Ehemaliger UN-Folterbeauftragter Nils Melzer: „Die Politik hat eine große Verantwortung“

Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Folter erhebt schwere Vorwürfe gegen Deutschland. Er beklagt die entgrenzte Polizeigewalt auf Coronademos – und attestiert der Polizei ein systemisches Problem.

picture alliance/KEYSTONE | SALVATORE DI NOLFI

Bis April war der schweizer Rechtsprofessor Nils Melzer UN-Sonderberichterstatter für Folter. Für großen Aufsehen sorgte letzten Sommer, als Melzer aufgrund von Bildern brutaler Polizeigewalt gegen „Querdenker“-Demonstranten gegen Deutschland ermittelte. Über seine Erfahrungen damit sprach er im Interview mit der Welt – und übt scharfe Kritik den deutschen Behörden.

Die Hinweise, die er bekommen habe, zeigten einen besorgniserregenden Trend. Zahlreiche Szenen zeigten Polizisten, die eindeutig exzessive Gewalt einsetzten, während die umstehenden Beamten einfach zuschauten oder sogar mithalfen. „Polizeigewalt ist ein blinder Fleck, insbesondere bei Verhaftungen oder Demonstrationen“, so Melzer. Er beklagt eine „Kultur der Toleranz für Polizeigewalt“.

Die Wahrnehmung der deutschen Behörden sei hier „sehr verzerrt“. Die Behörden hätten „kein Verständnis“ für seine Kritik gehabt, so Melzer: „Die Polizei scheint der Irrmeinung zu sein, dass jede ihrer Maßnahmen um jeden Preis durchgesetzt und sogar rein verbale Widerrede sofort mit Gewalt gebrochen werden muss.“ Ein Beispiel: Ein Mann, der in Anwesenheit einer Gruppe von Polizisten auf einem Platz friedlich aus dem Grundgesetz vorlas und danach in aller Ruhe mit dem Fahrrad wegfahren wollte, wurde durch einen Beamten von hinten den Arm ins Genick geschlagen und brutal zu Boden geworfen. „Mir gegenüber erklärte die Bundesregierung diese Gewaltanwendung für gerechtfertigt, da der Mann mit seiner Rede weitere Demonstrationen hätte provozieren können.“ Die Schuld für die oft vollkommen unnötige und ungerechtfertigte Brutalität der Polizeieinsätze schiebt Melzer neben den verantwortlichen Beamten auch der Politik zu. „Die Politik hat eine große Verantwortung beim Aufbau von Narrativen. In vielen Ländern hat sie in den vergangenen zwei Jahren dazu beigetragen, dass sich die Gesellschaft polarisiert, indem sie die Demonstranten als Staatsfeinde dargestellt hat.“

Der ehemalige UN-Sonderbeauftragte attestiert Deutschland ein systemisches Problem beim Thema Polizeigewalt – nicht erst seit Corona. „Bei Polizeigewalt besteht eine große Diskrepanz zwischen den normativen Ambitionen der deutschen Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Behörden. Insgesamt vermitteln die offiziellen Statistiken den Eindruck von de facto Straflosigkeit durch Verfahrensverschleppung.“ Wenn es überhaupt zu Verfahren gegen Polizeibeamte komme, würden diese oft monate- oder jahrelang irgendwo hängenbleiben und dann sang- und klanglos eingestellt werden. „Das System funktioniert nicht“, meint Melzer.

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Kommentare ( 50 )

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Oneiroi
2 Jahre her

Dafür braucht es nun kein offizielles Schreiben der UN, wobei ich da eher dem Narrativ folgend erwartet hätte, dass die sagt, alles Super in Deutschland. Eventuell haben da auch ein paar Leute in der UN gedacht, es würde bei der Angelegenheit um Polizeigewalt gegen Migranten gehen und haben den Mann deswegen mit seiner Veröffentlichung durchkommen lassen. Relevant wäre, dass der Mann Namen nennt. Hochrangige, die die Polizeigewalt zu verantworten haben. Es nützt recht wenig, das Offensichtliche zu benennen ohne auch die Ursache zu betrachten. Und bei den Ursachen sind es nun mal Personen. Wenn die Personen in den Positionen weiter… Mehr

Aljoschu
2 Jahre her

Ich habe mir verschiedene Videos von Querdenker-Demos angeschaut, die, soweit ich sehen konnte, völlig friedlich verliefen, aber dann passierten massive gewalttätige polizeiliche Übergriffe gegen Demonstranten, wie ich sie bisher niemals in bundesrepublikanischen Zeiten erlebt habe – und ich war in meiner Jugend auf Anti-AKW-Demos, wo es nicht gerade zimperlich zuging. Selbst bei AntiFa-Krawallen, wo Demonstranten sich offensichtlich gewaltbereit zeigten, hat man solche polizeiliche Gegenmaßnahmen kaum beobachtet. Diese Bilder und Eindrücke aber haben mich zutiefst schockiert und mich diesem Land entfremdet. Solche Szenen können nur passieren, zumal es sich keinesfalls um Einzelfälle handelt, wenn hinter den ausrastenden Beamten eine Hierarchie von… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Aljoschu
Harry777
2 Jahre her

Nicht nur die Gewalt bleibt in Erinnerung, sondern der Umgang mit Demonstrationen i.A. Ich kenne einen 18-jährigen Schüler, der einen Strafbefehl über 650 Euro bekam, weil er an einem verbotenen Spaziergang teilnahm. Schon der Vorwurf hört sich an wie aus China. Ich riet ihm vor Gericht zu ziehen, das traute er sich aber nicht zu, was ich auch verstehen kann. Er hat kein reiches Elternhaus und bezahlt nun die Strafe von seinem Taschengeld ab. Ein solider Start ins Leben als Staatsbürger für ihn und seine Kumpels. Ich arbeite übrigens an einer Schule und es ist mitnichten so, dass die ganze… Mehr

Michael Palusch
2 Jahre her

Was ist ein „Folterbeauftragter“?
Bürgerbeauftragter, kümmert sich um Bürger, Sicherheitsbeauftragter, sorgt für die Sicherheit in Firmen, Hygienebeauftragter, wacht über die Einhaltung der Hygienevorschriften. Aber „Folterbeauftragter“, und dann auch noch im Auftrag der UN?!

Last edited 2 Jahre her by Michael Palusch
Michael Palusch
2 Jahre her
Antworten an  Michael Palusch

Manche derer die hier mit einer negativen Bewertung aufwarten mögen es für Wortklauberei halte, aber im Deutschen beschreibt bei zusammengesetzten Substantiven das erste Wort das Grundwort näher. Somit wäre ein Folterbeauftragter also ein Beauftragter, der für Folter zuständig ist.
Ein Folterbeauftragter ist somit das gleiche wie ein Folterknecht.

elly
2 Jahre her

„Er beklagt die entgrenzte Polizeigewalt auf Coronademos – und attestiert der Polizei ein systemisches Problem.“ einst prügelten Polizisten auf Friedensdemonstranten ein. Legendär auch die Polizeigewalt gegen friedliche Bürger/Innen in Wackersdorf. Damals regierte noch FJS in Bayern. Habe ich persönlich erlebt, als ich ahnungslos mit dem Auto in einen Stau geriet, schlug mir ein Polizist einfach so im vorbei gehen, die Seitenscheibe ein. Während Corona sicherten Bundespolizisten die Grenze zu Österreich. An der Grenze lebend, erlebte ich häufig Grenzkontrollen. Seit langer Zeit konnte ich eine große Polizeipräsenz beobachten. Es gab mal eine Zeit, da hatte ich wieder ein wenig Verständnis für… Mehr

fatherted
2 Jahre her

Der Unterschied ist sehr spürbar…während die oben beschriebenen Szene bei einer Corona Demo zum tragen kam, geschieht bei den derzeitigen „Klebe-Demos“ das genaue Gegenteil. Ein Passant (Autofahrer) der ohne Gewalt einen Klebe-Demonstranten wegziehen/tragen wollte, wurde von einem Polizisten mit voller Wucht angesprungen….die einen werden verteidigt…die anderen verprügelt….die Vorgaben von Oben sind eindeutig….und die „Beamten“ führen letztlich nur aus, was ihnen gesagt wird. Man erinnere sich auch an den medialen und politischen Shitstorm gegen eine Polizistin die auf einer Corona Demo ein Herzzeichen mit den Händen neben einer Demonstrantin machte….gefühlt sind wir nicht mehr weit von Putins Polizeistaat weg…fehlen nur noch… Mehr

elly
2 Jahre her
Antworten an  fatherted

und die Richter spielen wieder einmal mit
PROTEST GEGEN A49-AUSBAU:So beurteilt ein Gericht eine Straßenblockade per KletterseilDas Urteil des Richters liegt dazwischen: Er verurteilt Sarah K. zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen. Die Aktion sei zwar „ein massiver Eingriff“ in den Straßenverkehr gewesen, einen besonders schweren Fall der Nötigung aber sieht er nicht. „Dass man auf der Autobahn in einen Stau gerät, damit muss jeder rechnen“, sagt er.“
https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/a49-protest-klimaschutz-aktivistin-wegen-blockade-verurteilt-17694473.html#void

Thomas S62
2 Jahre her

„Wenn es überhaupt zu Verfahren gegen Polizeibeamte komme, würden diese oft monate- oder jahrelang irgendwo hängenbleiben und dann sang- und klanglos eingestellt werden“
Das kommt darauf an. Ich war selber dabei und bin es seit fast zehn Jahren aus gutem Grunde nicht mehr.
Wenn ein Polizeibeamter nicht spurt, wird sehr schnell ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Und dann auch Sachen erfunden. Hauptsache man kriegt ihn damit schnell los.

Mausi
2 Jahre her

Wieso ist der Mann jetzt ehemalig? Durfte sein „Einsatz“ nicht verlängert werden?

Petronius arbiter
2 Jahre her

Wenn jemand niedergeprügelt wird, weil er das GG friedlich vorgelesen hat und diese Bundesregierung, also Merkel, das gutheißt, weil der Mann damit, also das GG vorlesend, noch mehr Demonstranten erzeugt, haben wir diesen Rechtsstaat, für den ich einmal geschworen habe, ihn mit meinem Leben zu verteidigen, in Merkels Ostzone entsorgt!

Takeda
2 Jahre her

Mein Respekt und Vertrauen in den Polizeiapperat, hat Dank dieser Gewalt mächtig gelitten. Interessant war aber vorallem die Reaktion der Politik. Oder vielmehr, eben die Nicht-Reaktion der Politik. Allen voran von der Die Linke, den Grünen und der SPD. Die immer wieder geforderte Deeskalationsstrategie, hat man wohl längst vergessen oder aber sie soll nur bei Links/Ökoterroristen gelten. Heuchelei pur! Mal wieder.

Kennt man ja mittlerweile von vielen Themen, wo Linksgrün das Sagen hat. Ob Verfassungsschutz, die Justiz im allg. oder die sogenannte Meinungsfreiheit, die nur für die richtige Meinung zählt.