Mittelstandsvertreter: “Die hier angesprochenen Politiker sind für uns nicht mehr wählbar”

Wirtschaftsvertreter schlagen gegenüber der Politik einen deutlich schärferen Ton an. Die Unternehmer fordern ein sofortiges Ende der Geschäftsschließungen. Manche wenden sich sogar grundsätzlich von der Regierung ab und sprechen von Politikversagen. Von Elias Huber

imago/IPON

Weite Teile der Wirtschaft haben die Nase gestrichen voll. In offenen Briefen, Interviews oder öffentlichen Initiativen fordern sie die sofortige Öffnung der Geschäfte. Dabei wird der Ton gegenüber der Berliner Politik immer rauer.

Heinrich Deichmann, Chef der gleichnamigen Schuhhandelskette, sagte etwa laut Medienberichten, er sei fast täglich im Gespräch mit Politikern und hoffe, dass “Einsicht einkehrt”. Aber er könne jeden Händler verstehen, der klage. Die Politik sei “sehr einfallslos”, sagte er und fügte hinzu: “Es ist schon ein Armutszeugnis, dass die einzige große Antwort auf die Pandemie bisher der Lockdown ist – das wird Deutschland nicht gerecht.” Deichmann forderte eine Öffnung des Handels zum 8. März.

Auch der Chefvolkswirt des Mittelstandsverbands BVMW, Hans-Jürgen Völz, fand deutliche Worte. Die Betroffenen könnten sich des Eindrucks nicht erwehren, “Zeugen eines eklatanten Beispiels für Politikversagen zu werden”, sagte er. Völz vermutete auch “wahltaktisch motivierte Blockaden Einzelner”. Nach über einem Jahr habe es Berlin immer noch nicht vermocht, Perspektiven für ein Lockdown-Ende aufzuzeigen. Hilfen kämen gar nicht, sehr spät oder spärlich an, sagte der promovierte Akademiker. Nachdem viele Mittelständler das Eigenkapital und nicht selten die Altersvorsorge aufgebraucht hätten, drohten nun Zahlungsunfähigkeit und das Ende der unternehmerischen Existenz. “Diejenigen hingegen, die die Wirtschaft ins Wachkoma versetzt haben, erhalten ihre monatlichen Bezüge in ungekürzter Höhe weiter, als wäre nichts geschehen”, sagte er.

In Bayern formierte sich vor wenigen Tagen ein Bündnis von Mittelständlern, die sich von der Politik abwenden. Nach eigenen Angaben gehören der Vereinigung “Wir stehen zusammen” über 540 Unternehmen mit knapp 10.000 Beschäftigten an. In einem offenen Brief an die Bevölkerung fordern die Unternehmer die sofortige Öffnung der Geschäfte. Man wehre sich gegen die “zunehmende Regulierung und Bevormundung der Wirtschaft”. Insbesondere in der Corona-Krise habe die Politik durch “zwanghafte Eingriffe, einseitige Darstellungen und offensichtliche Hinhaltetaktiken Vertrauen und Glaubwürdigkeit vollkommen verspielt”, heißt es. “Aus diesen Gründen sind die hier angesprochenen Politiker für uns nicht mehr wählbar.”

Doch selbst Spitzenverbände lehnen den Lockdown-Kurs mittlerweile ab. Ein Sprecher des Einzelhandelsverbands HDE erklärte etwa auf Anfrage, die wirtschaftliche Lage sei “dramatisch”. Derzeit seien mindestens 50.000 Branchenbetriebe in Existenznöten, was rund 250.000 Arbeitnehmer betreffe. Weiter sagte der HDE-Sprecher, dass das Robert Koch-Institut die Risiken beim Einkaufen als gering bewerte. Außerdem habe der Handel funktionierende Hygienekonzepte vorgelegt. “Deshalb gibt es keinen nachvollziehbaren Grund mehr, den Einzelhandel noch länger hinzuhalten”, sagte er.

Auch die Technikhändler haben sich Anfang der Woche für eine Öffnung ausgesprochen. “Die bestehenden Betriebsschließungen sind unverhältnismäßig, zumal der Einzelhandel nachweislich kein Infektionshotspot ist”, schrieben sie in dem offenen Brief an die Bundeskanzlerin und die Länderchefs. Sicheres Einkaufen sei auch über einem Inzidenzwert von 50 möglich. Zudem müssten die Steuerzahler für die Kosten wie Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfen aufkommen, argumentierten sie. Die Umsatzverluste beziffern sie auf über zwei Milliarden Euro in den vergangenen Monaten. Unterschrieben haben anderem die Geschäftsführer von Conrad, Euronics und Media-Saturn.

Unternehmen wie “s.Oliver”, “KiK” und “Thalia” suchen sogar in der breiten Bevölkerung Unterstützung. Die Händlerinitiative “Wir leben im Zentrum” fordert eine Öffnung zum 8. März und animiert die Unterstützer, Bundestagsabgeordnete per Musteranschreiben zu kontaktieren. Rund 55.000 Menschen haben den Aufruf, der vor verwaisten Innenstädten warnt, bislang unterschrieben.

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Kommentare ( 191 )

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WandererX
3 Jahre her

Warum empfehlen die Vertreter nicht offen die Wahl der einne oder anderen Oppositionspartei? Dann wäre ja der Teufel los und es gäbe ernsthafte Gespräche statt Bettelei.

Grumpler
3 Jahre her

Lamentieren über und bei Politiker(-n), die keine Ahnung von Wirtschaft haben, diese bestenfalls nur als Mittel zum Zweck betrachten (ausgenommen Konzernvertreter, mit denen man Partys veranstaltet, wo man sich gegenseitig reinkr…), bei denen im Zweifel Eigen- und Parteiinteressen den Ausschlag geben, wird nicht soviel bringen. Bestenfalls leihert man ein paar Hilfsgelder heraus, die dann woanders gestrichen oder abgegriffen werden.
Vielleicht sollten die KMUs mal in einen Steuerstreik treten und den Verteilungsradikalen erklären, wer an welchem Tropf hängt!?

Last edited 3 Jahre her by Grumpler
Sabine M
3 Jahre her

Und wohin wenden die sich nun? Welche Partei waehlen die nun?

Nein, sie muessen nicht antworten, ich kann es mir schon denken.

roffmann
3 Jahre her

Wo finde ich den den „“ Aufruf, der vor verwaisten Innenstädten warnt“““ ?

roffmann
3 Jahre her

Die Funktionäre der Unternehmerverbände haben lange genug mit den Regierenden gekungelt. Wir Mitglieder sollten Beitragsstops organisieren und Änderungen an den Organisationsspitzen herbeiführen ! Wozu zahlen wir unsere Beiträge ???

Albert Pflueger
3 Jahre her

Bevor man diese Regierung nicht durch Generalstreik und Massendemonstrationen in die Knie zwingt, wird sie nicht beidrehen, fürchte ich. Ein anderes Mittel wäre die konzertierte Öffnung der Geschäfte. Die Kunden würden schon kommen!

Germo
3 Jahre her

Ich finde hier und in anderen Foren wird zu wenig die Rolle der Medien berücksichtigt. M.M.n. sind diese das Zünglein an der Waage. Würden Medien mit Reichweite unabhängig informieren, Vieles bekannt werden, man denke nur an gekaufte Gutachten, Verstrickungen, Profiteure, dann sähe es anders aus. Dann würde auch der vielzitierte träge Michel aus dem medialen Winterschlaf erwachen. Jedoch, wir arbeiten uns an der Politik ab und einzelnen Akteuren. Wie oft habe ich im Bekanntenkreis schon feststellen müssen, die Leute wissen einfach nichts von den Hintergründen, hängen den Öffis und Konsorten an den Lippen. Dieses zahme “ aber so geht das… Mehr

Oliver Koenig
3 Jahre her

Liebe Mittelständler, jammern, schreiben und demütig winseln wird Euch nicht helfen. Öffnet einfach und macht Euren Verbänden Druck, dass sie Euch im Ernstfall anwaltlich unterstützen. Dafür zahlt Ihr schließlich Beiträge.

Hoffnungslos
3 Jahre her

Spät kommt das Aufwachen des deutschen Mittelstandes, hoffentlich nicht zu spät. Mit ein paar freundlichen Sätzen ist es aber nicht getan. Sonst sitzt Frau Merkel Ihre Kritik aus. Das hat sie gelernt. Nicht vom Kurs abweichen und Kritik, die man nicht verbieten und wegsperren kann, aussitzen. Also weg mit der Schlafmützigkeit, oder dem stillen Erdulden. Lassen Sie sich etwas einfallen für sich und Ihre Kunden. Wir, Ihre Kunden warten schon..

Franz Reinartz
3 Jahre her

Unter dem Motto „Das Leben gehört ins Zentrum“ – ich nehme an, werter Gastautor, dass es sich dabei um die genannte Händlerinitiative “Wir leben im Zentrum“ handelt – habe ich einen Aufruf gefunden. Sowohl bei den neun Initiatoren, von denen ich bisher nur zwei von gelegentlichen Einkäufen kenne (drei sind mir gänzlich unbekannt), als auch den Unterstützern (etwa die Hälfte kenne ich nicht), scheint es sich im wesentlichen um bundesweit operierende Ketten bzw. starke Regionalanbieter zu handeln. Es ist mir nur bekannt, dass Breuninger wohl versucht hat, gerichtlich gegen die Schließung vorzugehen. Man korrigiere mich, falls das falsch ist. Mir… Mehr