Die Leser-Antworten zu Wolfgang Herles‘ kafkaeskem Gewinnspiel

Die Geschichte könnte auch so beginnen wie der berühmte Roman „Der Prozess“: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn, ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet …“ Und da setzten Leser die Geschichte fort.

IMAGO / Steinach
So schloss Wolgang Herles‘ Kolumne Der Bahnübergang. Eine Erzählung wie von Kafka. Und dazu ein kafkaeskes Gewinnspiel:

„Weil wir gerade bei Kafka sind, noch eine Zugabe. Die Geschichte könnte auch so beginnen wie der berühmte Roman Der Prozess: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn, ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet…“

Dies ist unser Gewinnspiel zum Wochenende. Bitte setzen Sie die Geschichte aktuell fort und schicken sie an kontakt@tichyseinblick.de. Unter den Einsendungen verlost Tichys Einblick ein Buch seines Kolumnisten Wolfgang Herles: Die neurotische Nation. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Das wäre ja noch schöner!“

Surreal reale – real surreale Züge tragen die eingesandten Ideenzeilen.
Leicht war die Entscheidung der Auswahl der besten Geschichten keineswegs, aber leider können nicht alle auf das Treppchen klettern …
Doch: Die Einladung zur Fortsetzung der Geschichte trug Früchte, von denen wir Ihnen gerne einige vorstellen möchten:

Rominte v.T.

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn, ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet…
Erst später fiel Herrn Kahlert dieser Beginn eines Romans ein, war er doch ein Bewunderer Kafkas. Am frühen Morgen jedoch, als es bei ihm geklingelt hatte, war er gar nicht in der Lage, an irgendwelche Parallelen in der Literatur zu denken. Herr Kahlert war noch im Morgenrock, als er draußen drei vermummte Polizisten stehen sah. „Bitte ziehen Sie sich an, wir müssen Sie leider mitnehmen“, hörte er zu seinem Entsetzen. Wie war das nochmal mit Haftbefehl und Unterschrift eines Richters, dürfen die das einfach so? Lässt man sich den Dienstausweis zeigen, wie es in den Kriminalfilmen im staatlichen Sendebetrieb zu sehen war? Oder wäre das Widerstand, und dann dürften die Polizisten die Wohnung stürmen? Diese Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. „Ja, aber warum, was ist denn los?“, brachte er doch noch heraus. „Das müssten Sie doch selbst am besten wissen, Herr Kahlert“, belehrte ihn einer der Polizisten. War das jetzt eine Drohung? Voller Panik ging Kahlert in Gedanken seine letzten Tage durch. Wogegen hatte er verstoßen? Es war ja jetzt so vieles verboten. Einkaufen durfte man als 50-Jähriger nur morgens von 10 bis 11 Uhr, und er war erst fünf Minuten nach elf Uhr zuhause gewesen. Das Haareschneiden war verboten, außerdem gab es gar keine Friseursalons mehr. Einen der nun arbeitslosen Friseure zu sich nach Hause kommen zu lassen, konnte ein empfindliches Bußgeld kosten. Wenn man mit einem bekannt war, der einem heimlich die Haare schnitt, war es ratsam, im Tagebuch, dessen Führung der Staatsvirologe Drosten empfohlen hatte, zu vermerken, dass man mit ihm Schach gespielt hatte und dass die übrigen Familienmitglieder zu dieser Zeit aus dem Haus gegangen waren. Hatte sein Nachbar gesehen, dass seine, Kahlerts Haare vor einigen Tagen akkurat geschnitten waren? Aber er hatte sich doch mit seinem Nachbarn immer gut verstanden, der würde doch nicht die Corona- Sicherheitsprämie, die man bei Meldung eines Verdachtsfalles von der Stadtverwaltung bekäme, haben wollen? Moment, er war ja mit seinem Neffen, den er als sein eigenes Kind ausgegeben hatte, beim Schlittenfahren gewesen. Das musste es sein! Zwar war der Neffe nur eine Person, aber war nicht die Merkel-Fibel kürzlich erst überarbeitet worden? Womöglich durfte man sich nur noch mit einer Person, die in gerader Linie mit einem verwandt war, außerhalb des Hauses treffen? Und innerhalb des Hauses sollten es außer einem selbst maximal zwei Personen sein. Das war schon schwierig, lebten bei Kahlert doch die bejahrten Schwiegereltern. Um einer Strafe zu entgehen, hatte Kahlert den Schwiegervater für tot erklären lassen. Kahlert hatte einen Arzt überredet, einen Totenschein für die nicht existiterende Leiche auszustellen. Der Bestattungsunternehmer gab sich mit einem kleinen Betrag für die Schein-Beerdigung zufrieden. Kahlert schwitzte. Dass ihm das jetzt erst einfiel! Sowohl der Arzt wie der Bestattungsunternehmer waren Kahlert wohl gewogen, was aus langjähriger Bekanntschaft resultierte. Damit dieser Schwindel nicht auffiel, durfte der Schwiegervater nur in finsterster Nacht aus dem Haus gehen, was ebenfalls äußerst heikel war, galt doch in Bayern, wo Kahlert lebte, die Södersche Notverordnung, nach der man von 18 Uhr abends bis 9 Uhr am Morgen nicht aus dem Haus gehen durfte. War der Schwiegervater unvorsichtig gewesen? Und er selbst hatte vorgestern um 18.30 Uhr den Bürgersteig gekehrt. Bis zur Grundstücksgrenze durfte man ja gehen, aber als er seinen eigenen Gehweg gekehrt hatte, fiel ihm auf dem Bürgersteig ein Laubhaufen auf, den er ebenfalls schnell wegkehrte. Dumme deutsche Sorgfalt! Und seine Frau hatte sich mit ihrer Cousine getroffen, die positiv auf die Mutation Covid-anglois getestet worden war. Die Cousine hatte ihr China-Wohlfahrts-Telefon am Tag des Treffens zu Hause vergessen, wofür sie Strafe zahlen musste, aber das Treffen mit seiner Frau verheimlicht, damit diese nicht in die Gesundheits-Absonderungs-Benefizanstalt eingeliefert würde, wo man seit neuestem die Quarantäne verbringen musste. War die Cousine eindringlich befragt worden und hatte dem Druck nicht standgehalten? Und würde man ihm glauben, dass er von dem Treffen nichts wusste? Es war so viel, was nun strafbar war, was früher so selbstverständlich zum Leben eines Bürgers gehört hatte. Ach, Bürger! Da fiel ihm ein, dass er sich über das Genderdeutsch öffentlich lustig gemacht hatte, was jetzt mindestens eine Ordnungswidrigkeit darstellte. Man musste beim Sprechen glucksen und schriftlich dem Wort Bürger einen Stern anheften, um allen möglichen Geschlechtern seine Reverenz zu erweisen. Gab es noch mehr mögliche Vergehen, die man ihm anlasten konnte? Kahlert ergab sich so halb in sein Schicksal und bat die Polizisten um etwas Geduld, bis er sich angezogen habe. Dann erst sah er auf seine Frau, die mit verängstigter Miene dastand, aber nichts zu sagen wagte.
Stumm, um nichts Falsches zu sagen, stieg Kahlert in das Polizeiauto. Äußerlich ruhig, überlegte er, was ihm nun bevorstand. Verhöre, Anzeigen, Androhung von Strafe, Gerichtsverfahren oder Schnellgericht, denn es waren ja so viele Gesetze außer Kraft? Kahlert schaute nach draußen. Seit den Maßnahmen gegen das chinesische, das englische, das russische, das griechische, das amerikanische und das afrikanische Virus waren alle Geschäfte bis auf den Lebensmittelhandel geschlossen. Die Stadt war fast leer, denn alle Bevölkerungsgruppen durften nur zum Einkaufen hinaus, aber gestaffelt nach Alter und Risikogruppen, die von einem Ethikrat eingeteilt wurden. Manche Bürger hatten neben dem Mundschutz auch Schutzanzüge an. Kahlert dachte wehmütig an sonnige Nachmittage in seinem Lieblingscafé am Stadtrand, an dem sie gerade vorbeifuhren. Die Scheiben waren eingeschlagen. „Virus-Verbreiter“ hatte jemand mit roter Schrift an die Fassade geschmiert. Das Auto fuhr noch ein paar hundert Meter weiter. Da öffneten sich schon automatisch die Türen der Besserungsanstalt mit ihren Mauern, auf deren oberster Kante Stacheldraht zu sehen war. Jakob Kahlert wurde es übel …


Birgitt R.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Warum war ich nicht gleich auf die Idee gekommen umzukehren, statt vor dieser roten Ampel eine gefühlte Ewigkeit im Niemandsland zu stehen. Was faszinierte mich so an dieser Ampel, dass ich nicht von ihr loskam? War es die Hoffnung, dieses Warten darauf, dass irgendwo irgendjemand den Schalter von Rot auf Grün umlegen würde? Was hatte mich auch geritten, solange in dieser Einöde auszuharren? Erst nachdem ich der Information auf meinem Handy Glauben schenkte, dass es hier kein Weiterkommen geben würde, trat ich den Rückzug an.
Mittlerweile bricht die Dämmerung herein. Dieser farblose Zustand zwischen Tag und Nacht, der alles grau erscheinen lässt, alle Farben des Tages wegstiehlt und sie in die Nacht entschwinden lässt, jetzt ist er da. Es ist wie ein Schweben zwischen zwei Wirklichkeiten. Das Licht des Tages zieht sich zurück, um den schwarzblauen Nuancen der Nacht zu weichen. Ein Zustand, der mich an mir selbst zweifeln lässt. So fahre ich durch diesen Raum. Die Zeit verrinnt. Ab und zu erhellen die kleinen gelben Lichtpunkte der Straßenlaternen die Dunkelheit. Geben einen Blick frei auf schwarzen Asphalt, kahle Zweige alter Bäume, einen Zaun, Wiesen. Ich näherte mich einer Ansammlung von Häusern. Ich hatte sie ich auf dem Hinweg schon passiert.
Ein Gefühl von Trostlosigkeit beschleicht mich. Niemand ist zu sehen. Fast alle Häuser sind dunkel, die Fensteraugen fest verschlossen. Nur aus dem kleinsten Haus, etwas abseits am Ortsrand, dringt ein zarter Lichtstrahl auf die Straße. Das Licht scheint warm und diffus, ab und zu flackert es bläulich. Ich fahre langsamer, schaue ins erleuchtete Fenster, beschleunige leicht, fahre weiter. Drehe um. Da war etwas! Irgendetwas signalisiert mir umzukehren. Ich muss umkehren! Meinen Wagen parke ich in einer dunklen Seitenstraße. Öffne die Wagentür, setze erst zögerlich den einen, dann den anderen Fuß auf die Straße. Drücke mich aus meinem Sitz, doch irgendetwas scheint mich zurückzuhalten. Muss ich wirklich hier aussteigen? Ich steige aus, mit einer Mischung aus Furcht und Faszination. Langsam gehe ich Richtung Haus. Ich versuche alles Helle zu vermeiden, bleibe eine Figur im Schatten.
Der Blick in das erleuchtete Fenster offenbart mir ein vertrautes Bild. Ein Paar sitzt, eng aneinandergeschmiegt, ein Fernseher flimmert mit bläulichem Licht in den Raum hinein, der von einer Stehlampe warm und gelb durchflutet wird. Ein dicker Strauß orangeroter Tulpen mit langen grünen Stielen und Blättern steht auf einem Tisch. Die ganze Szene strahlt Ruhe und größte Vertrautheit aus, die mich mit schmerzlicher Sehnsucht erfüllt. Wie die beiden in sich selbst versunken dasitzen. Weit entfernt in ihrer eigenen Welt, umhüllt von einer Aura aus Liebe und Zuneigung. Dann sehe ich, wie die beiden sich anlächeln, sich zueinander beugen. Sie küssen sich, lange, zärtlich. Umarmen sich. Lösen sich kurz voneinander und ich kann einen Blick in ihre glücklichen, liebenden Gesichter werfen. Die Erkenntnis durchfährt meine Glieder, denn in einem der beiden erkenne ich mich selbst, schwerkrank. Ich weiß es: Ich muss auf die andere Seite.


Martin M.

Es waren drei unscheinbare Amtmänner aus dem Gesundheitsamt, die ihn in seinem Wohnzimmer empfingen, als K. sein Schlafgemach verließ. Einer erhob sich ungeduldig und sagte, sie hätten schon geraume Zeit auf ihn gewartet, was er sich denn denke. K. war verwirrt. Nun erhob sich auch der zweite der Amtmänner und eröffnete ihm, dass er die Wohnung bis auf Weiteres nicht verlassen dürfe. Was man ihm denn vorwerfe, fragte K. Das sei geheim, erwiderten die beiden Amtmänner. Immerhin soviel dürfe man ihm verraten, ergänzte der dritte der Amtmänner, der bisher geschwiegen hatte: Er sei zu einer Quarantäne auf unbestimmte Zeit verurteilt worden. Aufgrund welcher Vorkommnisse, stehe im Quarantänebescheid, der ihm aber nicht zugestellt werden dürfe, sondern beim Amtsvorsteher liege. K. könne dort um einen Termin nachsuchen; sie wüssten aber nicht, wann der Amtsvorsteher Zeit für ihn habe und dürften ihm auch seinen Namen und seine Anschrift nicht verraten.
Man würde, sagten die Amtmänner, als sie K. verließen, von Zeit zu Zeit das Einhalten der Quarantäne kontrollieren und rieten ihm, jederzeit auf Besuch gefasst zu sein. Als sie vor der Haustür angelangt waren, berieten sie noch eine Weile untereinander, K. konnte ihre Worte aber nicht verstehen. Dann gingen sie die Straße hinunter. K. fiel ein, dass er nicht gefragt hatte, ob sein Arbeitgeber verständigt worden war oder ob er dies selbst veranlassen musste und beschloss, dort anzurufen. Auf dem Weg zum Telefon fiel sein Blick auf ein kleines Büchlein auf dem Wohnzimmertisch, das gestern dort noch nicht gelegen hatte. Vielleicht hatte einer der Amtmänner darin gelesen und es dort liegen gelassen.
So spricht Corona lautete der Titel und K. begann zu lesen …
Ich bin Dein Virus und bin die Gefahr. Deine Sorge will ich sein immer und
überall. Du sollst mich fürchten und sollst nicht andere Viren haben neben mir.
Von der Absonderung im Besonderen
So ich über einen von Euch komme, soll er abgesondert werden in seiner Hütte, denn er ist unrein. Er soll aber abgesondert werden vierzehn Tage. Danach soll er sich dem Priester zeigen; der wird das Los über ihn werfen. Verfängt das Los über ihm, so soll er abermals abgesondert werden für vierzehn Tage. Er ist unrein, bis das Los nicht mehr über ihm verfängt zweimal hintereinander.
Von den Kontakten und ihrer Nachverfolgung
Wer aber Kontakt hatte zu einem Abgesonderten, soll auch abgesondert werden, denn er ist unrein. Auch soll abgesondert werden, wer Kontakt hatte zu einem, der Kontakt hatte mit einem Abgesonderten. Und sollen die Kontakte nachverfolgt werden bis ins siebente und ins siebenundsiebzigste Glied. Und nach vierzehn Tagen sollen die Priester kommen und das Los über sie werfen. Verfängt aber das Los nicht mehr über einem der Abgesonderten, so darf er die Hütte verlassen, denn er ist rein.

Vom rechten Glauben
Du sollst meinen Namen täglich in Deinem Munde führen und gläubig lesen in den Heiligen Schriften.
Die Ungläubigen aber, die mich nicht fürchten und nicht anbeten, sollst Du verfolgen und strafen, denn sie sind mir ein Greuel.
Von der Vermummung
Züchtig sollst Du Mund und Nase verhüllen, denn Dein Atem ist unrein und bringt Pestilenz über das Land.
Von der Absonderung im Allgemeinen
Ihr sollt nicht Volksfeste besuchen und auf Brautschau gehen, sondern in Euren Hütten bleiben und Euch fürchten.
Ihr sollt nicht Essen gehen und feiern, auf dass ich nicht über Euch komme.
Ihr sollt nicht arbeiten gehen, sondern in Euren Hütten bleiben, denn ich will Euch machen zu einem Volk der Abgesonderten. In Absonderung sollt Ihr Euer Brot erwerben und es in Absonderung verzehren. In Absonderung sollt Ihr leben, und in Absonderung sollt Ihr sterben.
Vom Zahlenwerk
So aber einer krank wird unter Euch und der Priester wirft das Los über ihm und das Los verfängt, so krankt er an mir, wie es die Propheten verkündet haben. Wenn aber einer stirbt unter Euch und der Priester hat vorher das Los über ihn geworfen und das Los hat über Ihm verfangen, so ist er mir gestorben.
Stirbt aber einer, über den der Priester nicht vorher das Los geworfen hat, so kann der Priester auch dann noch das Los über ihn werfen. Und verfängt das Los über ihm, so ist auch dieser mir gestorben. Er ist mein.
Die Propheten
Und die Propheten redeten zum Volk und sprachen: Fürchtet Euch, denn Corona ist mit uns. Tut Buße, wie es dem Virus wohlgefällig ist und versammelt Euch nicht untereinander. Bleibet in Euren Hütten, bis wir Euch sagen, dass Ihr die Hütten verlassen dürft. Bevor wir Euch aber das Verlassen der Hütten gewähren können, müssen wir das Orakel befragen und im großen Zahlenwerk lesen. Ihr sollt aber nicht selber im Zahlenwerk lesen, denn nur wir verstehen es recht. Ihr sollt nicht zweifeln an den Zahlen und an den Worten der Propheten, sondern gläubig und andächtig lauschen der Verkündigung, denn die Zweifler sind dem Virus ein Greuel.
Von den Leugnern und Ungläubigen
Wer aber leugnet, dass Corona das Größte ist unter den Viren und allein ihm Ehre gebührt, der soll in die Hölle geworfen werden für die Dauer von zwei
Ewigkeiten. Und wer meinen Propheten nicht folgt und zweifelt an ihrem Zahlenwerk und an ihren Worten, der soll in die Hölle geworfen werden und soll dort verbleiben für sieben Ewigkeiten.

… K. legte das Büchlein beiseite und dachte eine Weile nach. Dann nahm er seinen Mantel und ging in den Park. Er schlenderte unter hohen alten Bäumen umher und hörte die Vögel singen. Auf einer Parkbank entdeckte er einen Bekannten. Sah dieser ihn merkwürdig an? Egal. Er begrüßte seinen Bekannten und setzte sich zu ihm auf die Bank. Der Bekannte rückte ein wenig umständlich zur Seite und blicke ihn erwartungsvoll an. K. begann zu erzählen.


Tanja V.

Und so kehrte ich um. Wollte nicht einfach die rote Ampel ignorieren. Auf dem Rückweg fiel mir eine Brücke ein, über die ich die Bahnschienen überqueren konnte. So fuhr ich dort hin. Schnell und ohne zu warten überquerte ich nun die Gleise.
Die Straßen waren geräumt, die Schneelandschaft wunderschön.
Nach weiteren Minuten erreichte ich mein Ziel. Der Schwerkranke war sehr erleichtert über mein Eintreffen. Er hat hatte in den öffentlichen Medien von der roten Ampel gehört, diese sei alternativlos. Er konnte das mit der roten Ampel wegen der Gefahren ja verstehen, als Hilfloser war er allerdings jetzt machtlos ausgeliefert. Nun konnte er versorgt werden, bekam Hilfe. Wie froh war er über seinen hilfsbereiten Freund und die Brücke.


Spannend bis zum Schluss…! 

And the winner nach Auslosung is … Johann T.! Gratulation!

Schließlich habe ich lange genug gewartet, mehr kann man nicht von mir verlangen. Ich fahre, es ist kaum was zu sehen bei diesem Schneegestöber. Niemand kann mir einen Vorwurf machen. Hätte ich die rote Ampel einfach ignorieren sollen? Mich und andere gefährden? Ein Zugunglück riskieren, zig Tote und Verletzte, mit der Begründung einem einzelnen helfen zu wollen?
Es gibt Regeln, an die hat man sich schließlich zu halten. Wo war denn jetzt die Abzweigung, man sieht einfach nichts, die müsste eigentlich jetzt kommen. Oder hätte ich lieber doch einfach durchfahren sollen? Die Strecke war ja stillgelegt, aber als ich es endlich wusste, wäre ich wahrscheinlich zu spät gekommen, um zu helfen. Was hätte ich also sagen sollen, warum es so lange gedauert hat, und warum ich, obwohl ich rote Ampeln überfahre, nicht rechtzeitig komme.
Hier muss ich links – glaube ich. Keiner hätte mir doch geglaubt, dass ich gegoogelt habe, dass die Strecke nicht mehr befahren wird. Dann würde ich zur Verantwortung gezogen, ich wäre schuldig am Tod dieses Mannes. Ich stünde da, als einer der sich nicht an die Regeln hält, der alles in Frage stellt und deswegen natürlich versagt. Am Ende stünde ich auch noch als Lügner dar. Nein, ich habe alles richtig gemacht, ich halte mich an die Regeln. Eine rote Ampel ist eine rote Ampel, die steht nicht zum Spaß da.
Das kenne ich hier gar nicht, ich glaube, ich bin doch falsch abgebogen. Es ist kalt, die Batterie geht zur Neige, heizen ist nicht drin. Ich will nach Hause, ich kann auch nicht mehr, habe alles versucht, habe gewartet, länger als zumutbar. Hätte ich es nicht, wäre ich jetzt vielleicht tot, das kann keiner von mir verlangen.
Wo bin ich bloß hier? In diese Richtung bin ich noch nie nach Hause gefahren und dann der Schnee, die Scheiben sind total beschlagen. Sonst bin ich immer oben rumgefahren, dazu musste ich aber über den Bahnübergang, zweite Straße rechts, dann links, geradeaus, nochmal links, dann rechts, erster Klinkerbau rechts das Haus vom Patienten und von da nach Hause.
Und wenn mich einer gesehen hätte, wie ich über die rote Ampel fahre und mich davon mache, da denkt doch jeder ich hätte was ausgefressen. Dann hätte es geheißen, er gefährdet sich und andere, unverantwortlich, man hätte meine berufliche Eignung infrage gestellt. Dieses verdammte Mist-Navi geht nicht, ich werde immer nervöser, dabei habe ich mir doch nichts vorzuwerfen.
Ich habe mich an die Regeln gehalten, ohne Regeln herrscht Anarchie. Irgendwie muss ich nach Hause kommen, ich fahre immer schneller, ich muss mich beruhigen. Ruhig, ganz ruhig, denk nach. Du fährst jetzt erstmal nach Hause, damit du aus der Kälte herauskommst und wieder klar denken kannst. Aber was soll ich zuhause sagen, wo ich die ganze Zeit gewesen bin. Eine rote Ampel an einer toten Bahnstrecke, an der ich gewartet habe? So lange? Das nimmt mir doch keiner ab. Wo zum Teufel bin ich hier?
Ich denke darüber nach, einen Unfall vorzutäuschen, dann wäre ich aus allem raus, aber wenn mich doch einer vor der Ampel gesehen hat, lange genug stand ich ja da, was dann. Ich stünde unter Verdacht, wer weiß was, angestellt zu haben und es verschleiern zu wollen. Sehe vor meinem geistigen Auge schon einen Kommissar die Bilder einer Ermordeten vor mir ausbreiten. Ich muss mir irgendetwas einfallen lassen.
Hier bin ich jedenfalls falsch, total falsch, ich prügle auf das Lenkrad ein. Jetzt bin ich schon, zu blöd, 10 Kilometer nach Hause zu fahren. Es ist einfach nicht zu fassen. Mir tun die eisigen Hände weh, egal, Wut steigt in mir auf, unbändige Wut. Diese Scheiß-Karre, gleich ist die Batterie alle. Ich schwöre mir, die nächste rote Ampel überfahre ich, egal, ob da ein Zug oder was auch immer kommt, ich fahre da drüber, Punkt. Aber von Ampeln oder Schildern ist hier weit und breit nichts zu sehen. Wäre ich doch einfach über diese elende Ampel gefahren, die Strecke war doch stillgelegt.
Aber an diesem Punkt war ich ja schon, es wäre ja viel zu spät gewesen. Meine
Gedanken drehen sich im Kreis, so wie scheinbar der Weg, den ich fahre. Egal was ich mache, man wird mir entweder keinen Glauben schenken, oder ich stehe als eine Art Rechter da, der Regeln, Gesetz und Demokratie in Zweifel zieht.
Ich habe zu lange gewartet, viel zu lange. Dieses Feld da auf der linken Seite, das kommt mir jetzt irgendwie bekannt vor, war hier nicht die Bundestrasse in der Nähe? Hätte ich früher gehandelt, wäre das alles nicht passiert. Ich fahr mal hier rechts ab, das müsste stimmen. Die Aufregung weicht ein wenig der Konzentration. Hauptsache erstmal nach Hause, hier in der Eiskiste werde ich keine Lösung finden. Immerhin kann ich sagen, ich hätte mich verfahren, hab ich ja auch, versteht jeder, bei dem Schnee.
Moment mal, diese Straße kenne ich doch. So, jetzt hier links. Und wenn die Batterie des Autos leer wäre und ich bleibe irgendwo auf der Strecke…richtig! Ich bin hier richtig. Da, da vorn, die grüne Ampel! Das ist die Ampel vom Bahnübergang, nur von der anderen Seite! Ich hab‘s geschafft.
Während die Ampel immer näher kommt, fällt mir etwas ein. So finde ich aber den Weg nach Hause nicht, dann geht die Irrfahrt ja von vorne los. Ich überquere den Bahnübergang bei Grün und stoppe den Wagen. Wenn ich jemals nach Hause will, muss ich den bekannten Weg von dem Haus des Patienten nehmen. Ich wende den Wagen auf der etwas engen Straße und als ich aufblicke, um geradeaus über den Bahnübergang zu fahren, stehe ich wieder vor der roten Ampel.
Ich stelle den Motor ab, ich muss nachdenken. Bin ich gefangen in einer Welt, die man nur betreten aber nicht wieder verlassen kann? Oder kann nur ich sie nicht verlassen. In der Ferne höre ich das Geräusch eines Zuges.

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Kommentare ( 10 )

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Sonny
3 Jahre her

Johann T. – Grandios!
Vielen Dank!

Farbauti
3 Jahre her

Lieber Johann T., ich will diese Irrfahrt nicht mehr. Ich bin so müde. In dieser Nacht ist der Entschluß gefallen. Ich lerne jetzt wieder Englisch, weil mein Jüngster nach Kanada gehen will. Mir wäre dieses Land im Traum nicht eingefallen, aber mit fast 60 habe ich als Mutter keine Wahl. In meinem Beruf bin ich der Feind, ein Störfaktor. In diesem Beruf sah ich die Kathastrophe schon seit 20 Jahren kommen. 2016 bin ich ausgestiegen, um besagtem Sohn über die Hürden zu helfen und weil ich auf Allah keinen Bock hatte. Ich bin wohl noch eine ganze Weile da, aber… Mehr

Johann Thiel
3 Jahre her
Antworten an  Farbauti

Wir treffen uns 2024 am Valentinstag auf dem Dach des Empire State Buildings, wie in dem Film „Schlaflos in Seattle“ (nicht wie in dem anderen) und feiern dort eine Party mit weiteren TE-Emigranten ? Aber mal im Ernst, seien auch Sie vom mir herzlichst gedrückt, schließlich kennt man sich ja als regelmäßige Schreiber im Kommentarbereich. Ja, wie sich die Dinge doch gleichen. Mit Anfang 60 habe ich ähnliche Gedanken wie Sie, frische mein Englisch auf und dachte schon über die Ostküste der USA nach (ausgerechnet). Aber ohne Trump? Mittlerweile scheint es überhaupt keinen Platz der Freiheit in der westlichen Welt… Mehr

Farbauti
3 Jahre her
Antworten an  Johann Thiel

Wir schielen gerade schon nach New Brunswick und Nova Scotia. Auf der Karte sieht es Luftlinie ja nicht allzu weit aus bis zum Empire State Building. Ich werde aber nicht da sein – wg. Höhenangst. Für den Flieger brauche ich auch schon Schnaps und Valium o.ä. Besser Sie besuchen uns. Für die Vorbereitung werden wir 1 bis 2 Jahre brauchen. Vielleicht sollten wir ein TE-Leser Treffen vorher noch organisieren. Mir macht gerade jeder Zukunftsplan Freude, hauptsache nicht dieser Berliner Blödsinn. Kennen Sie Egon W. Kreutzer, er versucht gerade online Bürgerprojekte zu inszenieren. Neuerdings schreibt er auch eine Fortsetzungssatire, „Planungsbüro Wunsch… Mehr

Johann Thiel
3 Jahre her
Antworten an  Farbauti

Hahaha, gute Idee! Ja, so ist das, dieses Land macht uns alle zu Schreibern. Wir haben Freunde in Pennsylvania, die uns schon eine Ewigkeit beknien mal rüber zu kommen. Leider haben wir nie die Zeit gefunden, aber wer weiß, manche Dinge entwickeln sich oft ganz plötzlich, wie ein Lesertreffen, wenn dieser Corona-Unsinn endlich mal vorüber ist. Viel Spaß bei dem Schmieden Ihrer Zukunftspläne, da schaue ich doch direkt auch mal in die Karten. LG.

Johann Thiel
3 Jahre her

Vielen herzlichen Dank liebe TE-Redaktion, lieber Herr Herles, das ist ja wirklich eine tolle Überraschung, daran habe ich jetzt richtig Spaß und trinke mir darauf ein Gläschen Wein zur Feier des Tages. Meine Wochenendstimmung kann jedenfalls besser nicht sein, außerdem darf ich mich auch noch auf das Buch freuen. Fast so etwas, wie ein kleines „Nach-Weihnachten“ von TE, und von beidem kann ich ja nie genug bekommen.
Nochmals vielen Dank und beste Grüße
Johann Thiel

Wittgenstein
3 Jahre her

Liebe Redaktion, lieber Herr Herles!

Alle drei Beiträge sind Gewinner… Deutschland ist doch noch nicht verloren!

Robert Tiel
3 Jahre her

Martin M gefiel mir mit der religiösen Note und den drei grauen Herren, äh Amtmännern.
Sehr schön.

Stuttgarterin
3 Jahre her

Auch ohne Preis und Nennung hat es Spaß gemacht, mitzumachen, und es ist interessant, die anderen Gedanken zu lesen. Danke sehr für die Idee!