Die Kriegsverluste und das Dilemma des Wehrdienstes in der russischen Armee

Aus Putins Überfall ist ein festgefahrener Krieg geworden. Die Russen leiden unter Organisationsschwächen, weil sie Wehrdienstleistende nicht einsetzen wollen oder können. Der 1. April dürfte ein entscheidendes Datum werden.

IMAGO / Cover-Images
Ein russischer Panzer explodiert – das Bild veröffentlichte die ukrainische Armee am 15. März 2022.

Seit vielen Tagen ähneln sich die Nachrichten und Analysen über den militärischen Kampf in der Ukraine. Sie beginnen meist mit einem Satz wie diesem vom britischen Verteidigungsministerium am heutigen 18. März: „Die russischen Streitkräfte haben minimale Fortschritte gemacht in dieser Woche.“ Den ukrainischen Kräften gelingt es weiterhin, die vollständige Umzingelung der Hauptstadt Kiew zu verhindern. Kharkiv, Chernihiv, Sumy and Mariupol bleiben eingekesselt, werden beschossen. 

🇺🇦 #StandWithUkraine 🇺🇦 pic.twitter.com/CGXYNXHMWC

— Ministry of Defence 🇬🇧 (@DefenceHQ) March 18, 2022

Aus dem russischen Überfall ist ein festgefahrener Krieg geworden, in dem sich die Positionen der gegnerischen Streitkräfte nur noch wenig bewegen, weil dem Angreifer ganz offensichtlich die militärische Kraft, vermutlich sowohl materiell und personell, fehlt für große raumgreifende Offensiven.

Vieles spricht mittlerweile dafür, dass die Vorteile der angegriffenen Ukraine in diesem Krieg mittlerweile an Bedeutung zunehmen: Dazu gehört nicht zuletzt der große Kampfeswille ihrer Soldaten. Die Ukraine kann womöglich auf mittlere Sicht sogar mehr Soldaten einsetzen als der russische Aggressor. Die Bevölkerung steht in erstaunlicher Geschlossenheit zu ihrem Präsidenten Selenskyj und die Armee kann auf Wehrpflichtige und Freiwillige zählen – im Gegensatz zu Putin. 

Eine volle Mobil­ma­chung Russ­lands, also auch der unbeschränkte Einsatz von Wehrdienstleistenden würde zwar zu einer erdrückenden Übermacht Russlands auf dem Schlachtfeld führen und, so der österreichische Ex-Offizier und Militärexperte Gustav C. Gressel,  „den Krieg zuun­guns­ten der Ukraine ent­schei­den, aber womög­lich auf Kosten der Regime­sta­bi­li­tät in Moskau“. Ob Putin es darauf anlegt, ist fraglich.

Gressel analysiert für die Stiftung Liberale Moderne  (des Grünenvordenkers Ralf Fücks) die Schwierigkeiten der russischen Armee, die sich daraus ergeben, dass Wehrdienstleister aus den Kämpfen herausgehalten werden sollen. Die Tatsache, dass von jedem russischen Regiment nur eine Batail­lons­kampf­grup­pe eingesetzt wird, weil nur je ein Bataillon und Teile der Unterstützungseinheiten (Artillerie, Pioniere usw.) keine Wehrdienstleister hat, macht die Führung größerer Einheiten kompliziert. Und sie erklärt, warum die Russen sich so schwer tun, Angriffe durchzuführen, die über die Bataillonsebene hinausgehen.

Mit dem russischen System der Bataillonskampfgruppen lässt sich rasch eine Drohkulisse an der Grenze aufbauen oder kurze, handstreichartige Schläge führen – wie 2008 in Georgien, aber nicht so leicht ein umfassender Krieg, in dem große Einheiten in Divisionsstärke ausgedehnte Landgebiete und ganze Städte gegen einen gut organisierten Gegner einnehmen müssen. Die jetzt verfügbare Truppe, so folgert Gressel, „reicht zur Fort­set­zung des Krieges, aber nicht, um unmit­tel­bar eine stra­te­gi­sche Ent­schei­dung zu erzwingen“.

In dem Krieg, wie er sich nun entwickelt, kann Putins Russland deswegen immer weniger Hoffnung haben, mit schnellen Offensiven entscheidende Orte einzunehmen und der ukrainischen Armee schnell entscheidende Niederlagen beizubringen, die die Ukraine zum Aufgeben zwingen würde. Stattdessen geht es nun für beide Seiten darum, den Gegner zu ermatten und zu demotivieren, indem man ihm empfindliche Verluste zufügt und demonstriert, dass man selbst den längeren Atem hat. Auf russischer Seite geschieht dies auch durch Raketenangriffe auf zivile Ziele in den belagerten Städten und teilweise auch auf Ziele weit weg von der Front, wie zuletzt mehrfach im Raum Lemberg (Lwiw). 

Je länger der Krieg dauert und je mehr junge Russen in ihm sterben, desto schwerer dürfte es dem Moskauer Regime fallen, die eigenen Soldaten zum Kämpfen zu motivieren. Sehr viele Indizien weisen darauf hin, dass das schon jetzt sehr schwer fällt – nicht zuletzt die Tatsache, dass nun schon mehrere russische Generalmajore gefallen sind. Sie sahen sich offenbar in der Pflicht, „von vorne“ zu führen, um ihre Soldaten anzutreiben. Auch das ist offensichtlich gescheitert.

Für Russland sei, so Gressel, der 1. April ein entscheidendes Datum: „An diesem Ein­rü­ckungs­ter­min rücken nicht nur hun­dert­tau­sende Wehr­pflich­tige in die Armee ein, sondern schei­den auch ebenso viele wieder aus (im preu­ßi­schen Mili­tär­jar­gon ‚aus­mus­tern‘ genannt). Diese werden für Ver­trags­ver­hält­nisse in der Armee ange­wor­ben, um sie in den Krieg schi­cken zu können.“ Gressel rechnet nach diesem Datum mit einer „qua­li­ta­ti­ven und quan­ti­ta­ti­ven Ver­bes­se­rung der rus­si­schen Lage“. Allerdings könnte es auch zunehmend schwerfallen, ausreichend Wehrdienstleister zu gewinnen, die bereit sind, sich als Zeitsoldaten zu verpflichten. Dafür wird es darauf ankommen, wie glaubwürdig die russische Propaganda wirkt.

Für die ukrainische Seite ist es nicht nur operativ wichtig, den Russen Verluste zuzufügen, sondern vor allem, dass diese öffentlich werden. Deren Dokumentierung, etwa durch die Internetseite oryx, ist darum von großer Bedeutung. Die Zahlen sind erschütternd und die Bilder dazu zu sehen noch mehr: Die Russen verloren – Stand 18. März 14 Uhr – demnach mindestens 1520 Fahrzeuge, 703 davon zerstört. Da die meisten Besatzungsmitglieder zerstörter Fahrzeuge zumindest verwundet, in vielen Fällen auch gefallen sein werden, kann man also allein daraus eine mittlere vierstellige Zahl Gefallener und Verwundeter folgern. Und da geht es nur um in Bildern dokumentierte Verluste. Je mehr von diesen Zahlen und Bildern zur russischen Bevölkerung durchdringt, desto schwächer dürfte der Rückhalt für Putins Krieg unter den Russen und erst recht russischen Soldaten werden. 

Dass bei oryx „nur“ 379 Fahrzeugverluste der Ukrainer dokumentiert sind, muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Ukrainer weniger Tote und Verwundete zu beklagen haben als die Russen, sondern dürfte auch damit zusammenhängen, dass die ukrainische Armee sehr viel weniger motorisiert und gepanzert ist und ihre Soldaten daher zu einem größeren Teil abgesessen infanteristisch kämpfen. 

Wie auch andere Militärexperten kommt Gressel zu einem für die Ukraine relativ optimistischen Fazit. Sie habe „die Chance, Russ­land in einen Ermat­tungs­frie­den zu zwingen, ähnlich wie das Finn­land 1939/40 im Win­ter­krieg gelang“. Doch dazu brauche sie „drin­gend west­li­che Unterstützung“. Er rät vor allem zur Lieferung von Waffen und Ausrüstung sowjetischer Bauart aus Beständen der mittelosteuropäischen Nato-Länder, da die ukrainischen Soldaten an diesen bereits ausgebildet seien. Es müsse mit Blick auf den 1. April das Ziel des Westens sein, „ in der noch ver­blie­be­nen Zeit die ukrai­ni­sche Armee soweit zu unter­stüt­zen, dass die diesem neuen Angriff stand­hal­ten kann und durch schnelle, harte und breite Sank­tio­nen die rus­si­sche Wirt­schaft vor diesem Datum lahmzulegen“.

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