Leipziger Forscher kam Wirecard schon früh auf die Spur

Was mit großen Behörden gemacht werden muss, die nur noch Eigenleben führen und nicht mehr kontrolliert werden können, führte der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer 1994 in einem Aids-Skandal vor: Er löste die Mammut-Behörde Bundesgesundheitsamt kurzerhand auf.

imago Images/Sven Simon

Es war eine illustre Runde, die sich am 17. September 2019 im Frankfurter Restaurant „Main Nizza“ traf. Der Blick auf den Garten und den Main ist einer der schöneren in der Stadt, der Sekt sprudelte, und die Stimmung war prächtig. Das renommierte Bankhaus Metzler hatte zusammen mit dem Manager Magazin die Elite deutscher börsennotierter Unternehmen an den Main gebeten. Die Herren im dunklen oder grauen Anzügen und die wenigen Damen in Business-Kostümen genossen ihre Auszeichnungen in einem Wettbewerb namens „Investor‘s Darling“.

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Den Preis erhält, wer besonders gute Unternehmensberichte vorlegt und auf allen Wegen, besonders auf dem digitalen, mit Analysten, Investoren, Journalisten und der restlichen Außenwelt kommuniziert. DAX-Unternehmen wie Vonovia, Covestro und Merck wurden für ihre Finanzkommunikation geehrt. Vom damaligen eigentlichen Börsenliebling vieler deutscher Anleger, vom Zahlungsdienstleister Wirecard aus Aschheim bei München, war auf den Mainterrassen allenfalls in Vier-Augen-Gesprächen die Rede. Dabei wäre der inzwischen in Insolvenz befindliche Zahlungsdienstleister durchaus preiswürdig gewesen – für Berichte mit den vermutlich größten Lücken und die schlechteste Kommunikation unter den untersuchten Aktiengesellschaften.

Professor Hennig Zülch, Lehrstuhlinhaber für Rechnungswesen, Wirtschaftsprüfung und Controlling an der HHL Leipzig Graduate School of Management, hatte für die Preisverleihung alle 160 Unternehmen aus DAX, MDAX und SDAX zum sechsten Mal „einer tiefgreifenden Analyse der Kommunikationsqualität in den Bereichen Reporting, Investor Relations und Capital Markets“ (Metzler-Pressetext) untersucht, Wolfgang Nickl von der Bayer AG in seinem Vortrag die „Signifikanz einer offenen und klaren Kommunikation für den Geschäftserfolg“ beschworen. Zülchs Untersuchungsergebnisse über Wirecard kamen erst jetzt zu Tage und werfen die Frage auf, warum Leipziger Wissenschaftler nach dem Studium öffentlich zugänglicher Materialien das sich abzeichnende Drama bei Wirecard bereits im Visier hatten, als Wirtschaftsprüfer sich noch weitgehend ahnungslos gaben und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) den britischen Whistleblower von der Financial Times (FT) anzeigte, der zu ähnlichen Schlüssen wie die Leipziger Forscher kam.

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Fazit der Untersuchung von Professor Zülch: „Der Bereich Reporting wies bei Wirecard sowohl im Geschäftsbericht als auch in den Zwischenberichten gerade im Bereich der Financials (der Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage) und der Prospectives (der zukunftsweisenden Darstellung der Entwicklung des Unternehmens) Defizite auf … Beispielweise wurden in der Ertragslage keine detaillierten Informationen sowie Erläuterungen zu den wesentlichen Einflussfaktoren der Entwicklung des Umsatzes oder anderer hochrelevanter Ergebniskennzahlen dargestellt. Dabei sind Ausführungen zu diesen Kennzahlen sowohl auf Konzern- als auch auf Segmentebene einfach zu berichten und bieten den Adressaten des Geschäftsberichtes beachtlichen informativen Mehrwert. Die Zwischenberichte von Wirecard gingen genauso wenig detailliert wie der Geschäftsbericht auf die Entwicklung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ein, da die bereitgestellten Informationen auf das Notwendigste reduziert worden sind. Ähnlich reduziert fielen die Aussagen zur künftigen Entwicklung des Unternehmens aus. So wurde nur auf eine Ergebniskennzahl eingegangen und weitergehende Informationen über die erwartete Entwicklung von Wirecard fehlten vollständig. Dabei haben die Aussagen zur erwarteten Entwicklung eine wichtige Bedeutung zur Bewertung der Zukunft des Unternehmens. Durch das Fehlen dieser so bedeutsamen Informationen können die Zwischenberichte nicht ihre genuine Update-Funktion erfüllen.“ Und ausgerechnet das Tech-Unternehmen Wirecard landete im Vergleich der digitalen Kommunikation aller Unternehmen auf dem letzten Platz.

Zülch sagt heute: „Wieder einmal bewahrheitet sich am Fall Wirecard die These: Restriktiv berichtende Unternehmen haben häufig etwas zu verbergen.“ Auch der FT-Whistleblower Dan McCrum erklärte in einem Interview mit finanz-szene.de, dass es verhältnismäßig einfach war, Wirecard auf die Schliche zu kommen: „Die Zahlen passten einfach nicht.“

Zu dem Zeitpunkt, als Zülchs Mitarbeiter die Wirecard-Unterlagen sichteten, müssen diese Unterlagen auch bei der BaFin in Bonn gesichtet worden sein. Die Finanzaufsicht hatte sogar noch mehr Informationen, die ihr Anfang 2019 von anonymer Seite über Wirecard zugesteckt worden waren und die offenbar nicht Gutes verhießen. Parallel dazu gab es die sehr kritischen Berichte in der Financial Times“. Die deutsche Aufsicht kam aber zu ganz anderen Schlussfolgerungen, wie ihr Präsident Felix Hufeld in einer Sitzung des Bundestags-Finanzausschusses erzählte.

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Hufeld holte das „schärfste Instrument“ mit Blick auf Bilanzfragen hervor und ließ die Wirecard-Unterlagen an die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) mit Bitte um Bilanzprüfung schicken. Dies entspreche dem zweistufigen System der Bilanzkontrolle, legte Hufeld im Ausschuss dar. Erste Stufe sei die DPR. Solange die DPR prüfe, sei es der BaFin nicht gestattet, selbst tätig zu werden. Wenn der DPR-Prüfbericht vorliege, habe die BaFin das Recht, den Fall an sich zu ziehen. Da die DPR im Schnitt 13,5 Monate für einen Prüfvorgang braucht und das Prüfergebnis zu Wirecard bisher noch nicht vorliegt, konnten Hufeld und seine rund 2.800 BaFin-Mitarbeiter bisher auch nichts machen – jedenfalls nach eigenen Angaben. Den Fall Wirecard waren sie aber erfolgreich los geworden, während Anleger in Wirecard-Aktien und –Derivaten inzwischen einen Schaden in zweistelliger Milliardenhöhe haben.

Im Bundestag zeigte sich Frank Schäffler (FDP) entsetzt: „Die BaFin hat nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt.“ Schäffler widersprach Hufeld, dass die BaFin nicht hätte eingreifen können. Sie hätte seiner Ansicht nach sogar eingreifen müssen, nachdem die DPR unverhältnismäßig lange für die Prüfung gebraucht habe. Auch Danyal Bayaz (Grüne) kritisierte Regierung, Finanzaufsicht und Prüfer wegen „kollektiver Unverantwortlichkeit“.

Finanzminister Olaf Scholz (SPD) lässt die Kritik kalt. Für ihn hat die BaFin ihren Job gemacht – eine Aussage, die den sonst so besonnenen CDU-Abgeordneten Matthias Hauer im Bundestag wütend werden ließ. Hufeld, der in allen Gremien und in der Öffentlichkeit immer so schön erzählen kann, warum Pleiten wie Prokon (Windräder) und P&G (Container) nicht rechtzeitig entdeckt werden und dass Anleger leider nicht vor Schaden bewahrt werden konnten, bleibt weiter im Amt. Er soll nach dem Willen von Scholz noch mehr Zuständigkeiten und noch mehr Personal erhalten.

Scholz‘ Ausbaupläne für die BaFin entsprechen altem sozialistischen Denken, wonach große Behörden auch Großes leisten, und sollten große Behörden versagen, kann das nur daran liegen, dass sie nicht groß genug sind. Was mit großen Behörden gemacht werden muss, die nur noch Eigenleben führen und nicht mehr kontrolliert werden können, führte der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) 1994 in einem Aids-Skandal vor: Er löste die Mammut-Behörde Bundesgesundheitsamt kurzerhand auf.

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Kommentare ( 16 )

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humerd
3 Jahre her

mich erinnert das immer wieder an den Cum Ex Skandal. Da versagten die Behörden und die Bundesfinanzminister kollektiv.: „Bereits im vergangenen Jahr berichteten die ZEIT, ZEIT ONLINE und das ARD-Magazin Panorama über Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte. Sie beschrieben, wie Banker, Berater und Anwälte über Jahrzehnte den deutschen Staat plünderten. Wie der es sich gefallen ließ. Und erst eine hartnäckige Sachbearbeiterin aus dem Bundeszentralamt für Steuern sich schließlich weigerte, das Geld auszuzahlen. “ https://www.zeit.de/2018/43/cum-ex-steuerbetrug-aktiengeschaeft-europa-finanzpolitik
Der Unterschied: bei Wirecard wurden „nur“ die Anleger geprellt, bei Cum Ex werden die Steurzahler um Milliarden geprellt.

horrex
3 Jahre her

Obiger Artikel lässt sich GANZ kurz zusammenfassen.
Es ist wie so oft: Staat, bzw. seine Institutionen, haben sich in dem von ihene selbst geschaffenen) „Vorschriften- Gesetzes- und Ausführungsbestimmungen-Djungel“ gründlichst verirrt. – Milde ausgedrückt: „Ineffiziemz vom Feinsten“! –
Oder in Abwandlung von Montesquieus Satz:
Eine Behörde die man nicht u n b e d i n g t braucht,
die braucht man UNBEDINGT n i c h t !!!

Wolfgang Richter
3 Jahre her

Wenn der Finanzjongleur Finanzministeröffentlich verkündet, daß „seine“ BaFin in der Causa „Wirecard“ quasi alles richtig gemacht habe, dann sollte „uns“ in Bezug auf den Bundeshaushalt unter seiner Leitung Angst und Bange werden. Er hat nur den Vorteil gegenüber den „Wirecardlern“ , daß er bezüglich fehlender Milliarden, demnächst Billionen, einfach einen Druckauftrag gibt. Aber besser wird damit nichts.

TransgenderRechtspopulist
3 Jahre her

Korrekturhinweis:

“ P&G (Container)“

Die hier gemeinte Firma heißt P&R

https://de.wikipedia.org/wiki/P%26R-Gruppe

bkkopp
3 Jahre her

Lange vor den Aufsichtsbehörden und der Öffentlichkeit kommen der Aufsichtsrat und die Wirtschaftsprüfer. Es ist denkbar, dass den WPs der Prüfauftrag sehr geschickt auf ein gesetzliches Minimum beschränkt war, auch in der Bezahlung der Prüfarbeiten, und dass sie sich deshalb mit Vollständigkeitserklärungen der Geschäftsführung zufrieden gegeben haben. Es scheint, dass niemand das angebliche “ Geschäft “ verstanden hat, und sich mit geschickten Antworten und Treuhandkonten bei philippinischen Banken zufrieden gegeben hat. Das mußte eigentlich schon zum Himmel gestunken haben als die Konten nur, angeblich, eingerichtet waren, und bevor dort nennenswerte Gelder geparkt sein sollten. Die nächste Kontrollebene hätten die Gläubigerbanken… Mehr

Tizian
3 Jahre her

Politiker und Beamte haben Hand in Hand dieses Land gekapert, schützen und protegieren sich gegenseitig wo sie können und sind praktisch nicht zur Verantwortung zu ziehen. Ein Paradies für diese Leute.

Christian aus Hessen
3 Jahre her

Tja das Problem ist nur dass man parallel etwas anderes als die Bafin schaffen müsste. Denn Kontrollen braucht es in dem Sektor definitiv. Allerdings habe auch ich in Jahresabschlussprüfungen die Erfahrung gemacht dass es nicht mehr auf den Inhalt einer Prüfung ankommt sondern darauf dass man irgendwelche stupiden Checklisten abhakt. Das ist auch kein Wunder, wenn man teilweise von Frischlingen von der Uni geprüft wird. Da lacht jeder Praktiker drüber – denen kann man nämlich alles erzählen. Ändern könnte man das nur wenn man es politisch ändern wollte und auch die Politiker entsprechend qualifiziert wären. Beides ist nicht zu erwarten… Mehr

Roland Mueller
3 Jahre her
Antworten an  Christian aus Hessen

Aus eigener langjähriger Erfahrung weiß ich, das sich die Prüfer auf die Einhaltung der formalen Kriterien in der Bilanz und der G+V-Rechnung beschränken und grundsätzlich keinerlei Unregelmäßigkeiten beanstanden.

Onan der Barbar
3 Jahre her

Ich bitte Sie! In diesen Kreisen „sprudelt“ der Sekt nicht, er „perlt“. Und man brilliert nicht durch Bestechlichkeit, sondern besticht durch Brillanz. Ansonsten gilt: Die Zahlen passten einfach nicht – das bedeutet, für viele gab es etwas abzusahnen.

Tizian
3 Jahre her
Antworten an  Onan der Barbar

Herrlich, auf den Punkt. Chapeau! 😉

Devamed
3 Jahre her

Der genannte Herr Seehofer muss wohl ein anderer sein als der, der jetzt vom Homeoffice/Modellbahnkeller aus das Innenministerium leitet?!

anita b.
3 Jahre her
Antworten an  Devamed

Er war früher anders. Ich habe Mal ein Interview mit ihm gehört, da sagte er sinngemäß, das man in der Politik nichts bewirken kann. Man scheitert an den bestehenden Strukturen.

Carlos
3 Jahre her

Vielleicht sollte sich Herr Scholz beim lt. FOCUS „ZDF-PROFESSOR“ Harald Lesch helfen lassen. Der kennt sich aus mit SCHWARZEN LÖCHERN, die alles in sich hineinsaugen. Lesch weiß alles, vielleicht sogar, wo die Kohle geblieben ist.

Mortgelas
3 Jahre her
Antworten an  Carlos

Der letzte Universalgelehrte des Planeten kann ganz sicher etwas dazu sagen, es gibt ja kaum ein Thema, zu dem er seinen Senf nicht reichen würde!

Carlos
3 Jahre her
Antworten an  Mortgelas

Ich vermute, Lesch schaut sich die Sendungen mit ihm zuhause in Dauerschleife an.

Roland Mueller
3 Jahre her
Antworten an  Carlos

Ich denke, die schwarzen Löcher sind leer, weil die Kohle nie vorhanden war. Es handelt sich lediglich um hundsgewöhnlichen Betrug.