Es geht um Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Depressionen. Das menschliche Gehirn mit all seinen Fähigkeiten, nachgebaut mit Riesencomputern, mit möglichen Anwendungen in Robotik und Protethik, sowie in vielen anderen Bereichen der Technologie. Geht das?
Darf man 1 Milliarde € ausgeben für ein Forschungsprojekt, bei dem nicht sicher ist, was herauskommt? Nein, viel zu viel Geld, meinten die einen. Wir brauchen das, da kommt so viel Nützliches heraus, auch wenn das Ziel nicht erreicht wird, sagen die anderen. Und wieder andere sagen: Das kann nie funktionieren.
Da krachte es gewaltig; unter noblen Forschern flogen die Fetzen. Ein paar hundert Forscher beschwerten sich im Sommer 2014 beim Start des Projektes in einem offenen Brief mit ungewohnt deutlichen Worten über die ihrer Auffassung nach zu große Einseitigkeit des Projektes. Das sei zu sehr auf IT-Technologie ausgerichtet.
Die Europäische Union hatte nämlich 2013 das „Human Brain Project“ als eines von zwei sogenannten Leuchtturmprojekten ausgerufen und dafür 1 Milliarde € als Forschungsförderung bereitgestellt, nicht auf einmal, sondern über einen Zeitraum von zehn Jahren. Also ungefähr das, was EZB-Chef Draghi an einem halben Tag verbrät.
Viel Geld, das aber auch für unter seriösen Wissenschaftlern erstaunlich heftige Reaktionen gesorgt hat. Mit scharfen Worten greift die eine Fraktion die andere an, vor allem diejenige, die abseits der Förderung steht.
Der aus Südafrika stammende Hirnforscher Henry Markram hatte mit dem bekannten Heidelberger Physiker Karlheinz Meier und dem renommierten Chef der neurochirurgischen Klinik in Lausanne, Richard Frackowiak, in der EU-Bürokratie viel Überzeugungsarbeit geleistet und das Projekt angeschoben. Es soll die darniederliegende europäische Hirnforschung an die Weltspitze rücken.
Die Wogen haben sich mittlerweile nach außen hin wieder etwas geglättet. Es wurde umorganisiert. Nach den Proteststürmen wurde ein Direktorium aus 22 Mitgliedern eingerichtet, das das bisherige drei Mann-Gremium an der Spitze ersetzt.
Seit kurzem stehen die Technologieplattformen bereit, darunter die beiden wichtigen sogenannten „neuromorphe Computersysteme“ in Heidelberg und in Manchester. Die sollen mit einigen hunderttausend Prozessoren 200.000 künstliche Neuronen und 50 Millionen Synapsen etwa so wie Teile des menschlichen Gehirns arbeiten.
Jetzt also kommt das Projekt in die Gänge.
Worum geht es?
Die Human Brain Project-Initiatoren versprechen eine Simulation des Gehirns. Sie wollen eine Technologie entwickeln, die sich so wie unser richtiges Gehirn verhält. Das Modell soll keine einfache Computer-Animation werden. Es soll vielmehr ein manipulierbares Abbild aller Vorgänge sein, die sich im Gehirn abspielen.
Ein gewaltiges Vorhaben: 100 Milliarden Nervenzellen, davon jede Einzelne mit bis zu 10.000 anderen verschaltet – so groß ist der Untersuchungsgegenstand. Das neuronale Netzwerk in unserem Kopf ist ein Kosmos, in dem reger Verkehr herrscht. 80 Billionen aktive Synapsen, Kreuzungspunkte von Neuronen, über die Informationen ausgetauscht werden. Nervenimpulse mit Geschwindigkeiten im Millisekunden-Bereich, von keinem zentralen Takt geregelt, ohne Synchronisation, dafür mit massiver Parallelität.
In diesem Netzwerk kommt es erstaunlicherweise nicht zum Datenstau. Wenn irgendwo ein Weg blockiert ist, funktioniert ein anderer. Dahinter steckt ein ausgeklügeltes Verkehrsleitsystem, das in einem gesunden Gehirn zuverlässig funktioniert.
Alle Details, die dabei eine Rolle spielen, von den einzelnen Molekülen in den Zellen bis hin zu den Nervenbahnen – sollen erforscht und in das Computermodel des „Human Brain Projekt“ eingebaut werden. Damit verfolgen die Wissenschaftler des Human Brain Projektes einen fundamental anderen Ansatz als die Forscher bisher.
Was für Ingenieure aller Technikdisziplinen und für weite Bereiche der Wissenschaft inzwischen Alltag ist, soll mit einer virtuellen Hirnsimulation auch in den Neurowissenschaften Einzug halten: Supercomputing als Methode zum Erkenntnisgewinn.
Zu dieser Methode greifen Ingenieure, wenn sie mit einem funktionierenden technischen System konfrontiert sind, das sie nicht verstehen, und dessen Baupläne sie nicht kennen. Sie versuchen dann mit systematischen Analysen, Stück für Stück hinter seine Zusammensetzung zu kommen und die fundamentalen Prinzipien herauszufinden, nach denen es aufgebaut ist. Eine der Kernideen des Human Brain Projects ist es, diese Methode auf das Gehirn zu übertragen – und ein simulierbares Modell im Computer nachzubauen.
Davon erhoffen sich die Human Brain Project Forscher, die vertrackte Situation, die die Neurowissenschaften seit Jahrzehnten lähmt, mit einem neuen Ansatz durchbrechen. Denn bisher versuchen Neurowissenschaftler unter anderem damit dem Geheimnis des Gehirns auf die Spur zu kommen, indem sie Aktivitäten bestimmten Regionen zuweisen. In welchen Regionen des Gehirns geschieht was? Beflügelt wurden diese Arbeiten durch den beeindruckenden technologischen Schub, den moderne Bildverarbeitungsmethoden wie Computer- und Magnetresonanztomographie auch in die Hirnforschung brachten.
Mit diesen bildgebenden Verfahren kann man live sehen, was im lebenden Gehirn passiert. Bis 1974 konnten die Ärzte nur in tote Gehirne schauen, Funktionen also überhaupt nicht sehen.
Magnetresonanz-Tomographie
Viel hat die Magnetresonanz-Tomographie dazu beigetragen, über das Gehirn zu erfahren. Aber die Auflösung ist noch relativ gering, das Verfahren muss mit anderen Techniken ergänzt werden. Und noch eines zeigte sich: Forscher dringen zwar immer tiefer mit immer größerer Auflösung ins Gehirn vor und entdecken ein neues Detail nach dem anderen. Aber sie können sie nicht zusammenfügen.
Sie arbeiten an einzelnen Bereichen des Gehirnes und versuchen, es in spezialisierte Bereiche aufzugliedern. Doch es zeigt sich, dass es nicht allein um diese Bereiche geht, sondern um ihre Zusammenarbeit. Die wichtigen, aber bisher unbeantworteten Fragen der Neurowissenschaften heißen: Wie werden die Signale zu anderen Gehirnarealen weitergeleitet, wo die visuellen Eindrücke verarbeitet, wo mit früheren Erfahrungen verglichen und schließlich in Aktionen umgesetzt?
Antworten auf diese Fragen gibt es nicht.
Die neuen bildgebenden Verfahren hinterlassen – plakativ ausgedrückt – nicht viel mehr als bunte Bilder. In allen Farben blinkende Areale im Gehirn zeigen, welche Reize in welchen Regionen Aktivitäten auslösen. Damit ist aber nicht viel über die Funktionen ausgesagt. Die Wissenschaftler sehen lediglich die Symptome, während sie weiter über die Ursachen rätseln. Hirnforscher tun sich auch mit den neuen Technologien in der Erkenntnisgewinnung schwer.
In der Medizin versuchen Ärzte zum Beispiel mit der tiefen Hirnstimulation, Patienten mit Parkinson zu behandeln. Dabei werden zwei feine Drähte durch kleine Bohrlöcher in der Schädeldecke ins Gehirn geführt und bis in die Regionen gelenkt, die für die Bewegungssteuerung zuständig sind. Mit Stromimpulsen werden die betroffenen Hirnregionen beeinflusst. Damit lassen sich deutliche Verbesserungen des Zustandes der Patienten erreichen.
Wie und warum das aber funktioniert, weiß niemand. Fest steht nur, dass die winzigen Regionen zu treffen, ein schwieriges Unterfangen ist. Liegen die Elektroden nur wenig neben den entscheidenden Arealen, können andere Zellen getroffen werden mit weiteren Nebenwirkungen.
Diese Hirnstimulation kann Stimmungsänderungen, Depressionen oder Störungen der Impulskontrolle zur Folge haben. Patienten können häufiger gereizt oder ungeduldig werden. Studien zeigen emotionale Veränderungen und ein anderes Sozialverhalten.
Dennoch bestätigen weitere Studien die Überlegenheit der Hirnstimulation gegenüber einer rein medikamentösen Behandlung. Es ist eher ein Stochern im Nebel der Gehirnzellen, denn niemand kann die begleitenden psychischen Vorgänge erklären, obwohl doch Gehirnbereiche stimuliert wurden, die für die Steuerung der Bewegung zuständig sind. Allein die Diagnose der Alzheimer Krankheit ist mit der sehr hohen Fehlerquote von 40 % behaftet.
Der Lausanner Neurologe Richard Frackowiak, der übrigens auch Michael Schumacher behandelt, stellt fest: „Das Problem mit uns Neurologen ist, dass wir seit 150 Jahren dieselben Methode benutzen. Wir reden mit den Patienten, versuchen herauszufinden, welche Beschwerden sie haben. Dann gruppieren wir Patienten mit denselben Symptomen zusammen, geben ihrer Krankheit einen Namen und versuchen ihnen dann zu helfen. Diese Methode ist zwar nützlich, doch für die große Mehrzahl der Krankheiten kennen wir überhaupt nicht die Ursachen. Multiple Sklerose, Demenz, schwere Krankheiten, die viele Menschen betreffen. Ich sage immer, wir Neurologen laufen mit dem Kopf vor die Wand.“
Neurologen sind daher sehr skeptisch gegenüber jenen optimistischen Versprechungen, der menschliche Geist sei entschlüsselt worden. Wie in vielen anderen wissenschaftlichen Disziplinen erkennen auch hier Forscher erst während ihrer Arbeit, wie unübersichtlich und komplex das Gehirn funktioniert und wie wenig davon verstanden wurde.
Kein Wunder also, daß andere Forscher einen anderen Weg gehen wollen. Jetzt also soll die Rechenkraft moderner Computer helfen, Näheres über das verschlossene Organ „Gehirn“ zu erfahren. Ob die Idee der Human Brain Project-Wissenschaftler funktionieren wird, weiß niemand. Aber das weiß man nie in der offenen Forschung. Die Hoffnung ist, in der Simulation alles messen und verändern zu können, was in der Realität nie gemacht werden könnte. Wer wissen will, was mit Neuronen geschieht, die abgeschaltet werden, kann das nicht an lebenden Gehirnen testen, wohl aber an Modellen im Computer.
Doch fundamentale Kritik entzündet sich an der Methode. Man wisse schlicht noch viel zu wenig über das Gehirn, um es jetzt schon in großem Maßstab simulieren zu können. Es fehlten fundamentale Theorien über das Gehirn, nach denen man dann eine Simulation aufbauen könnte.
Streit um Simulationen
Streit um Simulationen – den kennt auch eine andere Disziplin, die mit zunehmender Rechenpower auch auf Simulationen setzt, ohne zu belastbaren Ergebnissen zu kommen: Der Klimaforschung. Dort haben Wissenschaftler mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Genauso wenig, wie sich das globale Wetter in ein Labor einsperren und mit ihm experimentieren lässt, funktioniert das möglicherweise mit einem Gehirn.
Gleichzeitig zählen beide Systeme zu dem komplexesten, was man sich vorstellen kann: In einer Flut von Variablen, die sich ständig verändern, gleicht die Suche nach belastbaren Zusammenhängen der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Darunter leidet ein zentrales Prinzip der Wissenschaft: die Nachprüfbarkeit. Die Kraft von wissenschaftlichen Aussagen ist jedoch unmittelbar damit verknüpft, wie umfangreich sie in Experimenten überprüft wurden.
Im Übrigen verschwimmen hier Standards der Wissenschaft: Computer-Algorithmen und Programm-Code unterliegen keiner kritischen Kontrolle durch Kollegen aus der Wissenschaft. Niemand kann die Versuche wiederholen, sie sind einfach viel zu aufwendig und benötigen erhebliche Rechnerkapazitäten. Nur weil verschiedene Modelle zu ähnlichen Resultaten kommen, steigt das Vertrauen in die Ergebnisse. Dennoch sind das streng wissenschaftlich gesehen keine Beweise. Ähnliches könnte auch in der Hirnforschung drohen.
Die üppige finanzielle Ausstattung und privilegierte Stellung in der Forschungslandschaft hat zur Folge, dass das Human Brain Projekt unter besonderer Beobachtung steht. Was unter Teilchenphysikern Alltag ist, ruft bei den Neurowissenschaftlern noch Aversionen hervor: Die Einbindung in Mega-Projekte bedeutet immer ein Stück Abschied von der Freiheit eigener Forschung. „Big science“ bringt Veränderung in eine gewachsene Forschungslandschaft. Bei manchen Wissenschaftlern geht die Angst davor so weit, dass sie eine Defacto-Monopolisierung der europäischen Hirnforschung befürchten.
Die für Forschungszwecke gewaltige Investition rechtfertigen die Initiatoren mit hehren Hoffnungen und umwälzenden Erkenntnissen: Nämlich Ursachen von Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Depressionen zu finden. Doch das sind zunächst einmal nur Behauptungen. Dagegen hat die Pharmaindustrie im Bereich „Gehirn“ erst kürzlich ihre Budgets für die Medikamentenentwicklung stark gekürzt. Zu unsicher sind die Erwartungen, als dass sich Investitionen lohnen.
Es steht also nicht unbedingt alles zum Besten in der Hirnforschung. Britische Wissenschaftler kamen 2013 bei einer Untersuchung zu aktuellen Hirnstudien gar zu einem vernichtenden Urteil: Zu schwache statistische Aussagekraft, viele Studien können keine eindeutigen Antworten auf die Fragen geben, die sie stellen, manche behauptete Entdeckungen seien wahrscheinlich falsch oder irreführend. Die klassische Hirnforschung hat mit kleinen Fallzahlen und schwachen beobachteten Effekten zu kämpfen. Und doch produziert sie in der Öffentlichkeit stark beachtete Resultate – die sich am Ende oft nicht halten lassen.
Klar ist: Die Bauprinzipien des Gehirns wirklich verstehen – das würde einen Meilenstein für Medizin und Technologie bedeuten. Wer hier Erster ist, hat einen gewaltigen Vorteil. Kein Wunder, dass weltweit ein Wettrennen darum entbrannt ist, das menschliche Gehirn als High-Tech-Werkzeug nutzbar zu machen, aber so einfach ist das nicht. Die Forscher führen Spin-offs während der Arbeit am Human Brain Project ins Feld: Zum Beispiel in der Steuerung von künstlichen Gliedmaßen, von Prothesen mit Steuercomputern, die Befehle vom Gehirn in Bewegung umsetzen. Das funktioniert bereits ganz leidlich, könnte aber deutlich besser werden.
Aber es scheint ein wenig, als verweigere sich das menschliche Gehirn standhaft einer Durchleuchtung, gar einer Erklärung. Läßt sich überhaupt Bewußtsein und Denken auf physikalische Gesetze reduzieren? Das fragt jetzt der amerikanische Professor für Philosophie, Thomas Nagel. Können wir mit solchen Begriffen ähnlich wie aus Physik und Chemie überhaupt so etwas wie Bewußtsein erklären?
Thomas Nagel: „Es ist durchaus möglich, dass die Wahrheit aufgrund unserer wesensmäßigen kognitiven Beschränkungen jenseits unseres Erfassungshorizontes liegt und nicht bloß außerhalb unseres Verständnisvermögens beim Stand, den die intellektuelle Entwicklung der Menschheit gegenwärtig erreicht hat.“
Weiter sagt er:
„Was mich leitet, ist die Überzeugung, dass der Geist nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder ein Zufall oder eine Zusatzausstattung ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur.“
Nur, was das für Entscheidungen für die Forschung bedeutet, ist offen. Forschung muss in alle Richtungen möglich sein. Offen nach allen Seiten – das ist es eigentlich, was Forschung bedeutet. Experimente anstellen und sehen, was sie ergeben. Wird sie eingeengt oder werden bestimmte Bereiche ausgeschlossen, sind wir wieder im Mittelalter.
Wer sich intensiver damit befassen und mehr detaillierte Informationen will, findet alles rund um die aktuelle Hirnforschung, das Human Brain Project und den Diskussionen um das Projekt in dem Dokumentarfilm „Die Gehirnmaschine“. In dieser aktuellen Bestandsaufnahme kommen zum ersten Male ausführlich die wichtigsten Wissenschaftler zu Wort. Zwei Stunden großes Wissens-Kino: Das menschliche Gehirn mit all seinen Fähigkeiten, nachgebaut mit Riesencomputern, mit möglichen Anwendungen in Robotik und Protethik, sowie in vielen anderen Bereichen der Technologie. Wie geht das?
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