Schwache Börsen-Woche, starke Aussichten

Es stimmt leider: Hinterher ist man immer schlauer. Wenn man nun im Jahr 2022 auf die Lage im Juni 2021 zurückblicken wird, kann man sich die Kursentwicklung im zweiten Halbjahr gut erklären.

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In den meisten Industrienationen waren Großteile der Bevölkerung geimpft. Die Konjunkturindikatoren zeigten nach oben. Die Geldhähne der Notenbanken waren offen. Aber viele Börsenexperten mahnten zur Vorsicht: Die Märkte hätten bereits gehörige Teile der Erholungsfantasie vorweggenommen. Auch die anziehende Inflation verunsicherte, die US-Fed hatte Zinskorrekturen für 2023 angekündigt. Im Juni 2022 werden wir jedoch wissen: Der Aufschwung lief weiter, die Konzerngewinne zogen ähnlich kräftig an, wie es die Prognosen der Analysten vor prophezeit hatten. Schade, dass man im Juni 2021 so vorsichtig war, war doch damals auch sonnenklar, dass es keinen Aufschwung ohne die berühmte „Wall of Worry“ gibt, an der die Kurse hochklettern. Zurück ins Jetzt: Die Mauer der Sorgen heißt dieser Tage „Inflation“. Für 2021 und 2022 werden im Euro Stoxx 50 aber insgesamt rund 50 Prozent Gewinnplus erwartet.

Die Wall Street hat am Freitag aber eine schwache Woche klar im Minus beendet. Am Tag des Verfalls von Optionen auf Indizes und Einzelaktien war für die Anleger kaum etwas zu holen. Belastet wurde die Stimmung von Kommentaren des Präsidenten der Fed von St. Louis, James Bullard, der sich für eine US-Zinserhöhung bereits im Jahr 2022 aussprach. Dies wäre viel früher als die am Mittwoch von der US-Notenbank in Aussicht gestellten zwei Anhebungen gegen Ende 2023.

Der Dow Jones Industrial schloss fast auf Tagestief mit einem Minus von 1,6 Prozent bei 33.290 Punkten. Dies war der fünfte schwache Handelstag in Folge und der tiefste Stand seit Anfang April. Damit verbuchte der US-Leitindex einen Wochenverlust von fast 3,5 Prozent.

Der den breiten Markt abbildende S&P 500 verlor 1,3 Prozent auf 4.166 Zähler. Der technologielastige NASDAQ 100 fiel um 0,8 Prozent auf 14.050 Punkte. Tags zuvor hatte er mit knapp über 14.200 Punkten noch einen neuen Rekord aufgestellt.

Aus Branchensicht standen Energie- und Finanzwerte besonders unter Druck. So fielen die Papiere des Versicherers AIG und der Investmentbank Morgan Stanley um 3,9 beziehungsweise 4,4 Prozent. Die Titel der Großbank JPMorgan büßten 2,5 Prozent ein. Die Anteilscheine des Ölkonzerns Chevron sackten als Dow-Schlusslicht um 3,8 Prozent ab.

Auf Unternehmensseite warteten die Aktien von Adobe Systems mit einem Kursgewinn von 2,6 Prozent und einem weiteren Rekordhoch auf. Die Zahlen des Softwarekonzerns zum zweiten Quartal übertrafen klar die Erwartungen, laut dem DZ-Experten Ingo Wermann haben sie „auf ganzer Linie überzeugt“. Adobe profitiere von der Verlagerung von Werbebudgets ins Internet und von steigenden Investitionen, betonte der Experte.

Die in den USA gehandelten Hinterlegungsscheine des Tübinger Impfstoffherstellers CureVac erholten sich mit plus sieben Prozent etwas von ihrem fast 40-prozentigen Kurseinbruch vom Donnerstag. Curevac musste am Mittwoch einräumen, dass sein als Hoffnungsträger gehandeltes Vakzin nur eine vorläufige Wirksamkeit von 47 Prozent gegen eine Corona-Erkrankung „jeglichen Schweregrades“ erzielt hat.

Zuvor hatte sich schon der DAX von seiner schwächeren Seite gezeigt. Der Leitindex schloss 1,8 Prozent im Minus bei 15.448 Punkten. Gold war vor dem Hintergrund wieder zunehmender Inflationssorgen wieder gefragt. Der Preis des Edelmetalls legte um mehr als ein Prozent zu.

Auf Unternehmensseite stand insbesondere Brenntag im Fokus. Das Quartalsergebnis des Chemikalienhändlers war besser ausgefallen als erwartet. Die Aktie legte etwas zu. Laut Analyst Markus Mayer von der Baader Helvea Bank dürften allerdings sowohl das sehr gut ausgefallene Quartalsergebnis als auch der optimistischere Ausblick bereits größtenteils im Aktienkurs eingepreist sein.

Spitzenreiter im DAX waren die Titel der Deutschen Börse und die Anteile des Immobilienkonzern Vonovia. Schlusslicht waren der Halbleiterhersteller Infineon und der Konsumgüterkonzern Henkel.

Schon länger haben Politiker aller Couleur und Kartellbehörden in den USA Alphabet, Amazon, Apple und Facebook wegen ihrer Marktmacht im Visier. Jüngst hat das Abgeordnetenhaus nun gleich fünf Gesetzentwürfe vorgelegt, die die Macht der Tech-Giganten begrenzen sollen. Werden diese Initiativen umgesetzt, könnte es leichter werden, die Konzerne zu zerschlagen und ihnen den Verkauf bestimmter Produkte zu verbieten. Auch Zukäufe von Wettbewerbern könnten erschwert werden. Die Aktien der Firmen haben vergangene Woche dennoch zugelegt. Eine Interpretation: Eine Zerschlagung wäre auch den Investoren nicht unwillkommen nach dem Motto, die Einzelteile könnten dann mehr wert sein als die Gesamtkonzerne.

Die erste von der Europäischen Union (EU) zur Finanzierung des Corona–Wiederaufbaufonds emittierte Anleihe ist am Dienstag auf enormes Interesse bei Profi-Anlegern gestoßen. Für das Papier mit zehnjähriger Laufzeit, Zins von null Prozent und Volumen von 20 Milliarden Euro gab es Kaufaufträge über 142 Milliarden. Die Papiere bieten bei bester Bonität einen kleinen Renditeaufschlag gegenüber deutschen Bundesanleihen. Die EU-Kommission will bis 2026 für den Wiederaufbaufonds Next Generation EU (NGEU) rund 800 Milliarden Euro über Anleihen einsammeln, um Krisenhilfen für einzelne EU-Länder zu gewähren und die Wirtschaft nachhaltiger zu machen. Mit circa 30 Prozent ist der Anteil der Papiere, die als Green Bonds emittiert werden, außergewöhnlich hoch. Das mit den grünen Anleihen aufgenommene Kapital fließt zweckgebunden in Klimaschutzprojekte. Die ersten EU-Green-Bonds werden aber erst für September erwartet. Die EU wird in den kommenden Jahren — hinter Italien, Deutschland, Frankreich und Spanien — zum fünftgrößten Emittenten auf dem europäischen Anleihemarkt und zum weltgrößten Emittenten von Green Bonds aufsteigen. Wegen früherer Kartellverstöße hat die EU derweil zehn Banken — Bank of America, Barclays, Citigroup, Crédit Agricole, Deutsche Bank, JP Morgan, Natixis, Natwest, Nomura, Unicredit — zunächst als Konsortialführer für die Anleiheplatzierungen ausgeschlossen. Derlei Mandate sind wegen der Gebühren bei den Instituten begehrt.

Tom Stubbe Olsen, einer der bekanntesten europäischen Value-Anleger, gibt nach 35 Jahren das Fondsmanagement frustriert auf. „Die Idee, dass man beim Kauf einer Aktie Eigentümer eines Unternehmens ist, das reale Waren und Dienstleistungen produziert, reale Menschen beschäftigt und reale Kunden bedient, ist den meisten Marktteilnehmern und Medien leider verloren gegangen“, so Stubbe Olsen, der den Nordea 1 European Value Fund managte. Überdies stört ihn die Dominanz von gesichtslosen ETFs, Algotradern und neuerdings Social-Media-Handelsplattformen. Sie würden oftmals eine extreme Volatilität erzeugen. Dies hält Stubbe Olsen für eine Bedrohung für den fundamental orientierten Investor. Denn so sei man möglicherweise nicht in der Lage, sein Geschäft so lange aufrechtzuerhalten, wie die Märkte irrational blieben. ​


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Alexis de Tocqueville
2 Jahre her

Dass Märkte länger irren können als man Geld hat, um gegen sie zu wetten, ist doch eine Binsenweisheit. Von wem das stammt hab ich vergessen, aber es ist weit älter als Algos und Social Media. Ansonsten, ja es steigt. Natürlich tut es das. Solange die Geldschleusen offen sind, bleibt das auch so. Und wenn es dann kracht, dann aber richtig. Im Moment ist es für Aktien die Beste aller vorstellbaren Welten: Hohe Inflation + extrem niedrige Zinsen + eine Wall of Worry, weil aufgrund der Inflation die Zinsen ja eigentlich steigen müssten… „Eigentlich“ ist eben ein gefährliches Wort an der… Mehr