Die Würde des Menschen ist nicht auf deutsche Sozialleistungen angewiesen

Das Bundesverfassungsgericht begründet erneut die Höhe von Sozialleistungen mit dem höchsten verfügbaren Argument: der Würde des Menschen. Die hybride Botschaft: Würde ist in Euro und Cent zu bemessen - und ohne den deutschen Sozialstaat ist sie verloren.

© Uli Deck/AFP/Getty Images

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit von Kürzungen für Hartz-IV-Bezieher ist ebenso fatal wie vorangegangene Urteile in Sozialstaatsfragen. In seiner politischen Absicht ist es ein salomonischer Kompromiss: Kürzungen bei „Pflichtverletzungen“ der Empfänger sind grundsätzlich in Ordnung, aber nicht in dem bisher praktizierten Ausmaß. 30 Prozent weniger ist also okay, 60 Prozent nicht. 

Nicht die unmittelbaren sozialpolitischen Konsequenzen des Urteils sind problematisch. Die Verheerung, die dieses Urteil und auch schon frühere bedeuten, reicht tiefer. Sie steckt in der Begründung der Karlsruher Richter und vielleicht auch schon darin, dass die betreffende Entscheidung überhaupt von einer politischen zu einer verfassungsrechtlichen gemacht wurde. 

Das Urteil bedient sich zu seiner Begründung des vielzitierten ersten Artikels des Grundgesetzes. Die Richter holen also zur Begründung einer konkreten sozialpolitischen Frage, bei der es um Geldleistungen des Staates und Mitwirkungspflichten der Empfänger geht, den höchsten aller verfügbaren Gründe heran: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. 39 mal findet sich „Menschenwürde“ oder „menschenwürdig“ im Urteilstext.  

Schon in den „Leitsätzen“ zum Urteil steht: „Gesichert werden muss einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren.“ Ähnliches steht im Urteilsspruch selbst: „Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>); sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu. Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.“ 

Die Richter verknüpfen also das höchste Gut, das unser Grundgesetz kennt und das von dessen Schöpfern daher an den Anfang gestellt wurde, mit einer konkreten Geldleistung in einer ganz bestimmten Höhe. Ein Betrag von X Euro sichert demnach die Würde des Menschen, X-30% auch noch, aber bei X-60% ist die Menschenwürde verletzt. Ernsthaft?

Wenn die Richter schon nach der höchsten, äußersten Begründung greifen, um eine sozialpolitische Frage zu beantworten, dann müssten eigentlich auch naheliegende (im Urteil natürlich unerwähnte und in den bisherigen Kommentaren von Sozialpolitikern ebenso ignorierte) Folgefragen gestellt werden. Was ein solches Urteil nämlich für die Würde des Menschen, beziehungsweise unser aller Ansicht darüber, bedeutet. Und damit wiederum für unsere Sicht auf unseren Staat.

Was ist, wenn der deutsche Staat irgendwann einmal außerstande sein sollte, allen auf seinem Staatsgebiet ansässigen Menschen eine Grundsicherung auf dem jetzigen Niveau zu leisten? Verletzt er dann unmittelbar die Menschenwürde? Und was ist eigentlich mit anderen Staaten, die das nicht tun (können)? Verletzen die also alle die Menschenwürde? Folgt man der Argumentation aus Karlsruhe, müsste man konsequenterweise antworten: ja. Also verletzen nicht nur alle Dritte-Welt-Staaten, sondern auch die USA und im Grunde auch die meisten EU-Mitgliedsstaaten und demokratischen Rechtsstaaten die Menschenwürde, da sie teilweise deutlich weniger weniger Sozialleistungen zahlen als Deutschland. 

Und nicht zuletzt: Verletzte also auch die frühe Bundesrepublik, deren Sozialstaatlichkeit noch längst nicht so ausgeprägt war wie die der heutigen, die Menschenwürde? Nach Ansicht der Karlsruher Richter offensichtlich: ja.  

Die kausale juristische Verknüpfung von obersten, letztlich nicht juristischen, sondern moralphilosophischen Werten und Postulaten mit der profanen Frage nach der Höhe von sozialstaatlichen Versorgungsleistungen bringt Hybris im Wortsinne hervor: eine Grenzverwischung zwischen einem immateriellen Gut wie der Würde des Menschen und der Umverteilung ökonomischer Güter durch den Staat. 

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Im Grundgesetz von 1949 steht an erster Stelle „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, weil sie in den schrecklichen Jahren zuvor vom Unrechtsregime der Nazis grundlegend und dauernd verletzt wurde. Die Formulierung „unantastbar“ macht klar, dass es hier um ein individuelles Schutzrecht gegenüber staatlichen und sonstigen Angriffen geht. Da steht nicht: Der deutsche Sozialstaat finanziert jedem Menschen ein würdevolles Leben. So aber interpretieren die Richter den Artikel 1, indem sie ihn mit Artikel 20 Absatz 1 verbinden („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“). Die Würde des Menschen gehört zu den Grundrechten (Art.1 bis 19), die in ihrem Ursprung Abwehrrechte gegen den Staat sind. Das Sozialstaatsgebot von Artikel 20 (bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1949 höchst umstritten) ist kein Grundrecht, sondern gehört zum Staatsorganisationsrecht. Aber bezeichnenderweise verbinden die Karlsruher Richter beide im aktuellen Urteil. Sozialstaatliche Versorgung wird de facto zum Grundrecht erklärt. Und zwar nicht nur zum Bürger- sondern zum Menschenrecht. Das ist auch schon in mehreren vorangegangen Urteilen geschehen. Aber das macht es nicht besser. 

Man kann mit guten Gründen eine moralische und politische Verpflichtung des modernen Staates behaupten, für einen sozialen Ausgleich innerhalb der Gesellschaft zu sorgen, um den inneren Frieden und den Zusammenhalt zu bewahren und seine Bürger vor Verelendung zu schützen. Das stellen die wenigsten in Frage. Man kann auch aus politischen Erwägungen zu dem Schluss kommen, dass der Staat seinen Bürgern eine „Grundsicherung“ in der Höhe eines irgendwie politisch begründeten „Existenzminimums“ auszahlen sollte, ohne bestimmte Nachweise zu verlangen, um einen unverhältnismäßigen Aufwand zu vermeiden. Muss man dies aber gleich mit der höchsten verfügbaren Moral verknüpfen? Muss es gleich die „Würde des Menschen“ sein?

Nein, das Sozialstaatsgebot hat den Artikel 1 nicht nötig.

Die Sozialstaatlichkeit beruht auf politischer Vernunft und sozioökonomischen Abwägungen. Jeder Bürger, egal ob Hartz-IV-Empfänger oder Sozialpolitiker oder Richter am Bundesverfassungsgericht, sollte um die Bedingtheit staatlicher Leistungsfähigkeit wissen. Der Sozialstaat beruht auf der Solidarität einer in Umfang und Leistungsfähigkeit begrenzten Solidargemeinschaft. Diese Leistungsfähigkeit beschränkt die Möglichkeiten des Sozialstaats. Diese sind immer von verschiedenen äußeren Umständen abhängig, an denen auch Verfassungsrichter nichts ändern können. Die Würde des Menschen aber liegt, wie die Schöpfer des Grundgesetzes wussten, eben in einer ganz anderen Kategorie: Sie zu wahren ist eine absolute Aufgabe, unabhängig von äußeren Umständen.

Gerade weil, wie es im Urteil heißt, die Menschenwürde „nicht erarbeitet“ wird, sollte man doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass dieses höchste Gut in Euro und Cent zu beziffern ist. Wenn wir tatsächlich unser höchstes Gut, unsere Würde und die aller Menschen, unter die Bedingung des Funktionierens des deutschen Umverteilungsstaates in seinem heutigen Ausmaß stellen, wie das die Karlsruher Richter offenbar tun, dann wäre ja buchstäblich alles verloren, wenn die sozialen Sicherungssysteme irgendwann einmal zusammenbrächen. 

Nein, wer den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ernst nimmt, muss dann auch wissen, dass sie unbezahlbar ist.

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Kommentare ( 121 )

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Marie-Jeanne Decourroux
4 Jahre her

Herr Knauss wirft mit diesem Artikel eine selten gestellte sehr wichtige allgemeine Frage auf: Welche Voraussetzungen NICHT-juristischer Art gehen (oft unreflektiert) in die Urteile des Bundesverfassungsgerichts ein? Im vorliegenden Fall hängt das Urteil viel weniger von einem Verfassungsgrundsatz [GG Art.1 ] als davon ab, was »Menschenwürde« IST, begründet bzw. letztendlich »ausmacht«. Das aber ist keine juristische, sondern eine philosophische, anthropologische, wenn nicht rein weltanschauliche (im weitesten Sinne »religiöse«) Frage. Denn welches Naturgesetz sagt, dass der Mensch eine »Würde« hat, was dies bedeutet und was daraus folgt?… Dem vorliegenen Urteil liegt, wie Ferdinand Knauss schlüssig zeigt, ein sehr materialistischer Begriff von… Mehr

Marie-Jeanne Decourroux
4 Jahre her

A propos »Ex falso quodlibet«. Als Betrand Russel dieses Prinzip (zu deutsch: »aus Falschem folgt Beliebiges«) in einer Vorlesung erörterte, unterbrach ihn einmal ein vorwitziger Student: »Das glaube ich nicht. Ich sage Ihnen 3=4, beweisen Sie mir: ich bin der Papst !«

»Nichts leichter als das,« konterte Russel, »subtrahieren Sie auf beiden Seiten Ihrer Gleichung 2, so erhalten Sie 1=2. Der Papst und Sie sind zwei, da dies gleich Eins ist, sind Sie und der Papst ein und dieselbe Person.«

Peter Mueller
4 Jahre her

Menschenwürde? Ja was denn sonst? Man gewinnt den Eindruck, daß der Verfasser bisher nie gezwungen war, beim Sozialamt vorzusprechen. Das ist ein Glück für ihn. Es sei ihm gegönnt. Und ich wünsche ihm von Herzen, daß er nie in solch eine Situation kommt. Und es erklärt auch die Sichtweise aus dem Elfenbeinturm. Denn anderenfalls wüßte er, wie eng die Almosen und die üblichen Schikanen durch das Amt mit der Menschenwürde und deren angeblicher Unantastbarkeit verknüpft sind.

beat126
4 Jahre her

Es gehört zu den Maximen des Völkerrechts, dass aus Unrecht kein Recht abgeleitet werden kann. — Dem Urteil ist zu entnehmen: IM NAMEN DES VOLKES In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob 1. 2. 3. hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat – unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Harbarth Masing Paulus Baer Britz Ott Christ Radtke aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2019 durch Urteil für Recht erkannt: 1. 2. 3. — Obgenannte Richter des BVerfG stellen gegen besseres Wissen bei jedem Urteil Unrecht fest und leiten Recht daraus ab. Sie verstossen damit vorsätzlich und in vollem Bewusstsein gegen… Mehr

Kalmus
4 Jahre her

Ja, warum sollte die Realitätsverkennung in Karlsruhe in eine andere Richtung gehen als unter der Reichstagskuppel? Zur Macht gehört, dass das Verfassungsgericht mitspielt. Die Mär der Unabhängigkeit sollte niemand mehr pflegen, seitdem ganz offen von grünlinks die Demokratie infrage gestellt wird.

Marie-Jeanne Decourroux
4 Jahre her

Es wäre ja schön, wenn die Verfassungsrichter alle philosophische Köpfe oder wenigstens sattelfeste solide Logiker wären! Ihre nicht selten bizarren Urteile und Urteilsbegründungen bezeugen eher das Gegenteil.

IJ
4 Jahre her

Das Urteil schreibt gleichsam den Staatsbankrott als finales Verfassungsziel vor. Denn bei einem wirtschaftlichen Einbruch sind weitere Sozialleistungen nur durch Schulden zu finanzieren bzw. durch Drucken von Geld mit der Folge von Inflation, Kapitalflucht und wirtschaftlichen Totalzusammenbruch. Judex non calculat auf neuen Niveau.

Fabian S.
4 Jahre her

Mittlerweile wird alles mit „Die Würde des Menschen“ (Art. 1) begründet! Das GG ist nur noch ein politischer Spielball (exekutiert durch ein politisches Gericht, wenn es denn mal entscheiden will). Es wird gedehnt, gefüllt und gebrochen nach Belieben. Die Väter des GG haben das alles so in der Regel nicht gemeint (auch Art. 1 nicht), aber das ist ja gerade vollkommen egal. Tschüss Rechtsstaat.

Britsch
4 Jahre her

Das war wieder eine Politische / ideologische Entscheidung wie andere bereits zuvor. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes ist ja aber eigentlich nach dem in Deutschland geltenden niedergeschriebenen und rechtmäßig geltenden Gesetz zu urteilen. Dafür zu sorgen, daß diese eingehalten werden. Das Bundesvervassungsgericht ist schon lange nicht mehr „frei“, sondern hat schon öfter Politik entsprechend , ideologisch geurteilt. Nach dem Urteil steht also gemäß „Menschenrechten“ allen eine solchje Versorgung zu ohne irgend etwas tzun zu müssen, bei Verhalten gleich wie? Dann kann also demnach „die ganze Welt“ kommen und Allen muß das bezahlt werden. Und die angeren Staaten, also fast alle die es… Mehr

Aegnor
4 Jahre her

„Also verletzen nicht nur alle Dritte-Welt-Staaten, sondern auch die USA und im Grunde auch die meisten EU-Mitgliedsstaaten und demokratischen Rechtsstaaten die Menschenwürde, da sie teilweise deutlich weniger weniger Sozialleistungen zahlen als Deutschland.“

Gut erkannt. Denn diese Begründung führt zwingend zu der Schlussfolgerung, dass eben darum sämtliche Menschen der Welt Anrecht auf Asyl in Deutschland haben und zudem niemand in ein anderes Land, dass nicht mindestens deutsche Sozialstandards für alle Menschen (nicht nur eigene Bürger) hat – also praktisch nirgendwohin – abgeschoben werden darf.

Lutz Herzer
4 Jahre her

Jetzt müsste denselben Richtern allerdings in einem weiteren Anlauf gegen den Migrationspakt noch vermittelt werden, dass ein Fortbestehen dieses Sozialsystems nur innerhalb geschlossener Grenzen gesichert sein kann. Die Frist endet im Dezember. Die logische Konsequenz aus dem Urteil müsste sein, dass der Staat nicht mehr Menschen aufnehmen darf, als er ohne zusätzliche Verschuldung versorgen kann. Denn die Verschuldung geht zu Lasten zukünftiger Generationen und stellt somit deren Menschenwürde in Frage. Die Grenzen müssten demzufolge seit langem geschlossen sein und es dürften nur noch Personengruppen einwandern, die sozialökonomisch kompatibel sind. Die Zustimmung zum Migrationspakt muss nach Artikel 1 Absatz 1 GG… Mehr