Opportunistin und Machiavellistin: Angela Merkel

In diesen Tagen erschienen die Memoiren von Angela Merkel. Vor drei Jahren weinten viele Journalisten bei ihrem Abgang bittere Tränen. Heute hat sie bisweilen von den gleichen Leuten eher Häme zu erwarten. Wer Angela Merkel ist, erkundet Klaus-Rüdiger Mai in seiner Biografie.

Manche Erkenntnisse sind von zeitloser Bedeutung. Etwa die, dass man einen Kanzler schlecht im Wahlkampf in die Wüste schicken und stattdessen einen anderen Kandidaten ins Rennen schicken könnte. Wer denkt dann nicht an die gerade zu Ende gegangene mediale Posse um den vermeintlichen SPD-Kanzlerkandidaten Boris Pistorius? Das bezieht sich aber nicht auf Olaf Scholz, sondern auf die Kandidatur von Angela Merkel im Wahljahr 2009.

Sie war vier Jahre vorher mit mehr Glück als Verstand erstmals in das Amt des Bundeskanzlers gelangt. Den Wahlkampf gegen Gerhard Schröder hatte Merkel 2005 gnadenlos vor die Wand gefahren, trotz der fast einhelligen Unterstützung der Medien. Vier Jahre später waren zwar für Forscher unter dem Mikroskop noch Restbestände der alten CDU zu finden, aber ihre erneute Kandidatur war nie gefährdet. Ihr Profil war nach dem profilierten Wahlkampf vier Jahre vorher Profillosigkeit, die SPD scheiterte 2009 dagegen am Bruch zweier zentraler Wahlkampfversprechen von 2005: Die Mehrwertsteuer nicht anzuheben, es wurden in der damals noch großen Koalition statt zwei sogar drei Prozentpunkte, und vor allem an der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre.

Merkels Profillosigkeit setzte die SPD das Charisma ihres Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier entgegen. Schließlich stand der damalige Bundesaußenminister lange Zeit an der Spitze der politischen Beliebtheitsskala. Sein Charisma entsprach dem eines Beamten aus dem Einwohnermeldeamt von Osnabrück, wie sich im Wahlkampf nach seiner Nominierung zeigte. So kam es wie es kommen musste: Die SPD verlor mehr als 11 Prozentpunkte. Gewinner waren FDP und Linke, die Grünen durften auch profitieren. Kanzlerin Merkel hatte zwar das zweitschlechte Unionsergebnis von 2005 noch einmal unterboten, konnte aber mit der FDP eine Koalition bilden.

„Männer machen Geschichte“

Wie gelang es einer Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzenden nach zwei solchen Wahlergebnissen nicht nur acht Jahre, sondern sogar sechzehn Jahre im Amt zu bleiben? Der Satz über einen amtierenden Kanzler, den man nicht im Wahlkampf in die Wüste schickt, ist in „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit“ zu finden. Klaus-Rüdiger Mai nennt es eine „kritische Biografie“, woran es keinen Zweifel geben kann.

Klaus-Rüdiger Mai und Uwe Tellkamp im TE-Talk
Die Schadenskanzlerin - Das böse Erbe Merkels
Das Buch ist ein Parforceritt durch ihre Amtszeit, die vor allem von eins geprägt worden ist: Einer hohen Anpassungsfähigkeit an den Wandel der Zeiten. Ob Atomausstieg und Energiewende, die Migrationspolitik oder die Eurorettung, Angela Merkel gelang es immer rechtzeitig die klassische Kurve zu bekommen, um nicht politisch im Straßengraben zu landen

Es geht um das, was der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke (umstritten) einmal in dem Diktum zusammenfasste: „Männer machen Geschichte“. Merkel war tatsächlich seit 2000 der einzige Mann in den Unionsparteien, wenigstens was ihr machiavellistisches Geschick betraf. Welche Rolle spielten ihre Geschlechtszugehörigkeit und ihre ostdeutsche Herkunft? Welcher Taktiken aus dem Arsenal der Machtpolitik bediente sie sich, um diese nicht nur zu erringen, sondern auch zu behalten? Darum geht es in dem Buch von Klaus-Rüdiger Mai.

Zeitgleich erscheinen die Memoiren der früheren Kanzlerin, die unter dem Titel „Freiheit“ am 26. November in den Buchhandel gekommen sind. Sie sind Teil des Weihnachtsgeschäfts, wo gerne repräsentative Bücher an Menschen verschenkt werden, die schon alles haben. Meistens werden sie nicht gelesen, weshalb ein dekorativer Einband unverzichtbar ist. Aber selbst selten gelesene Memoiren gelten als gelungen, wenn sie die Erinnerung an den Menschen prägen, der sie geschrieben hat. In dem Fall sind es sogar zwei: Neben der Kanzlerin wird ihre engste Vertraute Beate Baumann als Autorin genannt, eine seltene Ehre für die Mitarbeiterin einer bedeutenden Politikerin. Baumann ist wie Scholz und Pistorius in Osnabrück geboren, das nur nebenbei. Diese Co-Autorenschaft weist auf eine symbiotische Beziehung der beiden Frauen hin, die seit 1992 zusammenarbeiten.

Mai beschreibt anschaulich die Ausgangsposition der in Bonn von Helmut Kohl nach der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 berufenen Bundesministerin für Frauen und Jugend. Sie hatte in der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung eine erstaunliche Karriere gemacht. Merkel ging zum Demokratischen Aufbruch als die Unumkehrbarkeit des Mauerfalls vom 9. November feststand, wurde Pressesprecherin, wechselte nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 in das Amt der stellvertretenden Pressesprecherin der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziere, um nach dem 3. Oktober 1990 als Ministerialrätin im Bundespresseamt ein auch für Westdeutsche gutes Auskommen zu finden.

Sie bekam in Mecklenburg-Vorpommern einen Wahlkreis als CDU-Kandidatin, wurde in den Bundestag gewählt und sofort Bundesministerin. Während Millionen Ostdeutsche die Wiedervereinigung als Absturz und Zusammenbruch ihrer Lebenswelt erfuhren, war Merkel schon mit Mitte dreißig und am Anfang ihrer Karriere dort, wo andere erst an deren Ende landen.

Auffallen, ohne aufzufallen

Wie hatte Merkel das geschafft, was die meisten nicht schaffen, ob als West- oder Ostdeutsche? Ministerin wurde „Kohls Mädchen“, wie sie damals gerne genannt wurde, aus drei Gründen: Sie war jung, eine Frau und aus Ostdeutschland. Diese Übererfüllung des Plansolls namens Quote war ein Angebot, das Kohl unwiderstehlich finden musste. Nur wie ist sie dahin gekommen?

Mai beschreibt das banale Erfolgsgeheimnis. Sie ist ihm aufgefallen, ohne sonst weiter aufzufallen. Im Gegensatz zu den anderen Ostdeutschen in der Politik hatte sie nichts von einer Ostdeutschen.

Das dunkelste Kapitel der DDR-Geschichte
Die heimlichen Morde der Stasi
Diese hatten mit Stasi-Verstrickungen zu kämpfen, Karrieren scheiterten an der Gier, wie Günther Krause, der den Einigungsvertrag für die DDR ausgehandelt hatte. Andere blieben mürrische Ostdeutsche, wie frühere DDR-Oppositionelle, die Merkel immer auf sicheren Abstand gehalten hatte. Dagegen verkörperte die Brandenburger Sozialdemokratin Regine Hildebrandt das Lebensgefühl ihrer Generation, die sich um ihr Leben betrogen sah. Sie wusste nur nicht immer genau, wen sie dafür verantwortlich machen sollten: Die SED oder die Einheit? Ansonsten hatten die Ostdeutschen ab 1991 in Westdeutschland keinen Wert, außer als Solidaritätszuschlag auf der monatlichen Gehaltsabrechnung.

Der 1963 geborene Mai sieht auf Merkel mit dem Blick des in der DDR sozialisierten Intellektuellen, der sich seine Freiheit im Gegensatz zur späteren Kanzlerin erkämpft hat, nicht zuletzt im Denken. Merkel war in der DDR keine Außenseiterin, ihr Vater wusste beide Welten im geteilten Deutschland zu nutzen. Einerseits war er ein evangelischer Theologe, der gute Beziehungen zur westdeutschen evangelischen Kirche hatte. Andererseits ein Protagonist der Kirche im Sozialismus, die der DDR positiv gegenüberstand. Seine Tochter war keine Außenseiterin, sie war mittendrin in der ostdeutschen Gesellschaft, aber lief „nur mit Westklamotten herum“, wie es Mai ausdrückt.

Mai erklärt diese erstaunliche Karriere gerade nicht mit einer spezifischen ostdeutschen Biografie, wie es viele Westdeutsche gerne tun, weil sei keine bessere Erklärung haben, so schreibt er einmal. Er beginnt nicht mit Kindheit und Jugend, sondern mit der Kanzlerin im Ausnahmezustand namens Pandemie. In seinem Buch gehe es nicht so sehr um die Frage, was Merkel zu ihrer außergewöhnlichen Karriere befähigte, sondern wieso Angela Merkel in Deutschland diese Karriere machen konnte.

Damit verstellt er sich aber den ansonsten messerscharfen Blick auf eine Machiavellistin, die auf leisen Sohlen kam, ähnlich wie einst der SED-Chefideologe Kurt Hager die Entspannungspolitik beschrieb: „Aggression auf Filzlatschen“. Mai beschreibt sie als eine Frau, die sich vor allem nützlich machte, etwa, als sie sich nach der Gründung des Demokratischen Aufbruchs um den Anschluss von PCs kümmerte. In der DDR war sie in den gesellschaftlichen Organisationen des SED-Staates aktiver als sie es hätte sein müssen.

Merkel machte Abitur, studierte Physik in Leipzig, promovierte länger als üblich an der Akademie der Wissenschaften, durfte sogar als junge Frau zur Hochzeit einer Cousine nach Hamburg reisen. Jeder wusste, wie schwer solche Reisegenehmigungen zu bekommen waren. Sie genoss Privilegien, aber ließ sich von der Macht nicht vereinnahmen, so könnte man das zusammenfassen. Für die Gerüchte um ihre Stasi-Akten interessiert sich Mai kaum, für ihn stellt ihre Lebensgeschichte „Fragen, die sich nicht beantworten lassen.“ Merkels Erzählungen stimmten „an wichtigen Punkten nur sehr schwer mit der DDR-Realität überein.“

Klimaanpassung wie bei Merkel

Es kann sich niemand vorstellen, Merkel hätte leidenschaftlich über einen anderen, demokratischen Sozialismus diskutiert. Die DDR war nun einmal da, so der Eindruck. Sie hielt sich in Debatten zurück, so schildert es Mai, aber sie hatte eine Fähigkeit vom Ende her zu denken. Allerdings als persönliche Risikominimierung, falls sich der Wind doch noch drehen sollte.

Wie ein Echo aus der Geschichte
Als wären sie immer noch da
Abwarten ist eine Tugend, wenn man nicht den richtigen Zeitpunkt verpassen will. Dieses Zeitgefühl sollte Merkel auszeichnen. Sie ging mit ein paar versprengten früheren Oppositionellen im Demokratischen Aufbruch zur CDU, die 1990 zwar das Lebensgefühl vieler Ostdeutscher traf, aber für Intellektuelle den Geruch des DDR-Spießers verströmte. Die früheren Mitläufer des Regimes wechselten die Seiten, die Deutsche Mark versprach Wohlstand und alles, was man bisher vermisst hatte. Kritische Geister wollten damit nichts zu tun haben. Die West-CDU paktierte mit der alten Blockpartei, angereichert mit schrägen Figuren, die sich als ostdeutsche CSU vorstellten. Unvergesslich ist jener Abend der Volkskammerwahl, als der gerade erst von den Grünen zur SPD gewechselte Otto Schily die Niederlage seiner Partei mit einer Banane in der Hand erklärte.

Merkel plante da schon den Weg in das westdeutsche Bundesdorf namens Bonn. Während dort die meisten Ostdeutschen wie Fremdkörper wirkten, bewies sie ihre in der DDR erlernte Fähigkeit sich an jedes Klima schnell anzupassen. Sie machte wenig falsch, aber verlor schnell das Odium ihrer Herkunft. In den kommenden Jahren baute die Außenseiterin im Seilschaften-Gestrüpp der CDU ihr eigenes Netzwerk auf. Dabei nutzte sie ihr Geschlecht in einer von Männern dominierten Partei.

Der Feminismus begann sein linkes Ghetto zu verlassen, nicht zuletzt bahnten ihm Frauen wie Rita Süßmuth den Weg. Dort setzte Merkel zusammen mit ihrer begabten Pressesprecherin Eva Christiansen an. Frauen begannen in den Medien Fuß zu fassen, sie waren nicht mehr seltene Ausnahmen. Mai schildert die Attraktivität Merkels für junge Journalistinnen, die für ihren Aufstieg unverzichtbar wurden. Sie bekam in der alten Kohl-CDU als Umweltministerin zwischen 1994 und 1998 das Image der Fortschrittlichkeit. Zur gleichen Zeit meinten noch die jungen Greise vom legendären Andenpakt, die CDU nach alter Väter Sitte unter sich aufteilen zu können.

Mit Marx Merkel verstehen

Bei Mai erfährt der Leser etwas über die Qualitäten der Kanzlerin: Organisationstalent und Instinkt für verändernde Machtkonstellationen. So wurde die immer unterschätzte Merkel nach der Wahlniederlage von 1998 CDU-Generalsekretärin, um anschließend den Parteivorsitzenden Wolfgang Schäuble und den Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl ins Abseits zu schieben. Sie wurde über Nacht die alternativlose CDU-Vorsitzende. An ihren rhetorischen Fähigkeiten lag es nicht. Mai seziert ihren legendär gewordenen Artikel in der FAZ vom 20.12.1999, wo sie den überlebensgroßen Kohl auf Lebensgröße stutzte. Sie besäße „wie alle großen Populisten die Gabe, Schlichtheit als Wahrheit zu verkaufen.“

Einem Mann hätte man ihre von Allgemeinplätzen triefende Rhetorik nicht durchgehen lassen, Kohls Redekünste waren eine Fundgrube für Satiriker. Aber Merkel begründete damit ihren über den Parteien thronenden Regierungsstil, den Mai treffend unter Hinweis auf die Bonapartismus-Analyse von Karl Marx beschreibt:

„So wie sich Louis Bonaparte vom Präsidenten erhob und zum Kaiser krönen ließ, so unternahm Angela Merkel alles, sich mindestens in ihrer zweiten Legislaturperiode von der Kanzlerin einer Partei zur Präsidentin aller Deutschen zu erheben, allerdings mit der vollen Macht der Exekutivmittel der Bundeskanzlerin.“

Die Grundlage war intellektuelles Desinteresse an politischen Inhalten. Versteht man Mai richtig, übernahm sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit die programmatischen Überzeugungen der CDU, wie sie auch die der DDR akzeptiert hatte. Sie waren nun einmal da, und Merkel ging es darum, ihre nach 2005 eroberte Kanzlerschaft zu sichern.

Allerdings traf sie auf eine CDU, die dem Machterhalt ideologische Grundsatzdebatten schon immer unterordnete. Da war kein Widerstand zu erwarten, solange sie die Regierungsfähigkeit der Union garantierte. Hier unterschätzt Mai den strategischen Weitblick der Kanzlerin, denn sie hatte es mit mehr zu tun als der Unterwerfung unter den von vielen Konservativen bis heute bemäkelten Zeitgeist.

Schröders Wahlsieg von 1998 hatte den alten CDU-Staat Adenauers und Kohls zu Grabe getragen. Westdeutschland hatte sich gravierend verändert, gesellschaftspolitische und kulturelle Liberalität waren mit den Babyboomern zum Mainstream geworden. Kluge CDU-Strategen hatten das früh erkannt, die Großstädte waren für die Union längst verloren gegangen. Sie hatten nur bis Merkel kein Mittel gefunden, um daran etwas zu ändern. Erst mit ihr gelang es der CDU den Sozialdemokraten ihre Mehrheit bei den Babyboomern streitig zu machen. Wenn eine feministische Ikone wie Alice Schwarzer in das Merkel-Lager wechselt, muss viel passiert sein. Mit den jungen Greisen des Andenpaktes von Christian Wulf bis Roland Koch wäre das nicht gelungen.

Zukunfts- und Freiheitsenergie
Die dümmste Energiepolitik der Welt und der klügste Weg aus der Falle
Ihr Meisterstück war im Jahr 2011 die Wende von der Verlängerung der AKW-Laufzeiten zu einer radikalisierten Energiewende, wie sie die Sozialdemokraten nie gemacht hätten. Hätte sich jemand vorstellen können, wie Merkel in dem zwei Jahre später stattfindenden Bundestagswahlkampf mit Leidenschaft und Überzeugung für ihre ursprüngliche Position kämpft? Dort lieber gegen die Sozialdemokraten untergeht, anstatt ihre Überzeugung aufzugeben? Auf die Idee wäre sie nie gekommen, also machte sie eine opportunistische Kehrtwende. Ihre Fans in den Medien applaudierten, so wie sie das bei Männern verurteilt hätten. Die CDU nickte das ab, weil sie immer schon dem folgte, der die Macht garantierte.

Das wurde belohnt: Die gefürchtete AKW-Debatte als Wahlkampfthema fand nicht statt, die CDU erzielte mit 41,5 Prozentpunkten einen in der Höhe sensationellen Wahlsieg. Zwei Jahre später begann der Absturz. Die Schließung der Grenzen hätte sie gegen die Kritik der liberalen Medien durchkämpfen müssen, die längst ihre größten Unterstützer geworden waren. Dazu kam ihre Selbstzufriedenheit, die sie blind machte für den heraufziehenden Sturm namens Flüchtlingskrise. Schließlich hatte sie seit 2014 mit Beginn der Ukrainekrise eine Schlüsselrolle in der Weltpolitik bekommen.

Old-Girls-Netzwerke mit männlichen Einsprengseln

Merkels Kanzlerschaft stand ökonomisch unter einem guten Stern. Das Land hatte die Krisen der 1990er Jahre bis 2005 verarbeitet, die Exportwirtschaft brummte, Deutschland war ein Kraftpaket, das mehr Geld hatte als es ausgeben konnte. Die Wähler konnten sich Merkel leisten, die mit dem Image der Bescheidenheit und Überparteilichkeit auftrat. Ihre Old-Girls-Netzwerke mit männlichen Einsprengseln trafen die Sichtweisen vieler Wählerinnen. Die Frauen waren die wichtigste Wählergruppe Adenauers – und Merkels. So ändern sich die Zeiten – und deren Bewusstsein.

Politisch erzählt Mai Merkels Regierungszeit als eine Verfallsgeschichte, was aber zu sehr vom aktuellen Zeitgeist geprägt ist. Mit dem Pragmatismus, den Merkel 2008 in der Finanzkrise bewies, und dem machtpolitischen Opportunismus von 2011 hätte sie wahrscheinlich 2021 die Energiewende abgewickelt und sechs Atomkraftwerke weiterlaufen lassen. Alle hätten ihr zu Füßen gelegen, sogar die Grünen, wenn es denn endlich zur ersehnten schwarz-grünen Liaison gekommen wäre. Das ist ein Gedanke über Merkel, den man haben kann, wenn man sie kennt. Dazu ist es nicht gekommen, so dass sie jetzt dazu verurteilt ist, ihre ohne Überzeugung getroffenen Entscheidungen rechtfertigen zu müssen. Das kann man Schicksal nennen.

Merkels Buch wird sich unter vielen Weihnachtsbäumen finden, bei vielen schon heute als Erinnerung an die guten alten Zeiten. Wer es genauer wissen will, sollte Klaus-Rüdiger Mais „Angela Merkel“ dazulegen. Ein kleiner Hinweis für die zweite Auflage sei erlaubt: Gerhard Schröder wollte 2005 nicht über das konstruktive Misstrauensvotum zu Neuwahlen kommen, sondern über die Vertrauensfrage. Das will Olaf Scholz heute auch. Friedrich Merz verzichtet dagegen auf ein konstruktives Misstrauensvotum, um als Bundeskanzler in den Wahlkampf zu ziehen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Klaus-Rüdiger Mai, Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit. Eine kritische Biografie. Europa-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 26,00 €.


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Kommentare ( 21 )

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21 Comments
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Peter Pascht
5 Stunden her

Opportunistin und Machiavellistin und Lügnerin,
so wie alle ihrer Art im SED Kommunismus waren.
Das war ihr Handwerk. Wer es nicht konnte war weg vom Fenster.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Apfelbaum“
„Was die Katze gebärt frisst Mäuse“

Last edited 5 Stunden her by Peter Pascht
Simplex
6 Tage her

Was einfach zu kurz kommt: Merkel hatte es nicht so mit Aussenpolitik, fühlte sich von Freunden umzingelt, verstand Obamas Warnung nicht, reduzierte die BW zum Tambourclub, Dass sie von der Leyens gescheiterte BW-Reform nicht selbst aufgriff, oder dass sie vdL als Kanzlerin unterstützte, wirft ein ganz bezeichnendes Bild auf Merkel. Das BMVg konnte sich gegen die Ministerin behaupten, das Ergebnis fliegt uns heute um die Ohren. Die „Front-Offiziere“, die „Afghanistan-Connection“ im BMVg konnte sich gegen Betonklotz des Bürokratismus nicht durchsetzen. Daran ist auch eine sehr kompetente Staatssekretärin aus Hamburg gescheitert…In Konzernen kann man die Leute wenigstens rausschmeissen. Wie gesagt, Merkel… Mehr

Last edited 6 Tage her by Simplex
Der Person
6 Tage her

Machiavelli hat „seinen“ Herrschern immer geraten, dass der Schutz des Eigentums und der Gesundheit der Bürger das höchste Ziel sein muss. Merkel hat das exakte Gegenteil bewirkt. Man sollte sie besser als Meisterschülerin von Steven Lukes darstellen. Der hat Macht in drei Formen aufgeteilt: 1. Als Entscheidung,i.e. seinen eigenen Willen total durchsetzen zu können. Was sie mit der Abschaffung der Grenzen ja zweifellos getan hat. 2. Als „Nicht Entscheidung„, d.h. die Fähigkeit, die wählbaren Alternativen bestimmen zu können. Das hat sie mit ihrem „alternativlos“, ihrer Ausschaltung aller internen Konkurrenten und dem Manipulieren der jeweiligen Koalitionspartner bewiesen. Und 3. Als Bewusstseinskontrolle,… Mehr

LiKoDe
6 Tage her

Das gesellschaftliche Sein bestimmt (prägt/formt) das persönliche Bewusstsein. Fr. M. entstammt der (leistungslos wohlversorgten) kleinbürgerlichen (protestantischen) Mittelschicht (Vater evangelischer Pfarrer, Mutter Lehrerin). Sie wuchs also in der DDR bewusstseinsmässig auch als Bürgerin Westdeutschlands auf, woraus sich ihr Abstand zum System und Intellektuellen der DDR erklärt. In den frühen 1990ern galt ein akademischer Abschluss in der alten BRD noch etwas, so dass die promovierte Physikerin aus Nord-Mitteldeutschland (Brandenburg/Mecklenburg-Vorpommern) 1990 hier gute Bedingungen vorfand. Sie wurde ab 1990 von verschiedenen Personen und Kreisen der alten BRD ordentlich gefördert, so dass sie von der mittleren Mittelschicht in die untere Oberschicht [Bundesministerin/Bundeskanzlerin) aufstieg. Anders… Mehr

Klaus Kabel
6 Tage her

Es ist nervenschonender, sich dies Person, egal ob vergöttert oder verteufelt, unkritisch oder kritisch beleuchtet, von Halse zu halten. Ich persönlich werde mich nur noch interessieren, sollte sie einmal vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Ansonsten ist sie persona non grata.

Kassandra
6 Tage her
Antworten an  Klaus Kabel

Sie wird uns noch zu beschäftigen wissen – denn sie ist gefährlich – wie der Herr Habeck eben auch – und jetzt belästigen sie uns offen im Doppelpack.
Dass sie Deutschland wie den Deutschen nicht wohlgesonnen sind ist auch lange erkennbar.

Peter Pascht
6 Tage her

Er ist noch fruchtbar die Leib aus dem die stalinistischen Ungeheuer gekrochen sind.

Zaha
6 Tage her

„Ketzerei entspringt aus Müßiggang“
– Space Marines

Schwabenwilli
6 Tage her

Wieviele Bücher und Artikel sollen noch über diese Frau geschrieben werden? Letztendlich konnten auch die ganzen Analysen über den „Führer“ keine Klarheit über die Person bringen. Ich glaube jede Zeit spült halt gewisse Charaktere nach oben. Es ist also anders herum. Merkel hat halt Glück und wir Unglück gehabt. So einfach.

Kassandra
6 Tage her
Antworten an  Schwabenwilli

Wiewohl inzwischen die Vermutungen darüber hinaus gehen, dass es nichts Gutes sein kann, was auch solche über uns bringen – und einer wie der Pole Andrzej Łobaczewski schon einstmals über „Politische Ponerologie, eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke“ geschrieben hat. Das Buch ist, wie mehrere Interviews dazu, im www in Gänze zu finden: https://kritisches-netzwerk.de/sites/default/files/andrzej_lobaczewsk_-_politische_ponerologie_-_eine_wissenschaft_ueber_das_wesen_des_boesen_und_ihre_anwendung_fuer_politische_zwecke_2.pdf Und wir kennen weder genaues Ziel noch die Schritte der über unsere Köpfe hinweg beschlossenen „Transformation“ ins Nirwana, die sie damit umzusetzen bereit sind – sind aber allesamt von Tag zu Tag deutlicher davon betroffen. Die Bösartigkeit der Vorgehensweise… Mehr

Micci
6 Tage her

Wenn ich schon ein Buch mit Merkel auf dem Titel drauf lesen will, dann nehme ich lieber das ganz ähnlich gestaltete von Bernd Zeller!

Vor allem, weil es den viel angemesseneren Titel hat:
es heißt „Frechheit“!

Felix Dingo
7 Tage her

Was würde Madame ohne ihre 24/7 Bodyguards und ihre gepanzerte Limousine in einem Deutschland, das auf der Kippe steht, tun?

Laurenz
6 Tage her
Antworten an  Felix Dingo

Das, was sie wirklich verdient hat.