Potenzpillen könnten Demenz vorbeugen

Die Entdeckung eines neuen Mittels für die Prävention oder zumindest Verzögerung einer Alzheimer-Demenz wäre wertvoll. Erstens ist mit einer weltweiten Alzheimer-Epidemie zu rechnen, zweitens sind die bisherigen Behandlungsoptionen stark limitiert und drittens ist die Entwicklung neuer Alzheimer-Medikamente zeitaufwändig und teuer. Von Lothar Krimmel

IMAGO / Döhrn

Vor 25 Jahren hat der Autor als Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung maßgeblich dazu beigetragen, die Aufnahme des unter dem Markennamen Viagra bekannten Wirkstoffs Sildenafil in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung zu verhindern. Wie jetzt bekannt wurde, könnte dies ein Fehler gewesen sein. Denn Potenzpillen aus der Wirkstoffgruppe der PDE-5-Hemmer haben offensichtlich neben ihrer potenzsteigernden Wirkung auch einen protektiven Effekt auf die Entwicklung einer Demenz vom Alzheimer-Typ.

Wie eine Nebenwirkung zum Weltbestseller wurde

Bereits die Entdeckung der potenzsteigernden Wirkung von Sildenafil als dem ersten Vertreter der PDE-5-Hemmer hatte in den 1990er-Jahren Medizingeschichte geschrieben. Die ursprüngliche Hoffnung des Pharmakonzerns Pfizer war, aufgrund der gefäßerweiternden Wirkung von Sildenafil eine neue Option für die Behandlung von Hypertonie und Angina pectoris gefunden zu haben. Diese Hoffnungen zerschlugen sich jedoch mit fortschreitender Dauer der Studien.

Allerdings waren die älteren männlichen Probanden über den Studienabbruch alles andere als erfreut. Es kam sogar zu Diebstählen des Wirkstoffs aus den für die Studien verwendeten Lagern. Der Hintergrund dieser eigenartigen Form von Alterskriminalität wurde rasch aufgeklärt: Sildenafil verfügte über eine spezifische „Nebenwirkung“, auf welche die Probanden nicht mehr verzichten wollten und die bald im Fokus des Interesses stehen sollte: Selbst langjährig impotente Männer bekamen nach der Einnahme von Viagra wieder für ein erfülltes Sexualleben ausreichende Erektionen. Und in der Folgezeit entpuppte sich Viagra auch für den Aktienkurs des Pharmakonzerns als veritabler „Pfizer-Riser“.

Reduktion des Alzheimer-Risikos um bis zu 44 Prozent

Nachdem Viagra 1998 für die Behandlung der erektilen Dysfunktion, also der Potenzstörung, zugelassen worden war, folgte 2005 die Zulassung für eine weitere bedeutende Indikation, nämlich die pulmonale Hypertonie, also den Bluthochdruck im Lungenkreislauf. Eine soeben im Fachblatt „Neurology“ erschienene Studie lenkt nun den Blick auf einen weiteren faszinierenden Indikationsbereich, nämlich den Morbus Alzheimer als der mit Abstand häufigsten Demenzkrankheit, von der im Jahr 2050 weltweit rund 160 Millionen Menschen betroffen sein werden.

Ein Team um Ruth Brauer vom University College London hat die elektronischen Krankenakten von rund 270.000 Männern mit einem Durchschnittsalter von bei Studienbeginn 59 Jahren ausgewertet, bei denen die Ärzte zwischen 2000 und März 2017 eine erektile Dysfunktion diagnostiziert hatten. Aufgrund der Häufigkeit des Auftretens einer Alzheimer-Demenz in den Folgejahren errechneten die Forscher eine durchschnittliche Verminderung des Demenzrisikos um 18 Prozent in der Gruppe derjenigen Männer, denen PDE-5-Hemmer verordnet wurden.

Erstaunlich war jedoch vor allem die demenzbezogene Dosis-Wirkung-Beziehung dieser Potenzmittel. Denn bei überdurchschnittlich häufigen Verordnungen kam es zu Reduktionen des Demenzrisikos von bis zu 44 Prozent. Erst bei maximal hohen Verordnungszahlen nahm die Risikoreduktion wieder leicht ab.

Grundsätzlich ist die Alzheimer-protektive Wirkung für alle PDE-5-Hemmer anzunehmen, also für Sildenafil (zum Beispiel Viagra) ebenso wie für die später entwickelten Substanzen Tadalafil (zum Beispiel Cialis), Vardenafil (zum Beispiel Levitra) und Avanafil (Spedra). Allerdings sind PDE-5-Hemmer in Deutschland – anders als etwa in Großbritannien, Polen oder der Schweiz – nicht frei verkäuflich. Bereits mehrfach wurden entsprechende Anträge gestellt, die jedoch vom zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) immer wieder abgelehnt wurden, zuletzt im Jahr 2023.

Für diese Ablehnung waren nicht die bekannten Nebenwirkungen verantwortlich, die allesamt gut beherrschbar sind, sondern ausschließlich der gefährliche Blutdruckabfall, der bei einer Kombination von PDE-5-Hemmern und ebenfalls gefäßerweiternden Nitrat-haltigen Präparaten wie dem von älteren Menschen zur Behandlung der Angina pectoris häufig verwendeten Nitro-Spray auftreten kann.

Weitere Studien dringend erforderlich

Dass PDE-5-Hemmer die kognitiven Kompetenzen bei älteren Menschen steigern können, galt bereits vor dieser neuen Studie als gut belegt. Als mögliche Wirkungsmechanismen wurden neben der gefäßerweiternden Wirkung auch anti-entzündliche Effekte diskutiert.

Die Entdeckung einer möglichen neuen Option für die medikamentöse Prävention oder zumindest die Verzögerung der Entwicklung einer Alzheimer-Demenz ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Denn erstens stehen wir erst am Beginn einer gewaltigen weltweiten Alzheimer-Epidemie, zweitens sind die bisherigen medikamentösen Behandlungsoptionen stark limitiert und drittens ist die Entwicklung neuer Alzheimer-Medikamente zeitaufwändig und teuer.

Die Kohortenstudie des Teams um Ruth Brauer konnte vergleichsweise kostengünstig durchgeführt werden. Allerdings können solche Studien nur Hinweise auf mögliche Zusammenhänge geben, reichen aber nicht aus, um die anzunehmende Risiko-Reduktion wissenschaftlich zu beweisen. Hierfür sind vielmehr aufwändig randomisierte kontrollierte Studien erforderlich, die angesichts des zu vermutenden erheblichen Nutzens dieser Arzneimittel für die Alzheimer-Prävention nunmehr dringend durchgeführt werden müssen.

Hier stellt sich jedoch wie bei allen Arzneimitteln, deren Patentschutz abgelaufen ist, das grundsätzliche Problem, dass die Pharmakonzerne an solchen Studien kein Interesse mehr haben, da sie an den Ergebnissen dieser Studien mangels Patentschutzes nichts mehr verdienen können. Idealerweise müssten supranationale Player wie die WHO solche Studien finanziell unterstützen, was aber angesichts der permanenten Verirrungen dieser hypertrophen Institution fast illusorisch erscheint.

Viagra bald auch für Seniorinnen?

Vielleicht schafft es ja die Gates-Stiftung einmal, ein wirklich relevantes Thema aufzugreifen. Ein Aufhänger könnte durchaus die oft beklagte Benachteiligung von Frauen in medizinischen Studien sein. Denn es steht zu vermuten, dass Viagra und Konsorten auch bei Frauen eine Demenz-protektive Wirkung entfalten. Und es wäre doch endlich einmal einmal eine begrüßenswerte „Gender Study“, wenn dadurch auch den Frauen der Zugang zur schönen neuen Viagra-Welt eröffnet würde.

Die gesellschaftlichen Folgen eines deutlich vermehrten Viagra-Konsums von Senioren und vielleicht bald auch Seniorinnen sind noch wenig untersucht. Bekanntlich steigert Viagra nicht die Libido. Aber die Kombination einer zumeist bis ins hohe Alter erhaltenen Libido mit einer nun gleichfalls erhaltenen Potenz schafft mit Sicherheit erhebliches Potenzial nicht nur für theoretische Abhandlungen, sondern auch für praktische Konflikte. Und diese Konflikte dürften nicht auf Partnerschaften beschränkt bleiben, sondern auch in die Welt der Seniorenresidenzen vordringen und das Pflegepersonal dort vor neue Herausforderungen stellen.


Dr. med. Lothar Krimmel, Facharzt für Allgemeinmedizin, war von 1992 bis 2000 Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und damit ein genauer Kenner des Medizinsektors.

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Carl22
2 Monate her

Als bald 75jähriger Taddagreis bin ich sehr an der genannten Substanz  Tadalafil interessiert. In meiner Greisenumwelt ist die erektile Dysfunktion unerheblich, die Mitglieder unseres Kammermusikkreises (Ü80) klagen eher über ein Nachlassen der sauberen Intonation.