Asylkrise: Flüchtlinge in Not, wir in Nöten

Unser Gastautor fühlt sich hin- und hergerissen von Verstand und Gefühl, von Bildern toter Flüchtlinge und den ungeheuren Zahlen, von den Nachrichten, dem Internet und von sich wieder thematisch häufenden Talkshows und ihrer polarisierenden Stimmung.

Es ist ein Dilemma: Ist das Flüchtlingsproblem mit Menschlichkeit oder mit dem menschlichen Verstand zu lösen? Selbstverständlich ist Mitmenschlichkeit geboten, wenn es um Menschen geht, die ihre Heimat verlassen, weil sie neue Perspektiven suchen. Weg von Krieg, Gewalt, Unterdrückung, Erniedrigung, Armut und Dahinvegetieren.

Zwischen selbstlos uneigennützig und kühl berechnend

Ihre Fürsprecher leisten, vom Prominenten bis  zum Nachbarn, alle ihre mögliche Unterstützung, oft selbstlos und uneigennützig, aber immer mit Gewinn für ihr eigenes Selbstwertgefühl. Allerdings bröckelt die reine Menschlichkeit in diesem Umfeld schon da, wo die Geschäftemacher und Schleuser auftreten. Auf der anderen Seite gibt es viele, die kühl berechnen: die Vertreter der Wirtschaft, die Auszubildende und Arbeitskräfte brauchen, natürlich genau definierte, staatliche Behörden, die ohne Einwanderung das Renten- und Gesundheitssystem für nicht finanzierbar und kollabierend halten, der industriell-soziale Komplex, der sich neue Pfründe verspricht…

Dazwischen alle anderen, hin- und hergerissen von Verstand und Gefühl, von Bildern toter Flüchtlinge und den ungeheuren Zahlen, von den Nachrichten, dem Internet und von sich wieder thematisch häufenden Talkshows und ihrer polarisierenden Stimmung. Von den hilflos und überfordert erscheinenden verantwortlichen Politikern und den guten unkritischen oppositionellen Parteien.

Ein Kommentator einer großen Tageszeitung hat diese Menschen als „gewöhnliche Gemüter“ bezeichnet, für die die Flüchtlingsflut tatsächlich nicht einfach zu begreifen sei. Ich bekenne, auch ich gehöre zu diesen Gemütern, die wohl besser mit „schlichten Gemütern“ oder „gewöhnlichen Sterblichen“ erfasst wären. Trotz einer Reihe von Studien- und noch mehr Berufs- und Lebensjahren.

Es ist nicht mehr nur die Frage nach dem Umgang mit den Flüchtlingen, sondern die Frage nach uns selbst: Was wird aus Deutschland, jetzt, 2030, 2050? Wie verändert dieser wohl unaufhaltsame Zustrom unsere Gesellschaft, insbesondere die bürgerliche Mitte? Und ich höre und lese keine Antworten, weder von den politisch Agierenden noch von der wirtschaftlichen Führung noch von den Intellektuellen aller Couleurs. Ich brauche sie, um mich jetzt zu orientieren, geistig wie emotional, um selbst eine Perspektive aufzubauen.

Abstempeln hilft nicht, bitte Antworten zur Asylkrise

Da hilft nicht das Gerede von Populisten, Polarisierern, Pauschalisierern. Auf alle Einheimischen muss differenziert reagiert werden, auf jene, die besorgt oder skeptisch sind, auf jene, die Fremde ablehnen, auf die, die ihnen feindlich gegenüber stehen und auf die, die voller Hass sind und Straftaten begehen.

Nur eine genaue, schonungslose Analyse der augenblicklichen und zukünftigen Gesellschaftssituation kann helfen, aus dem schlichten Gemüt ein begreifendes und mitfühlendes zu machen, aus dem ohnmächtigen ein partizipierendes Mitglied der neuen Gesellschaft und nicht abzudriften zum „Pack“ oder „Gesocks“. Darin könnten folgende Fragen aufgenommen werden, hier vorerst gebunden als bunter Herbststrauß: Was sind die Chancen, was die Risiken der Zuwanderung?

Gibt es Alternativen? Wie kann der Zustrom besser gesteuert werden, sowohl für die Flüchtlinge als auch für die Einheimischen? (Moratorien?) Wie wird verhindert, dass neben den Notleidenden sich auch Terroristen und Kriminelle einschleusen? Wie viele Flüchtlinge kann das Land integrationssicher pro Jahr und endlich aufnehmen? Wie verändert sich die mehrheitlich säkular-christlich eingestellte Gesellschaft durch Zuzügler mit mehr Religiosität und Islamzugehörigkeit? Entsprechen die Wünsche der Wirtschaft und des Staates den kommenden Qualifikationen?

Wie wird das Gewaltmonopol des Staates weiter durchgesetzt, wenn Flüchtlinge aus negativen Erfahrungen heraus den Ordnungskräften keinen Respekt entgegen bringen? Werden weiterhin gewisse Normen des gesellschaftlichen Umgangs gelten oder muss man z.B. gegenüber Lärm toleranter werden, wie von höchster Seite gefordert?

Ist unser Gesundheitssystem in der Lage, all die traumatisierten und ungeimpften Menschen zu versorgen? Wie werden sich Schule und Unterricht verändern, wenn bisher unbeschulte und nicht muttersprachliche Kinder das Schulmilieu beeinflussen?

Was machen die vielen jungen Männer, wenn ihnen die weiblichen Pendants fehlen? Fehlt nicht dieses aktive, zielstrebige Potential beim Widerstand gegen Diktatoren, IS-Milizen, Taliban und beim späteren Aufbau der Heimat?

Ist unser Asylrecht noch zeitgemäß oder muss es durch ein Einwanderungsgesetz ergänzt werden? Kommt es durch die vielen Ethnien und Religionen zu einer Radikalisierung auf den Straßen und Fußballplätzen? Wird die sprachlich feste Wendung „dunkle Gestalten“ allmählich auch eine andere und eine wörtliche Bedeutung bekommen?

Mischen wir uns, aus welchen Gründen auch immer, in die Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens ein, die an den 30-jährigen Krieg erinnern? Kann man allen Ernstes wirklich die Flucht und Vertreibung von 1945 mit den Flüchtlingen von 2015 gleichsetzen, von deutschen Binnenflüchtlingen mit fremden Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten?

Ich hätte noch viele Fragen. Allein wenn ich auf diese Antworten erhielte, wäre ich etwas heller.

Dr. Klaus D. Paatzsch hat als Lehrer für Deutsch und Geschichte und häufig als Klassenlehrer Jahrzehnte konkrete Erfahrungen mit migrantischen Schülern des 7.-10. Jahrgangs in Berlin-Moabit gesammelt, zuletzt waren nur noch 2 nicht-migrantische Schüler in seiner Klasse.

Demnächst hier seine Erfahrungen über die Schule im großen Wandel.

In der Serie „Texte zur Flüchtlings- und Asylkrise“ sind bisher erschienen:

– Tomas Spahn: Das Plädoyer für humanen Kolonialismus 2.0

– Sebastian Richter: Finnland – nur 2,7% Asylsuchende aus Syrien

– Klaus Engel: „The German Dream“ 

– Alexander Pschera: „Die letzten Franzosen“

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