Hässliche Irrlehren im lieblichen Kleid des Jugenstils

Jugendstil-Fassade

Eine Fülle von Büchern überschwemmte die Lebensreform-Landschaft geradezu. Prabel zählt nur ein paar des vergessenen Popularisierers Norbert Grabowsky als „Kompilator und Kompendienschreiber“ auf: „Durch Entsagung und Vergeistigung zum jenseitigen Leben, ein Führer für nach Vervollkommnung Strebende“ (1903), „Die verkehrte Geschlechtsempfindung“ (1904), „Die höchsten Ziele des Menschen“ (1905), „Der Naturgenuß und sein Wesen“ (1905), „Das Recht der geistigen Bahnbrecher“ (1906), „Der Innenmensch: ein Schauspiel philosophischen Erkenntnisgehalts in zwei Aufzügen“ (1909), „Privatbibliotheken volksthümlicher Werke philosophischer Erkenntnis und die außerordentliche Bedeutung solcher Bibliotheken für den Geistesfortschritt der Menschen“ (1911), „Die Anschauungen übersinnlicher Wirklichkeit (1911), „Wahre Bildung: ein Handbuch innerer Höherentwicklung“ (1911), „Die Geheimnisse des Übersinnlichen“ (1922).“




Wilhelm Schwaners Zeitschrift „Volkserzieher“ weichte „die Grenzen zwischen völkischen und sonstigen jugendbündlerischen Auffassungen, die ohnehin nie fest gewesen waren, ständig neu auf“. Von 1909 bis 1939 erschienen 354 Einzelhefte der „Tat“, die mit der Zeit zum Organ des aggressiven Elitarismus und der panslawistischen Propaganda wurde – am Ende der NS-Ideologie. Zusammen mit anderen Monatsschriften wirkten die beiden nach Prabels Analyse „wie ein reformatorisches Tischleindeckdich beim Ausbrüten immer neuer Konzeptionen.“

Zur „Siedlungsbewegung“ trug die SPD sozialistische Positionen zu Landwirtschaft und Bodenreform bei, Reinhold Hülsen schrieb „Heim-Land: Zum Eigenheim mit Garten, zu schuldfreiem Erbgut mit zinsfreiem Gelde“, Franz Oppenheimer „Die Siedlungsgenossenschaft: Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage“ und Rudolf Richter ökologisch „Der neue Obstbau, einfaches, streng naturgemäßes Verfahren“. Heinrich Driesmann intonierte den Zusammenhang zwischen „Menschenreform und Bodenreform“, Grabowsky verband die Siedlungsfrage mit Geschlechtsempfindungen, seelischen Innenleben, dem Naturgenuß und der Kunst glücklich zu werden.

Atheismus, Idealismus, Nacktkultur, Rassismus, Vegetarismus und andere Reformimpulse verbanden sich schnell zu einem reformistisch-elitaristischen Brei: Mit dem traditionell kirchengebundenen Christentum nämlich wurde auch dessen transzendente Gottesvorstellung verabschiedet, damit aber auch jeder Glaube an eine Erlösung jenseits der individuellen und volklichen Existenz. Otger Gräff, der während des Krieges bereits zur Gründung völkisch-religiöser Gemeinden und Siedlungsprojekte aufgerufen hatte, formulierte: „So ist deutscher Glaube ein lebendiger Diesseitsglaube, ‚deutscher Idealismus‘, der die schöne reiche Erde, insonderheit die liebe Heimat nicht als ein Jammertal ansieht und auf ein angeblich besseres Jenseits hofft, über das wir nichts wissen können, der vielmehr vor allem hier auf Erden das Gottesreich aufrichten will, das Höhere Reich der Deutschen.“

Prabel: „Diesseitig-religiös orientiert war vor allem aber das Selbstverständnis und die Praxis der meisten bürgerlichen Reformbewegungen (Nacktkultur, Kleiderreform, Antialkoholbewegung, Vegetarismus, Naturheilverfahren, Landkommunen etc.), an deren Erlösungsversprechen man durch die Befolgung der richtigen Kleider- oder Essensordnung partizipieren konnte. Die Vergottung des gesunden Leibes, greifbar im quasi-religiösen Schrifttum der Nackt- und Körperkultur und wiederum angeregt durch Nietzsches Denken, ist ein weiteres Indiz für die Enttranszendierung zeitgenössischer Erlösungshoffnungen. Damals ebenso zeitgemäß wie heute waren völkische Spielarten der Gymnastik- und Tanzbewegung wie etwa Friedrich Bernhard Marbys (1882-1966) ‚Runengymnastik‘ oder ‚Runen-Yoga‘, durch deren Übungen man im Kontakt mit dem Kosmischen auf den ‚Germanischen Einweihungsweg‘ geriet, der geradewegs zur vermeintlichen Selbsterlösung führte.“

Ein ideologischer Rangierbahnhof

Am Ende der Friedensperiode bis 1914, so Prabel, „hatte sich die Lebensreform in ernährungs- und gesundheitsbezogene, siedlungs- und wohnreformerische, körperbezogene, sexualreformerische, jugendbündische, frauenrechtliche, sozialreformatorische, erzieherische, rassistische und antisemitische, völkische, okkulte, religionskritische, philosophische und formgestalterisch-ästhetische Kolumnen zerteilt, aber der größte Teil dieser Themenangebote war wieder durch Unterthemen zerfasert und atomisiert, bzw. durch teils skurrile Lehrangebote miteinander verwoben worden. Worüber man sich bei allem Streit, bei aller Abgrenzung und bei aller Konvergenz der Theorien einig war: „Alles muss anders werden“ und: Man suchte den Neuen Menschen. Fidus hat um 1900 zahlreiche neuheidnische Ritualdarstellungen angefertigt; selten fehlt ein Hakenkreuz oder die Todesrune am Bildrand.“

Prabels Zwischenbilanz: „Die Genese der Lebensreform gleicht nicht einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen; dieses Bild gilt für Teilaspekte und deckt die ideengeschichtliche Entwicklung nicht ab, da neben dem nietzscheanischen Hauptbaum noch andere Bäume wuchsen, wie der des Okkultismus und der des Darwinismus. Ein verwilderter Garten mit mehreren Bäumen, die ungenießbare Früchte trugen, kommt der Realität jener bunten Vielfalt schon näher, auch wenn man annimmt, dass Sprosse von verschiedenen Bäumen auf andere aufgepfropft wurden. Am Schluss der Reformgeschichte ist ein Flussgleichnis angemessener, wo viele Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den braunen Strom oder den roten Fluss mündeten. Ab 1900 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des Nietzscheanismus in den Strom des Leninismus, der Leninismus verband sich ein Jahrzehnt später mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der völkisch-ökologische, der vitalistisch-biologistische, der zünftig-korporative und der rassistisch-teutonische Waggon wurden in einem ideologischen Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt, dessen Lokomotive mit Juden gefeuert wurde und dessen Räder auf den Schienen des Jugend- und Schönheitskults sowie des Biologismus rollten. Es bedurfte eklektizistischer Konstrukte, um zu heterodoxen Systemen zu kommen. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens und des Gefühls wurden diese Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht.“

Ich schlage vor, Sie versuchen diese ungewohnte Kost zu verdauen, bevor ich im dritten und letzten Teil herauszufinden suche, wovor uns die Kulturgeschichte von 1890 bis 1945 heute aktuell warnen sollte. Vor einem ganz sicher. Geschlossenen, allein seligmachenden Weltsichten und Rezepten sollten wir die Annahme verweigern.

Ein weiter Beitrag folgt. Teil 1 lesen Sie hier.

Wolfgang Prabel: Der Bausatz des Dritten Reiches: Die deutsche Kulturrevolution 1890 bis 1933 [Kindle Edition], 686 Seiten. edition:freiheit, Deutscher Arbeitgeberverband.

Autor Dr. Wolfgang Prabel ist Bürgermeister von Mechelroda in Thüringen und betreibt ein Geschäft für Antiquitäten und Geschenke. Prabel ist Ingenieur und gehörte 1989 zu den aktiven Mitbegründern des Demokratischen Aufbruchs. Mit Freunden zusammen organisierte er erfolgreich den Generalstreik zur Auflösung der Stasi. Prabel publiziert auf einem eigenen Blog und bei anderen. Sein Interesse gilt den Widersprüchen zwischen Dichtung und Wahrheit.




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