Der 8. Mai 1945, der Tag, an dem die Wehrmacht kapituliert hat, gilt als „Stunde Null“ der deutschen Geschichte. Danach beginnt die Jetzt-Zeit. Aber ist es so? Tatsächlich beginnt das neue Deutschland mit einer „Wolfszeit“.

Stillstand. Eingefrorene Bilder, eingefrorene Zeit. Das Alte weg, das Neue noch nicht da. So sieht man vielfach auf die Zeitenwende, die sich mit den Panzern der Amerikaner von Westen und vom Osten mit den Kolonnen der Roten Armee durch Deutschland wälzt, bis im Mai überall das Schießen aufhört, die Hakenkreuze verschwinden – und wie es weitergeht, ist offen. Aber Menschen haben keine Auszeit.
Das Leben geht weiter, irgendwie. Von der „Niemandszeit“ war die Rede, von der „Wolfszeit“, in der „der Mensch dem Menschen zum Wolf“ geworden war, in der sich jeder nur um sich selbst oder sein Rudel kümmerte.
Aber wie haben die Menschen tatsächlich gelebt?
Auf der Straße. Über die Hälfte der Menschen in Deutschland waren nach dem Krieg nicht dort, wo sie hingehörten oder hinwollten, neun Millionen Ausgebombte und Evakuierte, vierzehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zehn Millionen entlassene Zwangsarbeiter und Häftlinge, Abermillionen Kriegsgefangene, die schrittweise entlassen wurden, „DPs“ im denglischen Jargon, „Displaced Persons“, Verschleppte, Versprengte, Entkommene, Übriggebliebene, früher Mächtige, die jetzt Versteckte suchten oder der eigenen Vergangenheit entkommen wollten.
Menschen lebten in Ruinen, Zügen, Zelten, Barracken und Nachtclubs. Das ist das Faszinierende an dem Buch von Harald Jähner mit dem Titel „Wolfszeit“, der nicht nur das Elend beschreibt, er besingt das Leben neben dem Tod, in den Ruinen, in der Verzweiflung. Er beschreibt die Tanzlokale, in denen schon bald die Lebenslust tobt; woran es mangelt, sind richtige Männer, denn die sind verschollen, verkrüppelt oder im Lager irgendwo in Europa oder Sibirien.
Aber die Mädchen tanzen. „Hört man genauer hin, vernimmt man das Lachen. Durch das gruselig entvölkerte Köln führt 1946 schon wieder ein spontaner Rosenmontagszug“: Man wundert sich, ahnt aber, dass dort vermutlich mehr Lachen war als bei den bierernsten Honoratioren-Veranstaltungen heute im überheizten Gürzenich, der wiederaufgebauten Festhalle des amtlichen Karnevals.
Gute Bücher sind zeitlos. „Wolfszeit“ – bereits 2019 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet – ist so eines. Gerade jetzt, 80 Jahre nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands, nach der Befreiung der Überlebenden in den Konzentrationslagern, der Konfrontation mit der Schuld und ihrer Verdrängung, nach der gewaltigsten Binnenmigration, die Deutschland je erlebt hat, nach Hungerwintern, hamstern, fringsen, durchschlagen und „Rama Dama“, ist ein goldrichtiger Zeitpunkt, sich mit der Zeit unmittelbar nach Kriegsende und dem darauf folgenden Jahrzehnt zu beschäftigen.
„Wolfszeit“ hat Harald Jähner diese Dekade und sein Buch darüber benannt und der Begriff weckt sofort zutreffende Assoziationen. Ihm ist eine große Mentalitätsgeschichte dieses rauen, wilden Jahrzehnts von der „Stunde Null“ bis zum „Wirtschaftswunder“ gelungen, das entscheidend für die Deutschen war und in vielem ganz anders, weitaus vielfältiger, als wir heute oft glauben.
Zitat aus dem Vorwort (hier in Gänze als „Kostprobe“ – für die Lektüre des gesamten Buches zu lesen):
„Unser Eindruck von den Nachkriegsjahren ist geprägt von der Sicht der damals Jungen. Die Empörung der antiautoritären Kinder über die nur unter größten Schwierigkeiten zu liebende Elterngeneration war so groß, ihre Kritik derart eloquent, dass der Mythos vom alles erstickenden Muff, den sie erst einmal zu vertreiben hatten, das Bild der fünfziger Jahre noch immer dominiert, trotz differenzierter Forschungsergebnisse. Die Generation der um 1950 Geborenen gefällt sich in der Rolle derer, die die Bundesrepublik bewohnbar gemacht und die Demokratie mit Herz erfüllt haben, und sie belebt dieses Bild immer wieder auf Neue.
Tatsächlich konnte einen die starke Präsenz der alten NS-Elite in den Ämtern der Bundesrepublik mit Abscheu erfüllen, desgleichen die Hartnäckigkeit, mit der die Amnestierung von NS-Tätern durchgesetzt wurde. Dass die Nachkriegszeit dennoch kontroverser, ihr Lebensgefühl offener, ihre Intellektuellen kritischer, ihr Meinungsspektrum breiter, ihre Kunst innovativer, der Alltag widersprüchlicher war, als die Vorstellung von der Zeitenwende 1968 es bis heute glauben macht – das war während der Recherche für dieses Buch immer wieder zu entdecken.“
„Wolfszeit“ ist eines meiner Lieblingsbücher der letzten Jahre. Es ist schonungslos ehrlich, manchmal grausam, wenn es zum Beispiel die Hilfsmittel benennt, deren sich Männer bedienen mussten, um die zerstörte Lust zu simulieren. Es zeigt aber auch, dass das Leben weitergeht, anders, irgendwie, und ständig stellt sich die Frage: Wo haben diese Millionen unterwegs geschlafen? Was haben sie gegessen? Was hat sie aufstehen lassen am Morgen, feucht, kalt, grau, ohne den Weg zu kennen, außer dem, überleben zu wollen?
„Ich will nicht bezaubernd sein, ich brauche Geld“, verkündet die junge Abiturientin in dem Film „Morgen ist alles besser“ von 1948 einem älteren Herrn, der sie anmacht auf eine Art, die heute als sexualisierter Übergriff geahndet werden würde. Der Körper wurde zur letzten Tauschware gegen eine Überlebensration – und die kräftigen GIs mit Lucky Strikes konnten lachen, verhießen Lebenslust und Leichtigkeit. Es war die Zeit der illusionslosen Frauen, die irgendwie Kinder und Eltern durchbringen mussten, während der Wartezeit auf Männer, die demoralisiert, traumatisiert, verkrüppelt waren, die Gewalt um sich verbreiteten (deren Opfer auch sie geworden waren).
Übergriffige Soldaten, Massenvergewaltigungen, massenhafte Abtreibungen, herumziehende Kriminelle, Veteranen ohne Zuhause, entlassene Zwangsarbeiter mit Rache im Bauch und Männer mit Dachschäden aller Art machten den Alltag für Frauen lebensgefährlich. Irgendwie haben sie überlebt.
Am Anfang war das Chaos. Aber diese Schöpfungsgeschichte ist bislang kaum beschrieben. Ihre Akteure, die Frauen, die klauenden Kinder, die kaputten Väter, die Heimatlosen, die Verkrachten, die Vertriebenen, die Herumirrenden, nicht mehr viele können erzählen, es wird verdrängt.
Aber es war der Anfang des Landes, in dem wir so feist und fett und abgesichert leben auf dem erlebten und verschwiegenen Elend einer Generation – über die streng geurteilt wird, und meistens vernichtend.
Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 10. Auflage, November 2024, 480 Seiten, mit zahlreichen schwarzweiß Fotos, 20,00 €.
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„Aber wie haben die Menschen tatsächlich gelebt? Auf der Straße.“ Der Punkt hinter „Straße“ suggeriert Ausschliesslichkeit. „Menschen lebten in Ruinen, Zügen, Zelten, Barracken und Nachtclubs.“ War’s das? Nein. Ich wurde 1948 als erstes Kind einer ehemaligen Sekretaerin und eines aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien gefluechteten Wehrmachts-Offiziers geboren, die mit nichts anderem als ihrer ungebrochenen Lebenskraft und ihres Mutes ein neues Leben fuer ihre junge Familie begannen. In einem kleinen, selbstgebauten Haus. Der Vater schweisste anfangs Stahlhelmen Stuetzen an und verkaufte oder tauschte sie als Kochgeschirr, die Mutter wusch, naehte und putzte fuer andere. Mit Fluechtlingen aus Ostpreussen organisierten sie eine… Mehr
Ihre Rezension, Herr Tichys, ist noch viel zu harmlos. Ohne die Perversion der Geschichte, die wachsende kaltkriegerische Bedrohungslage durch Stalin, wären nach dem Krieg nicht nur ein paar Mio. von uns verhungert. Ihre Plattform hier & uns gäbe es wohl alle nicht, Amerika sei Dank.
Amerika sei Dank?
Den Amis haben wir mit ihren „B52“ dieses Buch zu verdanken sonst nichts!
Zugegeben, der schwarze Zynismus ist nicht jedermanns Sache. Der Kanadische Autor James Bacque wurde, wegen Seiner Zahlen Deutscher Nachkriegsopfer nieder gemacht, obwohl Er schlicht als Quelle die in Deutschland üblichen Melderegister, völlig berechtigt, als Quelle nutzte. Gekaufte Historiker, wie Guido Knopp, mußten das dann relativieren. Man muß einfach nur unsere Umerziehungs-Schulbücher genau lesen. Der Marshall-Plan wurde erst 1947 implementiert, der laut der entsprechenden ARTE-Doku von uns Deutschen selbst bezahlt wurde. Bis dahin galt der Morgenthau-Plan, der eine Reduktion unserer damals noch lebenden Bevölkerung um 3/4 durch vollständige Deindustrialisierung vorsah. Wir hungerten. Der Morgenthau-Plan ließ sich deshalb nicht durchhalten, weil im… Mehr
Dann lag ich also mit meiner Antwort nicht ganz falsch, oder? 🤝
Schreiben ist besser als nichts. Roland Tichy ist im Stil & Talent immer noch einer der besten Schreiberlinge Deutschlands im Journalismus. Götz Kubitschek ist der Meister der Kürze im Geschriebenen. Da kommt kein Linker/Liberaler mit. Als normal sterblicher Kommentarschreiber muß man sich ab & an Zeit auch für die einzelne Korrespondenz nehmen, um Mißverständnisse auszuräumen.
…und aus den Herrenmenschen von damals sind hehre Menschen geworden. Aber nur die da Oben, versteht sich. Das Volk? Das würde morgen schon wieder den Adolf wählen, wenn es könnte und er wiederrr da wärrre. Diesen Anfängen bzw. Kontinuitäten müssen die hehren Menschen bis ins siebte Glied wehren. Das sie Fleisch vom Fleische dieses Volkes sind, egal. Wenn dereinst Genetiker sich an die Entschlüsselung dieses Stammes machen werden, wetten, daß sie ein „Nach-Oben-Buckeln-nach-Unten-Treten-Gen“ ausfindig machen werden? Vor ein paar Tagen mit einem mir nicht bekannten älteren Herrn beim Einkaufen auf die Teuerung zu sprechen gekommen. Er sei froh, daß er… Mehr
Habe kürzlich etwas auf einem Plakat gelesen:
„Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“
Ihr Text erinnert irgendwie daran.
Klingt sehr wie die übliche Überfokussierung auf das großstädtische Leben. Die Häuser meiner Großeltern und der Schwiegergroßeltern sind alle Vorkriegsbauten und seit ihrer Errichtung in Familienbesitz. Da war gar nichts passiert und auch keinem Nachbarn rundherum was. Nichts mit obdachlos, dank des Besitzes von mindestens ordentlichen Hausgärten oder Häuslerwirtschaften auch nichts mit großem Hunger. Sehr luxuriös haben die (Bauern, Handwerker, Arbeiter) in den 40ern eh nicht gelebt, aber der Rieseneinschnitt waren weder Krieg noch Nachkrieg. Dazu noch eine Anekdote zu einer späteren Lebensgefährtin meines Vaters, die gegen Kriegende um die 20 war und ein Großstadtgewächs. Da kam die Rede drauf,… Mehr
> Der 8. Mai 1945, der Tag, an dem die Wehrmacht kapituliert hat, gilt als „Stunde Null“ der deutschen Geschichte.
In Flensburg überlebte das Dritte Reich zwei Wochen länger – insbesondere die Briten hatten viel Gefallen an der Idee eines NS-Verbündeten für geopolitische Spiele. Die Amis waren schon skeptisch und die Sowjets drohten, Fallschirmjäger zu schicken – so wurde der Spuk doch beendet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Regierung_D%C3%B6nitz
Das gleiche Konzept scheinen die Briten übrigens gerade zu wiederholen, weiter im Südosten Europas.
Man müsste Putin ja fast dankbar sein wenn er vielleicht doch endlich die britische Insel in Schutt und Asche legt.
Nahezu alle lebenden Menschen, die sich als Deutsche bezeichnen, glauben, weder mit den Geschehnissen zwischen 1933 und 1945 etwas zu tun zu haben, wie auch mit der gesamten deutschen Geschichte vor 1945.
Die Gründe hierfür dürften sich ungefähr gleichverteilen auf den Wunsch, keine wie auch immer geartete Schuld tragen zu müssen wie auch die gesellschaftliche Geschichtsvergessenheit, welche mutmaßlich auf ähnlichem Motiv fußt.
„Das vergangene Geschehen ist keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist“ – Alfred Großer
„Wunsch, keine wie auch immer geartete Schuld tragen zu müssen“ Um 05/1945 auch nur schon gelebt zu haben, muss man mindestens 80 Jahre alt sein, für Schuld geht also unter ca. 100 Jahren nix. Wen soll das also noch betreffen, außer im sehr Indirekten … so wie die Verantwortung jedes Menschen dafür ein „ordentlicher“ Mensch zu sein. Die Nummer mit dem „etwas damit zu tun haben“ wird zwar immer bemüht, sie wird aber immer untauglicher dabei, irgendwem irgendwas abzuverlangen. Ich kann in die Familiengeschichte schauen wie ich will, das waren kleine Leute am Rande Deutschland. Die waren vor dem 3.Reich… Mehr
Solange keine freie Wissenschaft zu unserer Geschichte möglich ist, kann man nur schweigen. Man muß einem Historiker wie David Irving ja nicht beipflichten. Aber, wenn man solch einen andersdenkenden Briten in Österreich für 3 Jahre inhaftiert, wird das nichts mit einer entpolitisierten Debatte, sie wird quasi getötet.
Einerseits haben die heutigen Deutschen meist tatsächlich mit den Geschehnissen 33-45 nichts zu tun, andrerseits machen sie großteils mit den Geschehnissen, ich würde es als Schwachsinn bezeichnen, seit spätestens 2020 mit. Angefangen mit der Klimakrise (belegt erfunden 1986 auf einer Yachtclubparty in Key Largo), über woken Genderschwachsinn, Covid Hysterie samt schädlicher Genmanipulation (ebenfalls erwiesen), sog. Willkommenskultur bis zur Selbstzerstörung mit.
Was also läuft falsch, im deutschen Gehirn?
Dann wären nahezu alle lebenden Deutschen ja intelligent, wer lässt sich schon von hochgradig kriminellen und kriegsverbrecherrischen Tod Feinden, die nachträglich die Geschichte schreiben, Schuldgefühle einreden?