ebenso ernst wie auch die – deutsche – Regierung – immerhin sich bemühend. Die Welt hält sich höflich die Hand vor den Mund, womit… Mehr

Last edited 5 Monate her by Rolfo
MartinL.
5 Monate her

Aus der Literatur weß ich, daß früher die Herrscher Gericht gehalten haben. Nach meinen Vorstellungen ging es darum Konflikte zu lösen, den Frieden im Land wiederherzustellen, Manch ein Herrscher erwarb den Ruf eines Gerechten, andere nutzten diese Funktion um selbst Vorteile zu erringen. Heute habe ich das Gefühl, es gibt eine Gerichtsindustrie, die mich an Kafka erinnert. Widersprüchliche Gesetze machen den Ausgang eines Prozesses unabsehbar. Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte haben infolge langandauernder Verfahren sichere Einkünfte, obwohl der Rückgriff auf den gesunden Menschenverstand ausreichend wäre. Die Herrschaft profitiert, wenn sich das Volk streitet. Von wem werden Richter gewählt? Nicht vom normalen… Mehr

Rene Meyer
5 Monate her

Auch wenn hier der 2. Senat und nicht der 1. Senat entscheidet, habe ich keine hohen Erwartungen an das Bundesverfassungsgericht. Dies resultiert aus seinem bisherigen Handeln in dieser Angelegenheit. Die Erosion des Rechtsstaats in Deutschland ist auch an diesem Gericht nicht spurlos vorübergegangen. Der frühere Anwalt und Politiker Harbarth ist jedenfalls die geeignete Spielfigur, um Gericht und Grundgesetz auszuschleichen, damit zukünftige Konflikte einerseits mit Beschwerdeführern und andererseits mit der EU-Bürokratie gar nicht mehr aufkommen können. Wer Augen hat, der möge sehen.

Sabine M
5 Monate her

Es ist ein Konglomerat, dem egal ist, was mit den Bürgern geschieht. Die schlafen weiter.

Ich lese weiterhin Tichy, Konntrafunk, Reitschuster, junge Freiheit. Nachkemkseiten Manova und und und ……….

Die meisten Deutschen begreifen es nicht zwecks Hirnmasse, der Rest ist zu faul. Das ist meine Meinung.

Im übrigen, ist mir eigentlich alles so was von egal. Weder wird die Erde verglühen noch irgendwelche Menschen gegrillt werden.

Wünsche allen ein schönes Wochenende!!!!!

Talleyrand
5 Monate her

Was mir als nichtjuristischem Normalbürger einfach nicht in den Kopf will: Ist denn unsere Verfassung so schlecht und mehrdeutig formuliert, dass es überhaupt eines Verfassungsgerichts bedarf, derartige Mengen von Unklarheiten nun schon ein halbes Jahrhundert lang zu interpretieren, zu reparieren und umzudeuten? Wenn das zutrifft, wäre es an der Zeit, mal eine neue Verfassung anzuschaffen, vielleicht auch ein neues Volk. Bei allerdings vorauszusehendem erheblichem Mangel an potenten Experten kann man bei ChatGPT einen Versuch starten. Möglicherweise die bessere Wahl.

Fred Schneider
5 Monate her

Im großen und ganzen ist die Justiz in Deutschland feige und wird damit ihrer Aufgabe und ihrer Bedeutung für einen demokratischen Rechtsstaat nicht gerecht. Die Rechtsprechung in der Corona-Zeit hat dies eindrucksvoll bestätigt, wobei die wohltuenden Ausnahmen nur die Regel bestätigen.