Tichys Einblick
Am nächsten Tag tanzten sie auf TikTok

Neue Details im Fall Freudenberg: Wofür rächten sich Luises Mörderinnen?

Die zwölfjährige Luise aus Freudenberg wurde mit 30 Messerstichen brutal ermordet. Die Tat war geplant. Doch der deutsche Täterschutz hilft nicht dabei, ein klares Bild von ihr zu bekommen. Am Ende sollen es die sozialen Medien gewesen sein – doch diese These springt viel zu kurz.

IMAGO / Funke Foto Services

Der Mord an der zwölfjährigen Luise aus der Stadt Freudenberg im Kreis Siegen-Wittgenstein hat es auch in die europäische, etwa in die britische, französische oder griechische Presse geschafft. Damit ist ein allgemeines Interesse belegt, das über Einzelheiten hinausreicht. Der Mord einer 13- und einer weiteren Zwölfjährigen an der Gesamtschülerin ruft auch in anderen europäischen Gesellschaften Erinnerungen an ähnliche Fälle wach. So etwa in England an den Fall des zweijährigen James Bulger, der im Jahre 1993 von zwei Zehnjährigen entführt und gequält wurde, bevor sie ihn umbrachten.

Die kleine Stadt Freudenberg liegt fernab der Ballungszentren, dort wo sich Nordrhein-Westfalen bei Rheinland-Pfalz unterhakt. In der Tat, Luise wurde im Nachbarbundesland ermordet, nicht in NRW, wo sie wohnte, weil sie vermutlich von ihren Mörderinnen auf andere Wege als die erwartbaren geführt wurde. An dem Freudenberger Verbrechen sind einige Punkte von Interesse, vor allem für die öffentlichen Debatten, die wir führen, aber auch für die gesellschaftliche Realität, in der wir leben. Dabei geht es um das Motiv der Tat, aber auch um den Umgang mit Opfern und Tätern, die beide im Plural auftreten. Denn bei einem Mord gibt es immer mehr als ein Opfer, weil Angehörige, Bekannte und sogar ganz Unbeteiligte, die gesamte Gesellschaft, davon betroffen sind. Mord war früher ein Kapitalverbrechen. Das wollte nicht sagen, dass er das „Haupt“ (caput) eines Menschen angriff, sondern dass er mit dem Tode, mit der Dekapitation zu bestrafen war.

Luise ist laut Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler „aufgrund zahlreicher Messerstiche verblutet“. Es gebe keine Hinweise auf ein Sexualverbrechen. Mehr als 30 Stiche sollen es übrigens gewesen sein. Focus online will erfahren haben, dass es sich um einen Racheakt gehandelt hat. Die Zahl der Stiche deutet demnach auf den Hass der Täter, ihre „blinde Wut“ hin. „Overkill“, also ein „Übertöten“, nennt das eine Schweizer Kinder- und Jugendpsychiaterin in der FAZ, das auf einen „vehementen Durchbruch aggressiver Gefühle“ schließen lasse. Der Tatort dagegen deutet eher nicht auf eine Affekttat, sondern auf ein geplantes Verbrechen hin, wie es für Mädchen und Frauen typisch ist. „Intrigen“ stehen hier oft an Stelle der offenen Gewalt, zu der es bei Jungen und Männern leichter kommt.

Das Problem an den „sozialen Medien“

Möglicherweise hatte sich Luise über eine ihrer Freundinnen lustig gemacht. Nach anderen Berichten wurde sie von ihren Freundinnen schon länger gemobbt. Nach Aussagen weiterer Mitschüler war Luise selbst immer „so nett mit allen umgegangen“, tröstete angeblich auch fremde Mädchen, wenn diese Streit mit Freundinnen hatten und auf dem Schulhof weinten, wie wiederum die FAZ berichtet. Man muss zugeben: Durch den scheinbar „einheimischen“ Charakter von Tat und mutmaßlichen Tätern ist auch die „Qualitätspresse” aufgewacht und hat ihre Reporter zum Berichten in das kleine Städtchen geschickt.

Der Psychotherapeut und Chefarzt am Universitätsklinikum Regensburg Thomas Loew, der sich schon länger mit dem Thema Mobbing beschäftigt, hält Cyber-Mobbing als Auslöser für möglich. Mindestens die Täterinnen waren auf TikTok aktiv, einer Plattform, die vor allem von Jüngeren und Minderjährigen genutzt wird. Das Problem an „sozialen Medien“ wie TikTok sei, dass nur noch die Likes zählen, so Loew: „Echte Leistungen wie schulische Erfolge oder im Sport werden nicht mehr wertgeschätzt.“ Die kleinen Nutzer sehen sich eher auf dem Weg zum Influencer, der am Ende auf einigen Plattformen sogar Einnahmen in klingender Münze durch Klicks verspricht.

Am Samstag machte sich Luise um 17.30 Uhr angeblich auf den drei Kilometer weiten Heimweg von Hohenhain nach Freudenberg. Sie war in Hohenhain bei ihrer Freundin Luisa gewesen, die zu ihrer Mörderin werden sollte. Der Heimweg führte durch einen Wald, aber den betrat Luise nicht mehr. Stattdessen ging sie mit Luisa und einer weiteren Freundin, Annemarie, in ein anderes Waldgebiet, das sich in der fast entgegengesetzten Richtung, tatsächlich schon in Rheinland-Pfalz befindet. Dort wurde Luise am nächsten Tag, angeblich in einer Blutlache liegend, gefunden. Die Landesgrenze war der Rubikon, den sie nicht hätte überschreiten sollen.

Die Fachwelt ist sich einig, nur das Ausland hat die falschen Gesetze

Annemarie, die von der älteren Luisa angestiftet worden sein soll, hatte sich erst später angeschlossen. Das „kleine Messer“, das sie benutzten, wurde laut den Ermittlern noch nicht gefunden. Um 19.45 Uhr riefen die Eltern die Polizei an, nachdem sie von Luises bester Freundin alarmiert worden waren. Die genannte Luisa behauptete, sie habe mehrmals versucht, Luise anzurufen, und sei nun „besorgt“. Dabei wusste sie, dass sie erstochen in einer Böschung lag. Luisa und Annemarie hatten sich das perfekte Verbrechen vorgenommen. In Freudenberg lag an diesem Tag eine Spur Schnee auf den vielen Fachwerkhäusern und natürlich im Wald, später viel mehr davon. Die Polizisten suchten nach dem Mädchen, aber durch weitere Hinweise taten sich erste Widersprüche auf. Am Samstag wurden die Beamten nicht mehr fündig und suchten deshalb am Sonntagmorgen weiter.

Am selben Tag gestanden die beiden Freundinnen schließlich den Mord an Luise. Ihre Darstellung wurde am Tatort bestätigt. Die beiden Mädchen sind mit zwölf und 13 Jahren strafunmündig, da die Grenze bei 14 Jahren liegt, was nicht in allen europäischen Ländern so ist. Weil die geständigen Täterinnen strafunmündig sind, halten sich Polizei und Staatsanwaltschaft weitgehend bedeckt und wollen vieles zur Tat und zum möglichen Motiv nicht preisgeben.

Sogar der Stern, nicht gerade ein rechtskonservatives Blatt, berichtet derweil über andere Strafmündigkeitsgrenzen, auch wenn er sich offenbar einem Expertenzitat nicht entziehen kann, das behauptet, die „Fachwelt“ sei sich „weitgehend einig, dass 14 die richtige Altersgrenze ist“. Typisch deutsche Spökenkiekerei. Entweder lesen also die Gesetzgeber in der Schweiz, in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten gar keine Fachliteratur, oder sie verabschieden absichtlich sachwidrige Gesetze. In der Schweiz kann schon ab dem zehnten Geburtstag das Jugendstrafrecht angewendet werden, in England, Wales und Nordirland können ab diesem Alter sogar Haftstrafen verhängt werden. In Frankreich beginnt die Strafmündigkeit bei 13 Jahren, aber im Einzelfall kann die Grenze aufgehoben werden. In knapp der Hälfte der US-Bundesstaaten gibt es überhaupt keine Altersgrenze für die Strafmündigkeit, in anderen Staaten liegt sie zwischen zehn und 13 Jahren, gilt aber einige Male nicht für Mord. In Deutschland fordern viele, auch aus der Union heraus, eine Absenkung der Strafunmündigkeit auf zwölf Jahre.

„Hetzjagd auf Tatverdächtige“? Nur für deutsche Gazetten

Noch während der Vernehmungen wurde die Leiche von Luise um 12.30 Uhr von einem Hundeführer der Polizei entdeckt, in einer Böschung, die laut Staatsanwalt zugleich der Tatort gewesen sei. Der Ort liegt nicht auf dem Nachhauseweg Luises von Hohenhain nach Freudenberg, sondern in fast entgegengesetzter Richtung, etwa zwei Kilometer vom Haus der Freundin entfernt.

Inzwischen sind die Familien der geständigen Mädchen nicht mehr in Freudenberg. Sie wurden vom Landkreis in einer „gemeinsamen Unterbringung“ einquartiert. Überhaupt spielt der Täterschutz in deutschen Gazetten eine gesonderte Rolle: Das SPD-nahe Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, tatsächlich die Hauptredaktion der Madsack-Gruppe) berichtet gar von einer „Hetzjagd auf Tatverdächtige“, was natürlich nicht sein darf. In der deutschen Qualitätspresse – wenn das nicht zu viel Ehre für das RND ist – zählt eine „Hetzjagd“ allemal mehr und schlimmer als eine wie auch immer furchtbare Tat. Doch praktisch ist: Auf diesem Weg kann auch das RND in geradezu voyeuristischer Weise von den TiktTok-Videos der Täterinnen berichten. „Immer cool“ seien die Videos der 13-Jährigen aus Hohenhain gewesen – cool, welch schönes Attribut für eine Mörderin. Nur die Online-Kommentare passten leider nicht dazu.

Unmittelbar nach dem Geständnis der Täterinnen seien ihre Profile von Mitschülern offengelegt worden, teils sogar mit Link auf Rundfunkanstalten. Das rief natürlich auch Hate-Speech-Experten auf den Plan, so Josephine Ballon vom „Projekt“ „Hate Aid“ (das wahrscheinlich auch eine von diesen staatsfinanzierten Nichtregierungsorganisationen ist). „Die Mädchen sind Freiwild“, sorgt sich Ballon, dabei gelte die Menschenwürde in Deutschland für alle, „auch für mutmaßliche Straftäterinnen“. Und das ist zweifellos richtig, aber begründet es einen solchen Schwenk der öffentlichen Aufmerksamkeit in der Berichterstattung, weg vom Opfer hin zu den Tätern, auf der Suche nach deren stillem, noch unbekannten, weil in der Zukunft liegenden Leiden?

„Als dein Stuhl leer blieb, wussten wir alle, was los war“

Das verläuft etwa nach dem Motto: Sie wussten nicht, was sie taten, und werden dafür noch bitter bezahlen. Damit seien die beiden Mädchen nun für den Rest ihres Lebens genug gestraft. Eine öffentliche Aufmerksamkeit auf den Fall erübrigt sich damit. Die Strafunmündigen sind sozusagen schon gerichtet – durch Social Media. Alles andere ist nur „gefühlte Ungerechtigkeit“ (RND). Die psychologisierende Perspektive dominiert natürlich auch im Hate-Speech-Sektor des öffentlich zu vergebenden Geldes. Nichts spreche dagegen, „im Internet seine Bestürzung zu äußern“, so Ballon, „aber deshalb muss man zwei wohl ohnehin schon nicht normal gelaufene Menschenleben nicht öffentlich und deutschlandweit komplett zerstören.“

Auch die Polizei Siegen-Wittgenstein hat ein Monitoring der sozialen Medien begonnen, um strafrechtlich Relevantes frühzeitig aufzuspüren. Um Details zum Mordfall wird es dabei wohl eher nicht gehen. Eher schon wird die Reaktion auf das Geschehen nun strafrechtlich kartiert. Auch Falschinformationen kommen so in den Radar der Polizei. Vieles decke sich nicht mit den Ermittlungen, wird besorgt berichtet. Aber hat das eigentlich polizeiliche Folgen? Kaum. Dann stellt sich allerdings die Frage, warum Steuergeld für solch ein Monitoring aufgewandt wird. Dazu stellt der Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Dirk Peglow, gegenüber dem RND klar: „Die Verbreitung von persönlichen Daten oder Bildern mutmaßlicher Beschuldigter durch private Personen in sozialen Medien stellt eine moderne Form der Hexenjagd dar.“ Eine eindeutig moralische Einordnung einer im Zweifel an Aufklärung und Bestrafung interessierten Öffentlichkeit. Aber darüber kommt man auf die Frage, wie moralisch diese Konzentration auf den oder die Täter in Behörden und Medien sein kann.

Für den Ministerpräsidenten von NRW, Hendrik Wüst (CDU), ist es unverständlich und unerträglich, dass Kinder einer derart furchtbaren Tat fähig seien. Ein besonderes Licht auf die Täterinnen wirft deren TikTok-Video, das sie am Tag nach der Tat veröffentlichten, wie die britische Daily Mail berichtet. Tanzend und vergnügt zeigen sich die dreizehnjährige Luisa und die zwölfjährige Annemarie auf der Online-Plattform. Daneben hatte Luisa zum Schein sogar auf TikTok nach ihrer toten Freundin gesucht – alles am selben Tag, an dem Luise in ihrem eigenen Blut liegend gefunden wurde. Bei der Polizei traten die beiden beschuldigten Mädchen zunächst mit einer abgesprochenen Geschichte auf, bevor ihr Lügengebäude in der weiteren Befragung in sich zusammenfiel.

Ein Kommentar auf das Tanzvideo, der wohl vom Montag stammt, lässt besonders tief blicken: „Als dein Stuhl im Klassenzimmer heute leer blieb, wussten wir alle, was los war.“ Das schwierige Verhältnis zwischen Luise und ihrer späteren Mörderin war also bekannt gewesen. Angeblich hatte sich Luise sogar Erwachsenen darüber anvertraut, was ihr aber nichts nutzen sollte.

Das Problem soziale Medien: Löschen als Lösung?

Laut Mail hatte sie von Freitag auf Sonnabend sogar bei ihrer fast gleichnamigen Freundin übernachtet. Merkwürdig ist, dass sie diese Luisa, von der einige schreiben, dass sie philippinische Wurzeln habe, überhaupt an diesem vorletzten Tag ihres Lebens besuchte. Denn laut Bild hatten die beiden anderen Mädchen Luise in den Wochen zuvor gemobbt und schikaniert.Tatsächlich gibt es diese Screenshots, auf denen die Namen der beiden Mädchen erwähnt werden und Bilder sie zeigen. In Luisas Profilnamen sieht man die Flagge der Philippinen. Sie und Annemarie könnte man als „nicht europäischen Aussehens“, „nicht weiß“ beschreiben.

Hinter dem „Unfassbaren“ der Tat versinkt ihr Fassbares, dass nämlich keineswegs eine psychische Störung bei der anstiftenden, älteren Haupttäterin Luisa vorliegen muss, auch wenn Psychologen und Psychotherapeuten diese sogleich wieder hervorheben: „Wer einen solchen Impulsdurchbruch erlebe, sei nicht gesund und es werde bei der Täterin nicht der erste gewesen sein.“ Es sei tragisch und furchtbar, aber „wir haben es mit kranken Kindern zu tun“, so noch einmal Thomas Loew. Am Ende bleibt das eine Ferndiagnose des Psychotherapeuten, Chefarztes und Universitätsdozenten. Vielleicht sollte man stattdessen lieber einmal die gesellschaftlichen Divisionen ins Visier nehmen, durch die eine solche offenbar entmenschlichende Tat erst ermöglicht wird.

Als sich bundesweit Menschen verwunderten, dass man eine Zwölfjährige am Samstagabend allein durch einen Wald laufen lässt, sagten Freudenberger, das sei bei ihnen noch möglich, es sei nicht Frankfurt, München oder Berlin, man müsse bei so etwas noch keine Angst haben. Dieses Sicherheitsgefühl wurde nun enttäuscht, wenn auch auf unerwartete Weise. „Das ist doch der Wahnsinn, zwei Kinder bringen ihre Freundin um, wo leben wir eigentlich?“, meinte ein Freudenberger entgeistert zu der Neuigkeit. Was aber, wenn es wirklich um „Rache“, um „Ehre“ ging bei dem Mobbing oder Streit zwischen Luise und Luisa?

Was, wenn die unterschiedliche Herkunft der beiden Mädchen dabei eine Rolle spielte und die „Rachetat“ auch durch Ressentiments ethnischer oder moralischer Art bedingt war?

Dann müsste man die Divisionen, die im Land errichtet wurden, vielleicht doch ernster nehmen und mehr dafür tun, sie zu vermeiden. Man wird jedenfalls keine trennenden Wände auflösen, wenn man – wie wiederum Experte Loew im Focus fordert – alle Online-Posts, in denen das Wort „bitch“ (Schlampe) vorkommt, löscht. Und vielleicht ist diese ganze Konzentration auf die Online-Plattformen und sozialen Medien nur ein großes Täuschungsmanöver, das die Realität hinter angeblichen virtuellen Problemen verstellen soll. Auch die Bild hat so eine Expertin parat, die davon schreibt, dass „Täterinnen im Moment des Verbrechens nicht einmal“ begreifen könnten, was sie anrichten. Das mag so sein, sogar bei erwachsenen Tätern. Aber deshalb sind nicht Kommunikationswege – TikTok, Instagram, das kaum noch genutzte Facebook – schuld, vermutlich auch nicht „gewaltverherrlichende Spiele, negative Beispiele in sozialen Medien oder die Identifikation mit Anti-Helden in Filmen oder Büchern“, sondern konkrete soziale Systeme und Situationen, in denen Menschen zuallererst existieren.

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