Die Ukraine führt zwei Kriege

Natürlich muss der Westen der ukrainischen Armee Waffen liefern, verlangen die einen: Damit die Ukrainer sich gegen die russischen Nationalfaschisten verteidigen können. Den Anführern in der Ost-Ukraine stimmen die anderen zu: Den Faschisten der ukrainischen Streitkräfte darf nicht geholfen werden.

Mit der politischen Dimension, wer kämpft hier eigentlich wofür, beschäftigen sich höchst wenige der Masse von Ukraine-Experten auf Facebook, Twitter und Co. – aber auch in den alten Medien. Wir erfahren, dass viele Ukrainer das Land Richtung Osten wie Westen verlassen, um der Einberufung zu entgehen. Vom neuen Gesetz, das den Kommandierenden des ukrainischen Militärs erlaubt, auf Deserteure zu schießen, habe ich nur in englischsprachigen Medien gelesen. Wiederholt berichtet hingegen wird darüber, dass die tatsächlich Kampfwilligen die ukrainischen Freiwilligen-Verbände sind, die sich nicht in die reguläre Armee integrieren lassen: Sie vertrauen deren Führung nicht, die sie für korrupt und unfähig halten, sind selbst aber genau wie jene mit Oligarchen verschwägert. So mancher Kenner sieht da Privatarmeen der untereinander um die Macht konkurrierenden Oligarchen entstehen – die Warlords von übermorgen?

Viele Ukrainer, die sich dem Kriegseinsatz entziehen, tun das, weil sie ihrer Regierung in Kiew nicht vertrauen, viele auch, weil die Regierung dem Volk nicht erklärt, was es militärisch, politisch und vor allem auch wirtschaftlich zu tun gedenkt. 20.000 Kiewer Bürger machen in der neuen Straßen-Polizei-Patrouille mit, weil die reguläre Polizei schlecht bezahlt wird und wie das Militär als korrupt gilt. Dem neuen Regierungskonzept zur Polizeireform nach vertrauen drei Prozent der Bevölkerung der Polizei. Den Parlamentarier Anton Gerashchenko zitieren englische Medien mit dem Satz: „Als sowjetisches Erbe ist unsere Polizei nicht dazu da, um das Volk zu schützen, sondern um die Herrschenden vor dem Volk zu schützen.“

Wir schauen auf die Gipfeltreffen von Merkel und Hollande mit Putin und Poroshenko. Die Fernseh-Nachrichten kreisen um die Frage „Durchbruch“ in den Verhandlungen oder nicht. Dabei bleibt die entscheidende Frage auf der Strecke: und was danach? Die Ukraine kämpft nämlich zwei Kriege zur selben Zeit. Den einen, den militärischen im Osten, von dem alle reden. Den anderen, den politischen um die dringenden Reformen im Gefolge der Maidan-Bewegung, von dem wir wenig hören.

Militärische Erfolge befördern die Reformen nicht automatisch, denn sie werden – wenn überhaupt – nicht von Kräften bewirkt, die für Reformen sind. Jene Ukrainer, die das Land verlassen, weil sie nicht wissen, wofür sie in der ukrainischen Armee wirklich kämpfen, fehlen auch im Krieg um die so nötigen politischen Reformen. An Teufelskreisen fehlt es in der Ukraine nicht. Dabei ist es trotzdem nicht so, dass es an der Reformfront keine Bewegung gäbe. Aber davon erfahren schon innerhalb der Ukraine zu wenige, eigentlich nur die unverdrossenen Aktivisten in Kiew. Und wir außerhalb müssen lange suchen, um an Informationen zu gelangen.

Die meisten Regierungen der EU wollen keine Waffen in den Ukraine-Krieg liefern. Sie glauben nicht, dass der Konflikt militärisch gelöst werden kann. Umso mehr müssen sie den ukrainischen Reformern politische Munition liefern, nicht zuletzt durch viel Öffentlichkeit für ihren politischen Krieg. Dasselbe gilt für unsere Medien. Sie könnten doch wenigstens die Hälfte ihrer Aufmerksamkeit dem Krieg für politische Reformen in dem krisengeschüttelten Land widmen. Sie können uns jene in der Ukraine nahebringen, die für Reformen kämpfen. Sie können Zusammenhänge erklären, die einordnen, was hinter dem Pulverdampf von Gipfeltreffen und dem Krieg im Osten vor sich geht.
Dann würden wir auch von Politikern hören, die Poroshenko mit ukrainischen Pässen ausstattete, damit sie Reformen voranbringen können. Ein Amerikaner führt deshalb das Finanzministerium und ein Litauer das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Handel. Die Georgierin Eka Zguladze war 27, als sie als Vizeminister des Inneren die georgische Polizei grundlegend veränderte. Nun mit 36 hat die ausgebildete Journalistin die gleiche Rolle in der Ukraine. Von solchen Erfolgen im Krieg um Reformen möchten viele Zeitgenossen gerne in unseren Medien lesen, sehen und hören.




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