Warmherzig, wahrhaftig, witzig: „Mein Vater, der Markisenmann“

Eine ebenso feinfühlig wie humorvoll erzählte Geschichte einer besonderen Vater-Tochter-Beziehung, die ganz unaufdringlich von den existentiellen Themen Schuld, Sühne und Vergebung erzählt. Ein wunderschöner, unsentimentaler, leichtfüßig daherkommender Roman - ohne Belehrung und Zeigefinger, dafür mit viel Humor

Kim, Ende 15, notorische Schulschwänzerin, lebt mit Mutter, verhätscheltem jüngeren Halbbruder und Stiefvater – einem prahlerischen Selfmade-Millionär, der immer auf der Jagd nach dem nächsten großen Geschäft ist – im Kölner Nobelviertel Hahnwald. An ihren leiblichen Vater kann sie sich nicht erinnern, sie war zwei Jahre alt, als er die Familie verließ und hat ihn nie wieder gesehen, ihr blieb nur ein verwackeltes Foto. Sie nennt ihn „den Unscharfen“.

Zur Strafe für einen von ihr verursachten Unfall darf sie in den großen Ferien des Jahres 2005 nicht mit in den Familienurlaub nach Miami, sondern wird in zu diesem wildfremden Mann geschickt, den sie aufgrund der verblüffenden Ähnlichkeit mit sich selbst am Bahnsteig sofort erkennt, aber auch ziemlich seltsam findet. Er lebt in einer Halle im Industriegebiet von Duisburg, unweit des Rhein-Herne-Kanals und verkauft – sehr erfolglos – Markisen aus DDR-Restbeständen. Jedenfalls hat er bei seinem eher übersichtlichem Verkaufstalent Markisen für die kommenden 200 Jahre; bis eben seine Tochter auftaucht, nachrechnet und vor einem seltsamen Geheimnis steht: Warum versucht ihr Vater so freundlich wie vergeblich Unverkäufliches zu verkaufen?

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Das klingt bedrückend, ist aber so leicht und heiter erzählt, dass sich unmittelbar große Zuneigung für die Figuren (zu denen auch ein Kneipier, ein Hilfsarbeiter, ein Frührentner, ein Mechaniker und ein russisch-tunesischer Einwanderer-Sohn gehören) und tiefes Verständnis für deren Beweggründe einstellen – wobei man zugleich auf höchstem Niveau unterhalten wird.

Jan Weiler hat seine Meisterschaft, Geschichten von Außenseitern und ihren meist schwierigen Schicksalen humorvoll zu erzählen, viele Male bewiesen.

Neu ist, dass er die Geschichte vom Markisenmann aus weiblicher Perspektive, von der Hauptfigur erzählen lässt. Darauf angesprochen, antwortet er amüsiert: „Handelt es sich dabei also um einen Akt kultureller Aneignung, ist es übergriffig, wenn ein Mann eine Geschichte aus einer weiblichen Perspektive schildert? Ich finde, das ist es nicht. Es ist einfach eine künstlerische Notwendigkeit.“

„Der Markisenmann“ ist auch eine Zeitreise in die jüngere Vergangenheit, die vor Augen führt, dass wir vor Einführung des Smartphones in einer völlig anderen Welt gelebt haben – so wie der Markisenmann, der dabei auf seine modern ausgestattete Tochter trifft, die auch mit dem Navi vertraut ist.

Und er erzählt ganz unaufdringlich von den existentiellen Themen Schuld, Sühne und Vergebung. Vor allem aber ist es eine ebenso feinfühlig wie humorvoll erzählte Geschichte einer besonderen Vater-Tochter-Beziehung. Und es ist eine deutsch-deutsche Geschichte, denn Duisburg, weit da draußen im Westen, ist die Endstation einer Reise aus den historischen Tiefen der DDR.

Das Buch ist äußerst liebevoll und schön gestaltet, der strukturierte Einband Markisenstoff nachempfunden („Muster Mumbai“) das mehrfarbige Vorsatzpapier („Muster Kopenhagen“) mit Klappen versehen – und so öffnet sich schon beim Aufschlagen der Vorhang zu einem besonderen Roadmovie.

Jan Weiler, Der Markisenmann. Roman. Heyne Verlag, 336 Seiten, 22,00 €.


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