Chaostage mit dem 9-Euro-Ticket

Das 9-Euro-Ticket galt als großer Wurf der Grünen. Auch FDP-Verkehrsminister Wissing und SPD-Kanzler Scholz feierten es als Erfolg. Doch das Wochenende bietet chaotische Bilder.

IMAGO / Political-Moments

Voll des Lobes war die Ampel-Regierung für ihren eigenen, vermeintlichen Genie-Streich: Sie wollte mit dem 9-Euro-Ticket einen Testballon starten, der Lust auf öffentlichen Nahverkehr machen sollte und zugleich die grüne Ideologie bediente. Ob Grüne, FDP, oder SPD: Durch die Reihen pries man den großen Andrang, den es beim Kauf gebe. Überall verbreiteten Politiker der Regierungsparteien die freudige Botschaft, wie viele der Tickets bereits verkauft seien. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk bejubelte diese Strategie.

Bedenken, dass der öffentliche Nahverkehr auf einen solchen Ansturm gar nicht vorbereitet sein könnte, nahm man in Berlin nicht wahr. Denn das hätte schließlich das Narrativ infrage gestellt, dass der ÖPNV auch das leisten kann, was man immer von ihm behauptet. Bahnkunden hatten sich im Vorfeld skeptisch gezeigt, ob die notorischen Pannen- und Verspätungszüge der Deutschen Bahn überhaupt fähig wären, den freudenvoll erwarteten Ansturm verkraften zu können.

— Kenneth (@kenneth_mp4) June 4, 2022

Die aktuellen Bilder und Berichte, die am Samstag in den sozialen Medien zirkulieren, geben eine eindeutige Antwort. Hatte zwei Jahre lang jede mangelnde Distanz in Bahngebäuden als Sakrileg gegolten, quetschten sich am Samstag die Menschen nah einander, als hätte es nie eine Corona-Krise gegeben. Der MDR berichtete am Nachmittag: „Nach Start des 9-Euro-Tickets und Beginn der Pfingstreisewelle ist es in Sachsen-Anhalt und Sachsen zu chaotischen Verhältnissen gekommen. Bundespolizei: In Stendal musste Regionalzug in Richtung Uelzen geräumt werden.“

Nur einer von vielen Fällen: Eine Bahnkundin beschwerte sich auf Facebook darüber, wegen der komplett überfüllten Züge mit dem Taxi gefahren zu sein. Als langjährige Pendlerin habe sie das Chaos kommen sehen, doch das, was sie gesehen habe, übertreffe ihre Erwartungen „beträchtlich“.

Auf Twitter lag das Hashtag „Sitzplatz“ im Trend. Eine Kundin überlegte, ob sie in Zukunft wegen der prallen Züge nicht besser auf das Auto umsteigen sollte. Die Leute seien wie Ölsardinen aneinandergedrängt. Aus Köln berichtet ein Augenzeuge: „Ich pendel ja jetzt seit neun Jahren berufsbedingt durch den Kölner Hauptbahnhof. Und ich habe es noch nie erlebt, dass ich die Treppe zu meinem Bahnsteig nicht hochgehen konnte. Noch nie!“ Die DB Regio Schleswig Holstein warnte davor, dass eine „Mitfahrt nicht garantiert“ werden könne.

Laut den Stuttgarter Nachrichten provozierte ein „hoffnungslos überfüllter Zug“, dessen Ziel der Bodensee war, sogar für einen Polizeieinsatz. „Durchseuchung in Reinform“ oder „gut, das Corona vorbei ist“ spotteten Bahnfahrer, während sie Bilder von vollen Bahnsteigen und Zügen posteten, die entweder Verspätung hatten, oder wegen Überbelegung nicht mehr betretbar waren. Die Bild-Zeitung berichtete indes, dass der geplante „Punk-Sturm“ auf Sylt tatsächlich anlaufe: „Statt feinen Damen mit Louis Vuitton-Taschen, die durch Westerland flanieren, und eleganten Herren, die mit ihrem Mercedes-Cabrio über die Insel brausen, lümmeln jetzt Punks in Fetzenjeans und Lederjacken auf den beliebten Promenaden herum.“

Nicht ohne Ironie ist es, wenn die Grüne Jugend-Bundessprecherin zugeben muss, dass die Züge überfüllt sind. „Für euch getestet: Die Züge sind wirklich extrem voll! Ich freue mich für jeden, der jetzt günstig von A nach B kommt“. Dazu der Rüffel in Richtung Koalitionspartner: „Hey Herr Wissing, wie wärs mit nem ordentlichen Ausbau von Bus und Bahn? Damit bald alle einen Sitzplatz finden LG vom Zugboden.“ Grüne Ideen sind eben toll, bis sie auf die Realität treffen. Der Schuldige ist man dann nicht selbst, sondern schiebt es den Liberalen in die Schuhe. Die Rollenverteilung in der Ampel funktioniert.

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