Bundeswahlleiter fordert Wahlwiederholung in Berlin in sechs Bezirken

Bundeswahlleiter Georg Thiel bestätigt mit seiner Forderung die Berichte von TE der letzten Monate und insbesondere der letzten Tage. TE hat die Unterlagen exklusiv, stellt sie aber gern zur Verfügung.

IMAGO / Emmanuele Contini
Wahllokal in Berlin, 26.9.2021
Bundeswahlleiter Georg Thiel hat am Dienstag im Bundestag gefordert, die Bundestagswahl müsse in sechs Berliner Bezirken wiederholt werden. „Wir sind hier in der bundesdeutschen Hauptstadt eines zivilisierten Landes und doch klappt es nicht“, sagte er. Es handele sich um ein „komplettes systematisches Versagen der Wahlorganisation“.

Thiel bestätigte damit die Berichte von TE der letzten Monate und insbesondere der letzten Tage. TE liegen die Unterlagen exklusiv vor. Wir stellen sie aber gern zur Verfügung.

Schon im Oktober erklärte der Bundeswahlleiter, dass geschlossene Wahllokale und Wartezeiten von 2 oder gar 3 Stunden „nicht akzeptabel“ seien. „Für eine Bundeshauptstadt und für ein deutsches Wahlsystem erst recht nicht.“ Im November legte Thiel dann Einspruch gegen die Bundestagswahl ein. Heute wurde vor dem Bundestag mündlich verhandelt. 

In seiner Beschwerde spricht Georg Thiel von schwerwiegenden Fehlern gegen zwingende Regelungen des Wahlrechts. In nicht weniger als 6 der 12 Wahlkreise seien die Fehler gar mandatsrelevant. Konkret geht es um die Bundestagswahlkreise 75 (Berlin-Mitte), 76 (Pankow), 77 (Reinickendorf), 79 (Steglitz-Zehlendorf), 80 (Charlottenburg-Wilmersdorf) und 83 (Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost). Die Wahl sei in den genannten Wahlkreisen bis zu 2 Stunden unterbrochen worden. Thiel spricht hier in seiner Beschwerde von unzumutbaren Wartezeiten.

Außerdem haben Minderjährige und EU-Ausländer an der Wahl teilgenommen. In 311 (Angaben der Landeswahlleitung) bzw. 339 (Angaben des Bundeswahlleiters) der 2257 Wahllokale kam es zu Wahlfehlern. Sowohl der Bundeswahlleiter als auch die Landeswahlleitung Berlin sprechen von 255 Wahllokalen, in denen bis 18:31 Uhr oder noch länger – teilweise bis 21 Uhr – gewählt wurde. 

Die vorherige Landeswahlleiterin Petra Michaelis habe ihm noch vor der Wahl versichert, dass alles gut organisiert sei, so Thiel. Drei Tage nach dem Wahldesaster trat sie zurück. Wegen der „Schwere, Vielzahl und der Nichtnachweisbarkeit“ von Wahlfehlern, verlangt Thiel eine Wiederholung der Bundestagswahl in den 6 genannten Bezirken. „Diese Probleme gab es im Bundesgebiet noch nie.“ Er sieht eine klare Verletzung der Allgemeinheit und Freiheit der Wahl. 

All die Erkenntnisse des Bundeswahlleiters beziehen sich lediglich auf die Bundestagswahl. TE-Recherchen offenbaren für die Wahl zum Abgeordnetenhaus, dem Berliner Landesparlament, noch wesentlich gravierendere Fehler und sogar die Verletzung mindestens eines weiteren Wahlrechtsgrundsatzes.

Im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg wurden an die Wahllokale massenhaft Stimmzettel aus dem Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf ausgeliefert. Das Bezirksamt erteilte an die Wahllokale die Weisung, diese Stimmzettel als ungültig zu werten. Dann erfolgte plötzlich eine Kehrtwende. Im Nachhinein entschied sich das Bezirksamt, die Stimmen doch als gültig zu bewerten. Ausgezählt wurden diese Stimmen vom Bezirksamt, und per Rotstift wurden den Parteien Stimmen zugeteilt – oder eben auch nicht. Mindestens 1900 solcher Fälle werden in unseren Recherchen dokumentiert. Ein völlig intransparenter Vorgang, der den aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten Öffentlichkeitsgrundsatz verletzt. 

Der frühere FDP-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus Marcel Luthe, der am Samstag Strafanzeige gegen die Berliner Wahlleitung gestellt hat und schon im Oktober 2021 Einspruch erhoben hatte, glaubt, dass angesichts des „systematischen Organisationsversagens der SPD-geführten Innenverwaltung“ „das aktuelle 19. Abgeordnetenhaus keinen Bestand haben“ könne und durch den Verfassungsgerichtshof wie von ihm beantragt aufzulösen sei. „Bis zu einer Wahlwiederholung muss dann das 18. Abgeordnetenhaus wieder zusammentreten – und einen Senat bestimmen, der in der Lage ist, eine Wahl auch halbwegs demokratisch durchzuführen.“

In Berlin verzögert sich jedoch schon die Aufarbeitung der Bundestagswahl. Der Bundeswahlleiter selbst kann keine Neuwahl anordnen. Hierfür ist das Berliner Landesverfassungsgericht zuständig und dieses sieht offenbar keinen Grund zur Eile. Erst im September soll über den Einspruch des Bundeswahlleiters verhandelt werden. Ein Urteil soll 2 bis 3 Monate später gefällt werden. Eine Wahlwiederholung wäre frühestens Anfang 2023 zu erwarten. Zwischen Einspruch des Bundeswahlleiters und der Wiederholung der Wahl wären dann rund eineinhalb Jahre vergangen.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 63 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

63 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
GerdM
1 Jahr her

Ich habe gerade das in den „unabhängigen“ RND gelesen:
Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags untersucht seit geraumer Zeit, ob das tatsächlich der Fall ist und zumindest in bestimmten Wahlkreisen oder -bezirken neu abgestimmt werden muss. In den kommenden Wochen oder Monaten will das Gremium eine Empfehlung dazu abgeben. Über diese stimmt dann der Bundestag in einer Plenarsitzung ab. Dagegen ist eine Klage beim Bundesverfassungsgericht möglich.
Ich denke es wäre nicht hilfreich die Wahl in Berlin zu wiederholen, oder so ähnlich würde das die ehemalige Staatsratsvorsitzende kommentieren.
Für mich ist das Thema damit mit durch. Es wird keine Neuwahlen geben.

alter weisser Mann
1 Jahr her

Wahlwiederholung ist keine Lösung, weil im Wissen um das bereits erzielte Wahlergebnis gewählt wird. Es darf doch da keine 2. Chance geben.
Das Einzige, was die Politik zwingen könnte, für eine ordnungsgemäße Wahlvorbereitung und Durchführung zu sorgen ist die ersatzlose Annullierung der Stimmen von Wahlbezirken in denen es Unregelmäßigkeiten gibt.
Etwaige Wahlposten werden dann für die Wahlperiode durch parteilose Verwaltungsleute ausgeübt.

Bad Sponzer
1 Jahr her

Danke an TE für diese wichtigen Recherchen. Man hört sonst nirgends von diesen unglaublichen Zuständen in dieser Bananenrepublik.

Alf Egner
1 Jahr her

Wozu denn neu wählen? Wird doch eh der selbe Ķäse gewählt. Wieder und wieder und wieder.

Edwin
1 Jahr her

Oh weh! Das war für Herrn Georg Thiel wohl seine letzte Tätigkeit als Bundeswahlleiter. Trappatoni hätte wohl gesagt: „Was erlaube sich Schorsch?“ Wie das läuft, sieht man ja an Covid. In ein paar Tagen wird er seine Aussagen zurückziehen und das war es dann. Abgesehen davon wird auch eine Neuwahl keine anderen Ergebnisse bringen. Wer noch an freie, faire Wahlen glaubt, muss schon ein beharrlicher Illusionist sein.

Tee Al
1 Jahr her

Das biblische Sodom und Gomorra in einer Stadt vereint. Es ist das Bundesshithole, zusammengehalten von einem erneuten deutschen ideologischen Größenwahn. Aber auch der wird eines Tages wieder ein Ende finden, genauso wie das Loch mit B. Vielleicht sogar für immer?

Richy
1 Jahr her

Ja, die Wahl für den BT und das Berliner Abgeordneten Haus müsste komplett wiederholt werden. Aber versprechen tue ich mir nichts von einer Wahlwiederholung. Der hauptsächliche Grund der überall gleichen Zeiten der Wahlschließungen und des Verbotes von Wahlprognosen zuvor (aus aktuellen Umfragen basierend) ist der, dass der Wähler nicht noch mehr beeinflusst werden kann. Aber genau das ist jetzt der Fall. Die Abgeordneten im BT und dort insbesondere die Linke wissen genau, was auf dem Spiel steht und werden ihre Anhänger oder auch andere zum taktischen Wählen auffordern. Und trotz Kriegstreiberei und Verteuerung von Energie und Lebensmitteln ins Unermessliche durch… Mehr

Eberhard
1 Jahr her

Hier zeigt sich nur weiter, was rote und linksgrüne Überheblichkeit, mittels angeblicher Toleranz, Rassismus-Bewältigung, Quotenregelung und einem höchst fragwürdigen Demokratieverständnis anrichten können. Nicht irgendwo in irgendeiner Bananenrepublik, oder vielleicht noch in Kleinkleckersdorf irgendwo hinter den Wäldern, sondern in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Schaut auf diese Stadt, forderte einst einer der noch mitreißenden Politiker der Vergangenheit. Heute können wir zufrieden sein, wenn sie wegschaut. So wie diese Wahlbewältigung es zeigt, wurde eine einst leistungsfähige und dem Bürger dienende Kommunalverwaltung, dank entsprechender Politik, zu einem unfähigen Haufen von immer mehr Abgaben erfordernden Leistungsempfängern herabgewirtschaftet. Eigentlich müsste der Bürgerzorn hochkochen, bei soviel… Mehr

Alf
1 Jahr her

All die Erkenntnisse des Bundeswahlleiters beziehen sich lediglich auf die Bundestagswahl. Was soll damit gesagt werden? Viel interessanter ist wohl der Absatz In Berlin verzögert sich jedoch schon die Aufarbeitung der Bundestagswahl. Der Bundeswahlleiter selbst kann keine Neuwahl anordnen. Hierfür ist das Berliner Landesverfassungsgericht zuständig und dieses sieht offenbar keinen Grund zur Eile. Erst im September soll über den Einspruch des Bundeswahlleiters verhandelt werden. Ein Urteil soll 2 bis 3 Monate später gefällt werden. Eine Wahlwiederholung wäre frühestens Anfang 2023 zu erwarten. Zwischen Einspruch des Bundeswahlleiters und der Wiederholung der Wahl wären dann rund eineinhalb Jahre vergangen. Also dürfte auch… Mehr

Innere Unruhe
1 Jahr her

Wie können andere Abgeordnete guten Gewissens im Bundestag sitzen, wohl wissend, dass manche von ihnen nicht richt gewählt worden sind?
Es müsste doch jedem Abgeordneten den Magen verdrehen, zu wissen, dass manche Nichtgewählte über die Gesetze der DE abstimmen.
Sollte es in Berlin zu Neuwahlen kommen, was passiert mit den bereits beschlossenen Gesetzen?