EU muss Gasrationierung verschärfen – Osteuropa-Experte sieht Putins Macht schwinden

Präsident Selenskyj warnt vor einem „harten Winter“ für die EU: Diese muss ihre Gassparpläne nun nochmal verschärfen. Währenddessen ist sich ein renommierter US-Experte sicher: Putins Macht schwindet. Dafür diagnostiziert er deutliche Anzeichen.

IMAGO / SNA
Russlands Präsident Wladimir Putin am 25. Juli 2022 in Moskau

Russlands Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter. Die strategisch wichtige Antoniwskij-Brücke in der von Russland besetzten Region Cherson wurde Berichten zufolge von ukrainischen Streitkräften angegriffen, die damit die Hauptnachschubroute Russlands in die südukrainische Stadt unterbrechen wollten. Mehrere, bisher unbestätigte Berichte deuten darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte am späten Dienstagabend neue Angriffe durchgeführt haben.

„Explosionen im Bereich der Antoniwskiy-Brücke“, teilten die ukrainischen Streitkräfte kurz vor Mitternacht in einem Telegram-Update mit und fügten ein Video bei, das angeblich die Angriffe zeigt. Vor wenigen Tagen hatte Präsident Selenskyj angekündigt, die Ukraine wolle die Region und die Stadt in einer Offensive zurückerobern.

Die russischen Streitkräfte setzten derweil ihre Angriffe auf die Infrastruktur in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, und in der umliegenden Region im Nordosten des Landes fort. Der Gouverneur der Region, Oleh Syniehubov, sagte, dass die Angriffe auf die Stadt am Dienstag im Morgengrauen wieder aufgenommen wurden. „Die Russen zielen absichtlich auf zivile Infrastrukturobjekte wie Krankenhäuser, Schulen und Kinos. Alles wird beschossen, sogar Warteschlangen für humanitäre Hilfe“, sagte Syniehubov im ukrainischen Fernsehen. In den letzten Tagen kam es immer wieder zum Beschuss ziviler Ziele, auch im Süden des Landes.

Das Erschreckende am Gas-Notplan der EU
Die EU sieht sich gezwungen, ihren Plan zur Rationierung von Gas in diesem Winter abzuschwächen, um eine durch weitere russische Lieferkürzungen verursachte Energiekrise zu vermeiden. 26 europäische Energieminister sprachen sich für eine freiwillige Reduzierung des Gasverbrauchs um 15 Prozent im Winter aus. Ungarn ist nicht Teil dieser Einigung. Die Minister einigten sich auf Ausnahmeregelungen für Inselstaaten und mögliche Ausnahmen für Länder, die kaum an das europäische Gasnetz angeschlossen sind. Der ukrainische Präsident Selenskyj wirft Russland vor, die Erdgaslieferungen absichtlich zu kürzen, um Europa einen „Preisterror“ aufzuzwingen. „Moskau tut mit Hilfe von Gazprom alles, um den kommenden Winter für die europäischen Länder so hart wie möglich zu machen. Der Terror muss beantwortet werden – mit Sanktionen“, sagte er in einer Videoansprache am späten Abend.

Die bisherigen Sanktionen wirken – aber die russische Wirtschaft scheint sich trotzdem besser zu entwickeln als erwartet. Am Dienstag hob der Internationale Währungsfonds die Schätzung des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für dieses Jahr um 2,5 Prozent an. Dennoch dürfte die Wirtschaft immer noch um 6 Prozent schrumpfen. „Das ist immer noch eine ziemlich große Rezession in Russland im Jahr 2022“, sagte IWF-Chefökonom Pierre-Olivier Gourinchas gegenüber der AFP und fügte hinzu, dass die steigenden Energiepreise „der russischen Wirtschaft eine enorme Menge an Einnahmen bescheren“.

US-Historiker sieht Putins Macht geschwächt – und diagnostiziert einen Machtkampf

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder ist einer der führenden Russland- und Ukraine-Experten. Der Fachmann für osteuropäische Geschichte überzeugt: „Putins Macht schwindet“. In einem langen Post auf Twitter erläutert Snyder die Anzeichen für einen von ihm diagnostizierten Machtverfall im Kreml.

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Für ihn sind die jüngsten Äußerungen hochrangiger Politiker wie die des früheren Präsidenten Dmitri Medwedew oder des Tschetschenenführers Ramsan Kadyrow als Beginn eines Machtkampfes für die Zeit nach Putin. „Neuerdings äußern sich regelmäßig andere Leute als Putin über die Bedeutung des Krieges und welche schlimmen Konsequenzen der Ukraine und dem Westen drohen“, schreibt Snyder. „Das ist ein Zeichen, dass Putin die Kontrolle verliert. Vor dem Krieg fühlte sich selten jemand ermächtigt, solche Ansagen zu machen.“

Snyders Theorie: Die mächtigen rund um Putin glauben zu wissen, dass Russland den Krieg verlieren wird. Die ständigen Drohungen dieser Leute, die er als „Untergangspropaganda“ bezeichnet, dienen dazu, sich selbst zu schützen. „Wenn Russland den Krieg verliert, haben sich die Leute, die jetzt radikale Dinge sagen, selbst geschützt. Ich für meinen Teil neige dazu, die drastischen Äußerungen als Beweis dafür zu sehen, dass wichtige Russen denken, dass Russland verliert.“

Die größte Gefahr für Putins Macht sieht Snyder in der Schwäche des Militärs. „Die Armee ist eine wichtige Stütze für Putin, der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit ein wichtiger Teil seiner Propaganda.“ In der Ukraine würde die Armee aber so hohe Verluste an Menschen und Material erleiden, dass sie ihre anderen Aufgaben nicht mehr erfüllen könne und als Institution bedroht sei, so Snyder: „Putin kann eine schwache Armee überleben, aber irgendwann wirkt eine schwache Armee auch nicht mehr stark.“

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Kommentare ( 18 )

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EinBuerger
1 Jahr her

Kann durchaus sein, dass Putin stürzt. Die Frage ist: Gibt es jemanden, der dann an die Macht kommt und das Land zusammenhalten kann?
Die osteuropäischen Zwergstaaten würden das lieben. Sie wurden jahrhundertelang von Russland gemobbt. Deshalb ist ihnen dessen Niederlage immer eine Jahrhundert-Party wert. Kann ich gut verstehen.
Die Frage ist: Kommt Russland nochmal wieder? Oder wird es die Beute anderer (z.B. von China)?

Prometheus
1 Jahr her

Jaja, Putin sollte ja schon seit Februar weg geputscht sein, nur keiner hat es bis dato bemerkt. Zudem sollte er ja Darmkrebs, Alzheimer und Parkinson haben. Und natürlich auch noch alles andere, was es sonst noch so gibt. Und natürlich würde es sich nur noch um wenige Monate handeln…Und jetzt, nach dem vom ersten Umsturz schon Niemand etwas mitbekommen hat, soll der nächste folgen 😀 Mal schauen, was uns in den nächsten Monaten noch so aufgetischt wird. Die Geschichte mit dem angeblich unehelichen Kind hats aber ehrlich gesagt auch nicht so richtig gebracht. Vielleicht will man ja auch einfach nur… Mehr

LiKoDe
1 Jahr her

Es gibt keine russische Lieferkürzungen beim Erdgas. Denn die aus technischen Gründen vorrübergehend verringerte Menge über Nordstream 1 wird durch erhöhte Mengen über zwei durch die Ukraine und die Slowakei gehenden Pipelines ausgeglichen. Die EU erzeugte durch Boykott selbst Knappheiten und will nicht sparen sondern anderen Ländern deren Lieferkontingente für Flüssigas vor der Nase wegkaufen, was die Preise in die Höhe treibt. Nach wie vor wird Nordstream 2 durch Deutschland selbst boykottiert und nach wie vor verhindern die USA, Polen und die Ukraine eigennützig und rabiat die Inbetriebnahme von Nordstream 2. In der FR vom 8.4.2022 [Habecks historische Herausforderung: Wann… Mehr

Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her

Bei der Analyse des amerikanischen Osteuropa-Experten handelt es sich um Wunschdenken. Unter anderem kann ein bellizistisches Umfeld, etwas gedämpft durch die letzte Instanz des Präsidenten auch dazu dienen, zu demonstrieren, daß der Boss ja nicht ganz so radikal ist, wie die, die seine Nachfolger sein könnten. Da erscheint ein eisenharter Putin in recht mildem Licht und könnte seine Widersacher zu der Überlegung bringen, lieber mit dem Schmied zu verhandeln als mit einem Gesellen, der den Hammer weit höher schwingen könnte als geahnt. Bei dem Experten sind die Wünsche der Vater des Gedankens. Im übrigen warten wir’s einfach ab, ist ja… Mehr

Ante
1 Jahr her

Putins Macht kann uns egal sein. Ob sie schwindet oder nicht, entscheidet der Russe. Unsere Aufgabe ist es, den Russen zu stoppen und Europa zu befrieden. Europa braucht keinen Russen. Russland war nie Teil Europas. Russland spielt sein imperiales Spiel. Beim Blick auf die Landkarte kann man das sogar verstehen. Trennen wir uns doch vom Russen, dauerhaft. Soll der Russe seine schmutzigen Kriege woanders führen, aber nicht in Europa. Die Ukraine braucht keine Russen. Und Europa braucht auch keine Russen. Europa braucht Frieden und Wohlstand. Ein freies Europa muss hochgerüstet sein. Nur dann ist es frei von Russland, China, USA.… Mehr

Engelmann Hans
1 Jahr her

Faszinierend:
Die Ukrainer sind Vorzeige-Demokraten, weil sie bereit sind,
im Kampf um ihre Freiheit – Gesundheit und Leben zu riskieren!
Die Deutschen sind auch Vorzeige-Demokraten, weil sie bereit sind,
für Gesundheit & Leben die Freiheit und die letzten Grundrechte zu opfern!

Und die USA erst! Kein Land hat sich so verdient gemacht, denn kein anderes Land hat für andere (hauptsächlich unterlegene und nicht bedrohliche ) andere Länder so oft die Demokratie herbeigebombt!

Gut, es hat vielleicht nicht immer geklappt, aber es zählt ja die gute Absicht.
Die steht ja wohl eindeutig ausser Frage… Nicht wahr?

Magdalena
1 Jahr her

Für mich ist immer auch interessant, an welchen Instituten die „Experten“ lehren und wer die Partner und Geldgeber sind. Im Falle Timothy Snyder ist es das IWM, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, in Wien. In dem Verein steckt für meinen Geschmack zu viel Soros drin: Open Society Foundations, Central European University, Project Syndicate, eine Organisation, der laut Wikipedia über 430 Zeitschriften aus 150 Ländern zusammengeschlossen sind. Wer zahlt, schafft an… Deshalb wundert mich die einseitige Sichtweise des Historikers Synder überhaupt nicht. Propaganda pur.

Alexis de Tocqueville
1 Jahr her

Neuerdings äußern sich regelmäßig andere Leute als Putin über die Bedeutung des Krieges und welche schlimmen Konsequenzen der Ukraine und dem Westen drohen“, schreibt Snyder. „Das ist ein Zeichen, dass Putin die Kontrolle verliert. Vor dem Krieg fühlte sich selten jemand ermächtigt, solche Ansagen zu machen.“ Das ist natürlich unmöglich Absicht. Es hätte natürlich Vorteile. Denn dann gäbe es nichts, worauf man Putin festnageln kann, und natürlich können Leute aus der zweiten Reihe auch Dinge äussern, die ein Staatsführer nicht äußern kann. Aber ganz bestimmt ist es trotzdem keine Absicht. Der Experte hat natürlich recht, sonst wär er ja kein… Mehr

Dunkelsachse
1 Jahr her

„Die Russen zielen absichtlich auf zivile Infrastrukturobjekte wie Krankenhäuser, Schulen und Kinos“

Wer Zivilisten als Schutzschild missbraucht, macht sich eines Kriegsverbrechens schuldig. Wer Militär in vorgenannten Objekten unterbringt macht diese zu legitimen Zielen.

Haager Landkriegsordnung.

Thomas
1 Jahr her

Ich sehe ein Land, daß sich jahrelang minutiös auf den unvermeidlichen Konflikt vorbereitet hat und jetzt Schritt für Schritt seinen Plan durchzieht und am Ende als grösster Gewinner (mehr als China) hervorgehen wird. Das wird Putin in Russland unangreifbar machen.
Der grösste Verlierer wird nicht die Ukraine sein, die gibt es bald nicht mehr. Der grösste Verlierer heisst Deutschland.
Der Niveau Unterschied ist beschämend, bestes Beispiel: Lawrow-Bärbock.