„Allgemeine Impfpflicht“: Verplauderte sich Karl Lauterbach auf Twitter?

Eine Kurzmitteilung des Bundesgesundheitsministers wirkt rätselhaft. Möglicherweise rutschte ihm aus Versehen ein Plan heraus, den er und die Koalitionsmehrheit insgeheim verfolgt hatten.

IMAGO / photothek

Nach ihrer Abstimmungsniederlage für die Impfpflicht ab 60 drückten viele Koalitionspolitiker ihre Enttäuschung aus. Ein winziges Wort in einem Tweet von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ging zunächst in dem allgemeinen Wut- und Entrüstungssturm unter.

„Einziger Gesetzentwurf, der die allgemeine Impfpflicht gebracht hätte, ist gerade gescheitert“, teilte der Minister per Kurznachrichtendienst mit.

— Prof. Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) April 7, 2022

Moment: „Allgemeine Impfpflicht“? Die stand am Donnerstag überhaupt nicht zur Abstimmung. Sondern eine spezifische Impfpflicht ab 60, nachdem vorher schon der Versuch gescheitert war, eine Mehrheit für eine Impfpflicht ab 50 zu organisieren.

Für eine allgemeine Impfpflicht – also ab 18 – war nie ein Gesetzesantrag in das Verfahren des Bundestags eingebracht worden. Nach längeren Beratungen hatten die Koalitionsfraktionen schon vor mehreren Tagen erkannt, dass es dafür keine Mehrheit geben würde.

Hatte sich der Gesundheitsminister in seinem Tweet also vertippt? Wer das gescheiterte Gesetz näher ansieht, bei dem können daran Zweifel aufkommen. Wahrscheinlicher ist, dass dem SPD-Politiker aus Versehen der Plan herausgerutscht war, aus der spezifischen Impfpflicht ab 60 später eine allgemeine Impfpflicht zu machen. Dafür spricht die eigentümliche Konstruktion des Gesetzestextes. In Paragraph 20 a des gescheiterten Entwurfes hieß es:

„Personen, die seit mindestens sechs Monaten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben und das 18. Lebensjahr vollendet haben, sind verpflichtet, ab dem 15. Oktober 2022 über einen Impf- oder Genesenennachweis nach § 22a Absatz 1 oder Absatz 2 zu verfügen; Personen, die das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erfüllen diese Pflicht auch, indem sie über einen Nachweis über eine individuelle ärztliche Beratung zu Schutzimpfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 verfügen.“

Ein Impf- oder Genesenennachweis verlangte das Gesetz also zunächst einmal für alle ab 18 – um dann eine Ausnahme für diejenigen unter 60 zu formulieren, für die der Nachweis einer Beratung genügt hätte. In dem Paragraphenwerk sollte eine „Beratungspflicht“ festgeschrieben werden, um die Impfquote zu steigern. Davon, so der Gesetzentwurf, würde später die „Scharfstellung” der Impfpflicht abhängig gemacht werden. Allerdings findet sich nirgends im Gesetz ein Hinweis, welche Quote die Gesetzesautoren für ausreichend halten. Faktisch wäre jede Quote unter 100 Prozent geeignet gewesen, um die Pflicht in Kraft zu setzen.

Einmal beschlossen, hätte sich das Gesetz durch eine kleine Textänderung später in ein Gesetz zur allgemeinen Impfpflicht verwandeln lassen. Dazu wäre es nur nötig gewesen, die Ausnahme für die Unter-Sechzigjährigen zu streichen.

Es ist also gut möglich, dass Lauterbach und andere ihren Plan einer allgemeinen Impfpflicht bis zum Donnerstag nicht aufgegeben hatten – und mit der Impfpflicht ab 60 erst einmal gesetzgeberisch einen Fuß in die Tür bekommen wollten.

Dieser Plan ist nun offensichtlich gescheitert.

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