Regieren ohne Mehrheit – und jenseits der Verfassung

In Thüringen erreicht nach aktuellen Umfragen kein Lager eine Mehrheit. Ministerpräsident Ramelow muss sich trotzdem nicht sorgen. Seine bundesweit einmalige Strategie zum Machterhalt könnte aufgehen.

imago images / Jacob Schröter
Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) mit dem Thüringer Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz Dieter Lauinger (BÜNDNIS 90 DIE GRÜNEN)

Die neueste Umfrage zur Thüringer Landtagswahl am 27. Oktober müsste eigentlich allen Parteien extreme Sorgen bereiten – mit Ausnahme der AfD. Die Partei erreichte in der Erhebung des MDR, abgefragt zwischen dem 10. und 14. September, mit 25 Prozent ihr Allzeithoch in dem Südost-Freistaat. Da alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließen, die CDU außerdem eine Koalition mit den Linken, ergibt sich für keins der politischen Lager eine Mehrheit. Es reicht nicht mehr für die regierende rot-rot-grüne Koalition (Linke in der Umfrage 28, die Grünen acht und die SPD sieben Prozent), aber auch nicht für ein Viererbündnis unter Führung der Union. Die CDU mit 22 Prozent, die FDP fünf Prozent, dazu Grüne und SPD – diese Notallianz käme nur auf 42 Prozent, und damit sogar noch auf einen Prozentpunkt weniger als die Linksregierung von Ministerpräsident Bodo Ramelow.

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Nach Veröffentlichung der Umfrage warnten etliche Medien vor Unregierbarkeit. Sollte das Wahlergebnis im Oktober so ausfallen, dann müsste sich Linkspartei-Ministerpräsident Ramelow trotzdem keine Sorgen machen. „Ich sehe das ganz gelassen“, antwortet er auf die Frage, wie es in Thüringen weitergehen soll. Die Landesverfassung, meint Ramelow vielsagend, sei in Thüringen „etwas ganz Besonderes“. Damit hat er Recht. Er könnte mit seinem rot-rot-grünen Kabinett einfach weitermachen – auch ohne Mehrheit, und selbst, wenn die AfD noch weiter zulegen würde. Dafür sorgen drei unscheinbare Zeilen weit hinten in der Thüringer Verfassung, Artikel 75, Absatz 3:

„Der Ministerpräsident und auf sein Ersuchen die Minister sind verpflichtet, die Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger fortzuführen.“

Diese Regelung existiert nur in zwei Bundesländern: Hessen und Thüringen. Während es in allen anderen Ländern zur Neuwahl des Parlaments führt, wenn innerhalb einer bestimmten Frist kein neuer Regierungschef gewählt wird, kann hier der Ministerpräsident ohne Zeitbegrenzung bleiben, solange im Landtag keine Mehrheit für einen anderen Kandidaten zustande kommt.

In Hessen gab es diese Situation schon einmal im Januar 2008. Damals erreichten CDU und SPD je 42 Sitze im Landtag. Roland Koch brachte keine bürgerliche Mehrheit zustande, seine Herausforderin Andrea Ypsilanti wollte nicht mit der CDU zusammenarbeiten, sondern brach stattdessen ihr Wahlversprechen, keine Zusammenarbeit mit der Linkspartei zu suchen. Bei einem rot-rot-grünen Bündnis wiederum wollten drei SPD-Abgeordnete aus Gewissensgründen nicht mitmachen. Also gab es keine Mehrheit für niemand. Koch blieb fast ein Jahr geschäftsführend im Amt, bis sich der Landtag schließlich auflöste, um Neuwahlen zu ermöglichen. Verfassungsrechtlich hätte Koch sogar die gesamte Legislaturperiode bleiben können.

Normalerweise, heißt es in der Politik, kommt eine Minderheitsregierung nur bis zum nächsten Haushalt. Da für den Ausgabenplan dann logischerweise auch die Mehrheit fehlt, wäre ein amtierender Ministerpräsident spätestens dann politisch lahmgelegt.

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In Thüringen allerdings nicht. Dafür sorgte Rot-Rot-Grün mit einem politischen Manöver, das nach Ansicht von Staatsrechtlern zwar auf Verfassungsbruch hinausläuft – aber jetzt schon das Regieren ohne Mehrheit vorbereitet. Die Links-Koalition beschloss schon Mitte 2019 einen Haushalt für das gesamte Jahr 2020, also für die Zeit des neuen Landtags. Dieser in der Landesgeschichte bisher einmalige Winkelzug, klagt der Thüringer CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring, sei eine „Aushöhlung der Demokratie“. Auch ein Gutachten der Landtagsverwaltung wies auf verfassungsrechtliche Probleme hin. Der von der CDU beauftragte Potsdamer Staatsrechtler Thorsten Ingo Schmidt kam zu dem klaren Urteil: Verfassungsbruch.

Trotzdem hätte Ramelow, bliebe er geschäftsführend mit SPD und Grünen im Amt, erst einmal ein Instrument in der Hand, um so weiterzumachen, als gäbe es für ihn noch eine Mehrheit. Mit anderen Worten: ihn muss das Wahlergebnis am 27. Oktober nicht sonderlich kümmern.

Eine Klage vor dem Verfassungsgericht gegen den Vorratshaushalt würde wahrscheinlich bis zum Urteil auch ein Jahr dauern. Und selbst, wenn der Haushalt Ende 2020 ausliefe oder von Richtern für verfassungswidrig erklärt würde, könnte Ramelow weiter im Amt bleiben.

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Deutschlands erster Linkspartei-Ministerpräsident regiert auch jetzt nur mit dem denkbar knappen Plus von einer Stimme. Weil eine SPD-Abgeordnete 2017 ihre Fraktion verließ, hätte er eigentlich keine Mehrheit – wenn nicht 2016 der Abgeordnete Oskar Helmerich von der AfD in die SPD-Fraktion übergelaufen wäre. Helmerich zählte in Thüringen sogar zu den Gründungsmitgliedern der AfD, überwarf sich dann aber mit der eigenen Fraktion – und wurde von den Sozialdemokraten aufgenommen, obwohl er seine politischen Ansichten nicht grundsätzlich geändert hatte.

Für das Regieren ohne Mehrheit hätte Ramelow sogar eine Verteidigung, die sich in Teilen der Medien gut verkaufen lässt. Die Schuld könnte er nämlich der CDU zuschieben: Es gäbe es ja eine Mehrheit, dürfte der Linkspartei-Politiker dann argumentieren: die CDU müsste sich nur bereitfinden, Juniorpartner unter seiner Führung zu spielen.

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Kommentare ( 120 )

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Sonny
4 Jahre her

Ich frage mich wirklich, wie lange die deutsche, unterwürfige Justiz diesem Treiben noch zuschauen will. Gibt es denn in ganz Deutschlands Gerichten nicht einen einzigen Staatsanwalt mehr, der gegen diese ganzen Gesetzes- und Verfassungsbrüche vorgeht und ein Exempel statuiert?

Goldenmichel
4 Jahre her
Antworten an  Sonny

Ich glaube in Deutschland findet nur noch Handelsrecht eine Anwendung. Das offenbart sich im allgemeinen Sprachgebrauch wie in Aldi, Lidel und Co verwenden. Arbeitslose sind nun KUNDEN einer AGENTUR. Politiker machen ANGEBOTE, die GEZ macht auch PROGRAMMANGEBOTE Polizeibeamte bringen MINDESTUMSAETZE und fuerchten FILIALENSCHLIESSUNG obwohl ausreichend KUNDSCHAFT da waere.

https://transformier.files.wordpress.com/2014/10/polizei-geschlossen.jpeg

Hat jemand noch Fragen ?

reiner
4 Jahre her
Antworten an  Sonny

Das Frage ich mich auch. Als Merkel von diesem nicht gut vorbereitetetem AFD ler in Dresden zu ihrem Dublin und Schengenbruch befragt wurde,sagte sie,was wollen Sie denn,alle Gerichte haben mir recht gegebenen.
Mir fehlen schon lange die Worte, bei solch einer Justiz.
Wenn irgendwelche Asylanten plötzlich und ohne Vorwarnung vor der Grenze stehen ,ist guter Rat teuer aber bei der Marschrute war das alles bekannt und die Polizei hatte Anweisungen nicht einzuschreiten. Natürlich ist es problematisch,solch eine Menge von leiten aufzuhalten aber sollen wir uns , über rollen, lass
en?

John Sheridan
4 Jahre her

Zur Beruhigung der Gemüter:
Es wurde vor den Wahlen wie folgt aufgeteilt:
Brandenburg: SPD
Sachsen: CDU
Thüringen: SED
Wer es nicht glaubt, wird es spätestens nach der Wahl in Thüringen Schwarz auf Weiss haben. Und es wird mit einem Sitz Vorsprung für das Kommunistenbündnis langen.
Ich halte eine Wette, wer dagegen?

Hans Buttersack
4 Jahre her

Nach der Thüringen-Wahl haben wir faktisch wieder die Nationale Front der DDR. Eine Allparteien-Front unter Führung der umbenannten SED.

Thorsten
4 Jahre her

Da sieht man wohl wieder eindrucksvoll was Linke von Recht halten: Es ist für andere da. Selber ist man auf historischer Mission und kann sich nicht mit Paragraphen aufhalten.

„Alle Macht kommt aus der Straße“ – oder so ähnlich. Welcher „Führer“ hat diees wohl gesagt …

privilegierter Erpel
4 Jahre her

Es gab in Sachsen und Brandenburg den Effekt, dass Wähler des linken Spektrums, die sonst SPD oder Grüne gewählt hätten, die jeweils stärkste Regierungspartei wählten, um die AfD als stärkste Partei zu verhindern. Die SPD bekam in Sachsen bei der Wahl 1,3 Prozent weniger als bei einer Umfrage zwei Monate zuvor, die Grünen 3,4 Prozent weniger. Bis zur Wahl in Thüringen sind es sechs Wochen, wenn man sich die letzte Umfrage ansieht, kann es sein, dass eine oder beide unter die 5% wandern, die FDP wird wohl recht sicher drunter landen. Wenn die SPD rausfliegt, wird der Schock vielleicht groß… Mehr

Thorsten
4 Jahre her
Antworten an  privilegierter Erpel

Die SPD wird sich wie ein Ertrinkender an jedem Stück Macht festhalten. Denn es ist die Option auf Posten und Steuergelder. Und damit kann man seine Klientel kaufen…

Deichgraf72
4 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Nützt aber nix, wenn man unter 5 % landet, dann ist der Ofen aus.

Andreas aus E.
4 Jahre her

Hab da in der Bildunterschrift glatt zuerst gelesen „mit dem Thüringer Minister für Migration, Justiz und Verbrecherschutz“ – na ja, wäre ja nicht so ganz falsch.

Petra - Bremen
4 Jahre her
Antworten an  Andreas aus E.

Ohne Spaß: So etwas in der Art passiert mir in der letzten Zeit auch immer häufiger:

Lese also im ersten Moment etwas, was dort gar nicht geschrieben steht, aber wohl doch der Wahrheit näher kommen könnte als das Geschriebene.

Wahrscheinlich ein Streich des Unterbewusstseins?

Biskaborn
4 Jahre her

Die linke Kampfpresse, einschließlich Focus von heute, freuen sich schon, der linke Ramelow kann trotz vermutlich fehlender Mehrheit weiterregieren. Man ist kolossal beruhigt und bereitet bereits die Wahlaussagen vor, wonach auch in Thüringen die Demokratie gesiegt hat.

SuGie
4 Jahre her
Antworten an  Biskaborn

Gruselig!

SuGie
4 Jahre her

Es muss wohl erst noch viel schlimmer kommen, bevor es besser werden kann. Auch die jungen Menschen wollen ihre eigenen Erfahrungen mit einem kommunistischen Blockparteienkonstrukt und deren Allmacht ….Bitteschön… wer nicht hören will muss halt fühlen.

Thorsten
4 Jahre her
Antworten an  SuGie

Ich kenne genug ältere Wessies die auch mal ein „sozialistisches Experiment“ mitmachen wollen. Das könnte aber in Berlin oder NRW in einem „Kalifat“ enden…

Thomas Hellerberger
4 Jahre her

Die Situation in Thüringen ist grundsätzlich die gleiche wie überall, wenn neu gewählt wird, das heißt dass die Parlamente die Wählerpräferenzen der Zeit nach Etablieren der aktuellen Berliner Groko (also Ende 2017) abbilden. Im Kern läßt sich die Situation so beschreiben: Abgesehen von einigen Metropolen und Universitätsstädten gibt es nirgendwo genuine linke Mehrheiten, verstanden als die Stimmen für Grüne, SPD und PdL. Auf der anderen Seite hat die Union rechts der SPD/Grünen keine Machtoption mehr, seit die AfD signifikante Anzahlen an bürgerlich-konservativen Wählern bindet und zudem den nationalistischen Block von ca. 5 % integriert hat, der früher nicht wählte, weil… Mehr

Eggbert
4 Jahre her

Politiker nehmen sich also den Staat als Beute.

Und was soll eine Klage vor dem Verfassungsgericht bringen? Die Richter sind ja wohl auch mehrheitlich dem linken Spektrum zuzurechnen.

Wofür werden überhaupt noch Wahlen veranstaltet, wenn mit Tricksereien und Verfassungsbruch der Machterhalt der Politikdarsteller und deren Bürokraten garantiert werden kann?

Wer wundert sich eigentlich noch ernsthaft über den Zulauf bei der AfD?
Wer wundert sich eigentlich noch ernsthaft über die Politikverdrossenheit vieler Bürgern in diesem Land?

Hier wird Demokratie simuliert und das gesamte Staatsgebilde sabotiert!
Ist es nicht längst Zeit Art. 20(4) GG in Anspruch zu nehmen?

SuGie
4 Jahre her
Antworten an  Eggbert

Ja- es ist Zeit!