Zwischen Realismus und surrealer Parabel: ein Meisterstück

Neben den großartigen Landschaftsschilderungen ist »Eschenhaus« auch eine gute, spannende Geschichte. Das Buch hat Ahnen, etwa Huxleys »Schöne neue Welt«, Samjatins »Wir«, Platonow, Houellebecq, es gibt Anklänge an die »Tribute von Panem«. Und es ist doch weit mehr als eine Dystopie. Von Uwe Tellkamp

Der Künstler Jörg Bernig gehört zu den Verdrängten, der Kulturbetrieb hat ihn ausgesondert. Im Jahr 2020 wurde er zum Kulturamtsleiter der Stadt Radebeul gewählt, der Bürgermeister sah sich Protesten aus der sogenannten Zivilgesellschaft ausgesetzt, Bernig wurde als »neurechts, ultrarechts« diffamiert, als Kulturamtsleiter für untragbar erklärt, in seiner Gemeinde angegriffen, im nachbarschaftlichen Umfeld denunziert. Es gab eine regelrechte Kampagne, Kulturschaffende sahen das Amt bei ihm in den falschen Händen, angebliche Kollegen gaben wie besorgte Inquisitoren öffentlich ihr Mißfallen kund. Bernig trat zur Wahlwiederholung nicht mehr an. Das geschah nach dem Fall Kemmerich in Thüringen, dessen Wahl von Südafrika aus rückgängig gemacht werden mußte, weil Demokratie schließlich nur das sein kann, was die Richtigen darunter verstehen.

Der Künstler Bernig wurde vom Politikum Bernig nahezu ausgelöscht. Seine Schriften standen unter Generalverdacht. Was aber hat der Bürger Bernig Schlimmes getan? Sich begründet eingemischt, wie es in einer Demokratie nicht nur üblich, sondern willkommen sein sollte; freilich laufen seine Einmischungen dem Zeitgeist zuwider, und außerdem läßt er sich seine von vielen Menschen im Land geteilten Erfahrungen nicht wegreden. Da endet dann die vielbeschworene Demokratie, und die deutsche demokratische Machtausübung beginnt.

Nun erscheint sein Roman »Eschenhaus«. Der Künstler Jörg Bernig hat das Politikum und all die Denunzianten dorthin verwiesen, wohin sie gehören. Das ist nicht nur menschlich beispielgebend. Ein solches Buch aus all den Angriffen, der Gesinnungsschnüffelei, der Niedertracht zu schöpfen, ist eine Leistung für sich in der eigentlichen, der künstlerischen Leistung. Das Buch ist ein Meisterstück.

Anna, die Protagonistin, eine etwa vierzigjährige Zeichnerin und Buchillustratorin, ist in Leipzig geboren, lebt seit langem in Berlin. Doch diese ihre frühere Existenz hat sie zurückgelassen. Zu Beginn des Buchs betritt sie ein Haus an der Küste von Wales, dort, wo Europa abbricht und der offene Raum des Meeres beginnt.

Das Haus – das titelgebende Eschenhaus – hat sie von Norman Argent geerbt, einem Germanisten, Labouranhänger, der Mitte der Siebziger nach Leipzig an die Karl-Marx-Universität ging. Anna lebt sich ein, im Haus, in der Landschaft, findet Anschluß bei Nia, der Besitzerin des Dorfladens, lernt Dragan aus Belgrad kennen, »Dragan der Serbe« genannt, die »Wanderer«, Deutsche, die nach Wales gezogen sind wie sie. Sie alle sind Entwurzelte, Versprengte einer zunehmend bedrohlicheren Gegenwart.

Sternstunden des Lesens
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Otrelia: the Only True Religion, greift auf das Denken und Handeln der Menschen zu, ein Gebilde, das jedem vertraut vorkommen dürfte, der in der gegenwärtigen Bundesrepublik Abweichlererfahrungen hat, sei es in Sachen Migrationskrise, Corona, Energiewende oder Ukraine. Es gibt Wächter, die darauf achten, ob Menschen »anständig« gekleidet sind. Von einem dieser Wächter wird Anna gerügt: »Frau, du kleidest dich schamlos und sündhaft … Wenn du dich wie eine Hure kleidest, dann mußt du dich nicht wundern, wenn du wie eine Hure behandelt wirst.«

Ein Verlag, für den Anna tätig war, verlangt ein schriftliches Bekenntnis zu den neuen Werten – die meist ziemlich alte und Lesern mit Diktaturerinnerungen nur allzu bekannt sind. Die Kirchen biedern sich dem Zeitgeist an. Die Gesellschaft zerfällt in immer kleinere Einheiten, Parallelgesellschaften leben (bestenfalls) aneinander vorbei, Denk- und Sprachgebote ersetzen die unlängst als »Floskel des Jahres« gekennzeichnete Freiheit. Anna nimmt an einer Demonstration teil, Männer und Frauen werden getrennt eingekesselt, nicht zuletzt diese Erfahrung bringt Anna dazu, aus einem immer enger, feindseliger, übergriffiger werdenden Staat wegzugehen.

In Wales, im Haus, das wie ein Nest über den Klippen hängt, atmet sie auf, kommt zu sich. Die kontinentalen Nachrichten verblassen in den Seewetterberichten der BBC, in den Realien der Nähe, im so ganz anderen Rhythmus von Dorf und Meer. Es gibt Landschaftsschilderungen, die sich vor Stifter, Doderer, Johnson nicht zu verstecken brauchen – in einer Sprache, die ruhig ist, nobel, ihre große Wirkung im Vertrauen auf die leisen Mittel erzielt.

Anna findet Normans Tagebuch; plötzlich verliert die Gegenwart das Idyllische. Vergangenheit kehrt zurück – die tiefe im Leipzig der Siebziger, die nahe im Berlin vor Annas Abreise. In seinem Tagebuch beschreibt Norman, wie er, der Exot aus Großbritannien, in den Osten ging, in Leipzig Heidi und Hans, Eva und Jürgen kennenlernte, eine Gruppe von regimekritischen, aus den sozialistischen Karrieren weitgehend aussortierten Menschen. Heidi ist Normans Kollegin an der Universität, Norman verliebt sich in sie. Jürgen, der Maler, ist ein Künstler, der offiziell nicht existiert, da er kein Verbandsmitglied ist, der Bilder malt, die nicht ausgestellt werden dürfen in Galerien, die offiziell nicht existieren, wo sie ihre offiziell nicht existierenden Liebhaber finden.

Große Literatur ist die Beschreibung einer Sommerfahrt zu den Freunden, auf ein abseits gelegenes Gehöft, sinnlich und neugierig erzählt; der fremde Blick Normans wird zu unserem, Bilder, Erinnerungen lösen sich aus dem Vergessen. Die Details sind es, die einer Prosa Würze verleihen, hier verschollene Automarken (F8, F9), eine Armeetrinkflasche mit Einstrichkeinstrich-Stoffhülle, der H6-Laster mit den Abstandskellen vorne, die Fahrt mit der Reichsbahn, in deren Raucherabteil Norman die an den Armlehnen angebrachten Alu-Aschenbecher mit dem aufgegossenen „DR“-Schriftzug auffallen, im Dorf die Straßenlaternen an Holzmasten.

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Gebrochene Idylle auch hier: die Freunde sind Außenseiter, fühlen sich gefangen in einem Land, das ihnen vorschreibt, wie sie zu denken und zu leben haben. Norman geht mit Eva eine Beziehung ein – denkt aber an Heidi. An der Uni tritt ein Mephisto auf, der mit Norman einen »Deal« macht: Informationen gegen Ausreise mit Heidi. Deren Tochter Anna ist.

Das Haus also Schuldabgeltung?

Neben den großartigen Landschaftsschilderungen ist »Eschenhaus« auch eine gute, spannende Geschichte. Mehr sei hier nicht verraten. Das Buch hat Ahnen, etwa Huxleys »Schöne neue Welt«, Samjatins »Wir«, Platonow, Houellebecq, es gibt Anklänge an die »Tribute von Panem«. Doch ist es mehr als eine Dystopie – faszinierend, wie es Bernig gelingt, zwischen Realismus und surrealer Parabel auszugleichen.

Einwände im Detail: Manchmal ein bißchen zuviel Andacht; die Dingbelebungen, all die Whiskygläser, die Anna anblinzeln, die Kaffeekanne mit dem blau-weißen Porzellanknopf, die mit Anna Zwiesprache hält, wirken mehr neckisch als vertiefend – geschenkt, Kleinigkeiten, und wir alle haben unsere Marotten, die uns kein Lektor ausreden kann.

Zur Gestalt: Das kühl-frische Blau des Umschlagbilds (Emma Cownie) lockt, man möchte reisen ans atlantische Meer, in dem wie bei Alfred Wegener die Kontinente und wie bei uns die Gewißheiten driften. Das Buch ist – in Nachauflage als Klappenbroschur – gut gedruckt auf nach Buchkunst riechendem Papier, gesetzt in angenehmen Schriften, bemerkenswert fehlerfrei. Susanne Dagen, die Verlegerin der »edition buchhaus loschwitz«, hat ohne einen Cent Subvention, fortwährend angegriffen, neben anspruchsvollen anderen Aufgaben binnen weniger – und schwieriger – Jahre eine Buchproduktion aus dem Nichts hingestellt, die nicht nur in Dresden ihresgleichen sucht.

Ich lebte mit den Figuren, ihrer vorsichtigen, zweifelnden Wahrheit, die ignoriert oder abgetan werden mag, doch bleiben wird – die Prophetie überzeugt mit genügend Wirklichkeit. »Eschenhaus« ist ein Roman, dessen Format und ästhetische Qualitäten man anzuerkennen auch dann in der Lage sein sollte, wenn seine Weltsicht der eigenen widerspricht. Bernig ist ein Wurf gelungen, ein Buch von Dauer.

Jörg Bernig, Eschenhaus. Roman. Edition Buchhaus Loschwitz, Klappenbroschur, 400 Seiten, 20,00 €.


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