Eine Bestandsaufnahme zum Stand der Konformität

Wir sind Zeugen eines kulturellen Umbruchs, der sich bereits entlarvend im Sprachgebrauch zeigt. Zum Vokabular der Gesinnungsakrobaten gehören Ausdrücke wie „Respekt“, „wertschätzend“, „verurteilend“, „abwertend“, „achtsam“. Wenn etwas abgelehnt wird, ist es „superschwierig“.

Zur Kernkompetenz der Deutschen gehört traditionell das Duckmäusertum. Die klassische Satire auf diesen nationalen Wesenszug verdanken wir Heinrich Mann, der 1914 in seinem Roman „Der Untertan“ die unvergessliche Figur des Diederich Heßling schuf, ein Prototyp des wendigen Opportunisten, wie er in tausend Gestalten immer wieder auftaucht. Ob im Kaiserreich, in den Hitlerjahren, in der DDR oder im westlichen Nachkriegsdeutschland: Allenthalben machte sich der Mitläufer, der Obrigkeitshörige, der Trendsurfer, der sein Fähnlein nach dem Winde hängte, zur Erhaltung des jeweiligen Systems verdient.

Auch in der Gegenwart sind wir Zeugen eines kulturellen Umbruchs, der uns vor Augen führt, wer geeignet gewesen wäre, auch unter Hitler oder Honecker hervorragend zurechtzukommen. Schon ihre Sprache entlarvt sie: Mit einem Singsang ewiger Beschwichtigung stolpern sie entlang ihres Phrasengeländers. Zum Vokabular der Gesinnungsakrobaten gehören Ausdrücke wie „Respekt“, „wertschätzend“, „verurteilend“, „abwertend“, „achtsam“. Wenn etwas abgelehnt wird, ist es „superschwierig“.

Weckruf gegen den Mainstream
Anleitung zum Selberdenken - Wider den Gehorsam als erste Bürgerplicht
Es ist die Tarnsprache von Aggressionsgehemmten, die gleichwohl im nächsten Moment eine Bösartigkeit befürchten lassen. Diese Art der vitalen Verklemmtheit war früher im Milieu humorloser Konservativer anzutreffen, gegen die insbesondere die Phalanx der Achtundsechziger einen Aufstand anzettelte. Heute sind die Achtundsechziger im Greisenalter und ihre Kinder und Enkel gebärden sich progressiv und prüde zugleich.

Gerade junge Menschen wirken überangepasst und ängstlich, von juveniler Wildheit ist wenig zu spüren. Mit ihren vermeintlich fortschrittlichen Eltern eint sie eine Haltung, die „woke“ genannt wird. Ein feministisch-postkoloniales Geschäftsmodell, das aus dem angelsächsischen Raum kommt und mit dem Furor unerbittlicher Rechthaberei die westlich-liberalen Gesellschaften überrennt und ihre Traditionen, Sitten und Gebräuche attackiert.

Insbesondere in Deutschland wird bei den woken Akteuren eine Geisteshaltung sichtbar, die uns auch aus früheren, viel weniger freiheitlichen Epochen überliefert wurde: die Mentalität des stromlinienförmigen Mitmachers, des Jasagers, der sich moralisch auf der richtigen Seite wähnt. Dieser Typus ist immerhin so verbreitet, dass der Politik-Journalist Ralf Schuler sein jüngstes Buch „Generation Gleichschritt – Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde“ genannt hat.

Ausscheren unerwünscht
Die öffentliche Debatte marschiert immer häufiger im mentalen Gleichschritt
Schuler ist Jahrgang 1965 und gleich zweifach Betroffener. Geboren wurde er 1965 in Ostberlin unter SED-Herrschaft. Und noch immer spürt der Leser die Schockwellen einer Diktatur in den Buchseiten nachzittern. „Gleichschritt durch Ansage und Repression“, erinnert sich der Autor. „Ein geschlossenes Regime, ein Land der gesenkten Stimme („lieber nicht am Telefon“) und der von klein auf angelernten Vorsicht: Linientreue als Staatsräson, Ächtung und Bann für ,Abweichler‘.“

Und er hat im vergangenen Jahr seinen Job als Chef der Parlamentsredaktion bei der „Bild“-Zeitung hingeschmissen, weil der Springer-Verlag sich immer kritikloser den Forderungen der LGBT-Community unterwirft. „Ich bin nicht bereit, in einem Haus zu arbeiten, in dem man offenbar dem Führungspersonal den Unterschied zwischen Aktivismus und Journalismus erst noch beibringen muss“, schrieb Schuler in einem Brief an Verlagschef Mathias Döpfner und „Bild“-Chefredakteur Johannes Boie.

Nun hat Schuler eine materialreiche Bestandsaufnahme zum Stand der Konformität im Lande vorgelegt. Feministisch, antirassistisch, antisexistisch, antitransphob, antiislamophob und was sonst noch an Neologismen niederregnet, werden die Menschen auf Spur gebracht. Wer abweicht, wird gnadenlos gemobbt, verstärkt in den Resonanzräumen etablierter und sozialer Medien. Schulers Schwarzbuch hätte auch als Loseblattsammlung funktioniert, denn Tag für Tag tauchen neue Vorfälle auf.

Wir erleben in der Tat eine Zeitenwende
Dieter Nuhr: »Ich sehe unsere Demokratie als massiv gefährdet an«
Einer der unermüdlichsten Eiferer geistigen Einpeitschens ist der ZDF-Verlegenheitssatiriker Jan Böhmermann, der Ende März in einer Sondersendung („Nuhr im Zweiten“) versuchte, mit halbbegabten Kleinkünstlern das ARD-Kabarettformat seines Kollegen Dieter Nuhr („Nuhr im Ersten“) zu parodieren. Der Talentneid der Parodisten auf die Originale war so offensichtlich wie peinlich. Ein TV-Kritiker vom Berliner „Tagesspiegel“ war von diesem Gesinnungshochamt trotzdem dermaßen begeistert, dass er nicht nur als neues Schmähwort „rechte Comedy“ einführte, sondern Dieter Nuhr kurzerhand in die Nähe von Adolf Eichmann rückte, indem er seinen Artikel betitelte: „Die Banalität der Bösen – Comedians aus der rechten Ecke bekommen bei Böhmermann ihr Fett weg“. Hannah Arendt untertitelte ihren berühmten Prozessreport „Eichmann in Jerusalem“ 1963 mit „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“.

Es spricht für das Witterungsvermögen Schulers, dass er Dieter Nuhr bereits Monate zuvor um die Einleitung zu seinem Buch gebeten hat. Darin bekennt der Satiriker: „Ich gelte unter den klassisch linken Kabarettisten als schwarzes Schaf.“ Dabei ist Nuhr so wenig rechts wie der Dalai Lama katholisch ist. Er war Gründungsmitglied der Grünen, ist aber heute parteilos. „Wer mich in die Nähe der AfD bringt, will nicht argumentieren, sondern mich beleidigend etikettieren, mit dem Ziel, mich zum Schweigen zu bringen, weil ich Unbequemes formuliere“, sagte Nuhr dem „Stern“.

Noch gespenstischer wird diese Art des Eiferertums durch ihre Nähe zur Regierung. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) in einem Interview definiert schon mal: „Eine Frau ist eine Person, die sich selbst als Frau identifiziert.“ Hier schwadroniert ein Mitglied des Bundeskabinetts jenseits von Vernunft und biologischer Wirklichkeit. Mit derselben selbstgenügsamen Raserei haben die Nazis ihre Rassenlehre propagiert und die Welteislehre des Ingenieurs Hanns Hörbiger verbreitet.

Der alte, weiße Mann
Neues Buch von Norbert Bolz: Liberale und Konservative im Abwehrkampf
Entsprechend ordnet der Philosoph und Medienforscher Norbert Bolz in seinem jüngsten Buch „Der alte weiße Mann“ (LMV) „Antiliberalismus und Antibürgerlichkeit“ sowohl dem Nationalsozialismus als auch der Studentenbewegung von 1968 zu. Gemeinsam haben beide Bewegungen laut Bolz eine moderne Form des Konformismus des Denkens, die „eine Konsequenz der Entmythologisierung, der Entzauberung der Welt – also eine Nebenwirkung der Aufklärung“ ist. Wir plappern nach, was andere sagen, „weil wir uns nicht mehr vom Gesetz, der Sitte und der Tradition getragen fühlen“.

Und natürlich hat dieser woke Filterkosmos einen ersatzreligiösen, sektierischen Charakter, weil die von Herkunft und Überlieferung abgenabelten metaphysischen Obdachlosen ohne religiösen Grundbass eben doch nicht auskommen. Deshalb müssen sie mit Verbissenheit wettmachen, was ihrem selbst gezimmerten Konstrukt an Tiefendimension einer über Jahrhunderte gewachsenen Konvention fehlt.
Der junge Hegel sah als Ursache von politischem Fanatismus die „widernatürliche Ausdehnung des Umfangs der Liebe“. Moral ist eben vor allem ein Nahsinn, mit globaler Anteilnahme ist der Mensch schnell überfordert. Und wer die Maßstäbe des Nächsten und des Fernsten durcheinanderbringt, der kann auch schon mal rechts und links verwechseln.

Dieser Beitrag von Holger Fuß erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Ralf Schuler, Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde. Fontis, Hardcover, 208 Seiten, EUR 22,90


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