Benedikt XVI. – Versöhner von Glauben und Vernunft

Das aus nächster Nähe entworfene Portrait eines der größten katholischen Intellektuellen unserer Epoche und eines der gelehrtesten Päpste auf dem Stuhl des Hl. Petrus ist ein willkommener und notwendiger Beitrag zur Kirchen- und Papstgeschichte. Von Gerhard Ludwig Kardinal Müller

Die vorzügliche deutsche Übersetzung des internationalen Bestsellers von Erzbischof Gänswein, der als Privatsekretär zwei Jahrzehnte lang Papst Benedikt XVI. in unmittelbarer Nähe erlebte, bestätigt den nachhaltigen Eindruck der Lektüre des italienischen Originals.

Aus meiner eigenen Erfahrung mit Joseph Ratzinger seit seiner Zeit als Theologieprofessor, Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation und schließlich als Papst, kann ich die Überzeugung nur bestätigen, dass er gewiss den „heroischen Tugendgrad“ erreicht hat, der dem geistlichen Urteil der Kirche über ein heiliges Leben in der Nachfolge Christi zugrunde liegen muss. Das bedeutet gerade nicht, dass wir uns – gemäß dem optimistischen Menschenideal des bürgerlichen Geniekultes – aus eigener Kraft perfektionieren könnten.

Der christliche Realismus besagt im Gegenteil, dass wir die Überwindung unserer Grenzen und Mängel, die sich aus unserer kreatürlichen Kontingenz und der erbsündlichen Disposition zum Bösen ergeben, voll und ganz der rechtfertigenden und heiligmachenden Gnade Gottes verdanken. Die Folge ist aber auch, dass wir aufgrund der Neuschöpfung in Christus zu Mitarbeitern an der Wahrheit Gottes und an seinem universalen Heilswillen werden.

Das Motto Cooperatores veritatis aus dem 2. Johannes-Brief ist auch der rote Faden, der den Glauben Joseph Ratzingers an den Gott und Vater Jesu Christi und seine theologische Verstandesarbeit in den Koordinaten von Glauben und Vernunft vom Anfang bis zum Ende seines Lebens durchzieht. So ist das aus nächster Nähe entworfene Portrait eines der größten katholischen Intellektuellen unserer Epoche und eines der gelehrtesten Päpste auf dem Stuhl des Hl. Petrus ein willkommener und notwendiger Beitrag zur Kirchen- und Papstgeschichte.

An den Haaren herbeigezogen
Vorwürfe gegen den polnischen Papst Johannes Paul II.
In neun Kapiteln nimmt uns Erzbischof Gänswein mit auf seinen Weg an der Seite des Präfekten der Glaubenskongregation, der aus dem Konklave nach dem Tod des großen Johannes Paul II. 2005 als Papst hervorging und dem er auch nach dessen überraschendem Rücktritt zur Seite stand bis zum Tod. So hatte er ihm am Tag der Papstwahl die Treue versprochen in vita et morte und dies auch gegenüber dem Papa emeritus durchgehalten.

Von den neun Kapiteln, in denen Gänswein seine geistige und geistliche Weggemeinschaft mit dem Glaubenspräfekten, dem amtierenden und emeritierten Papst darstellt, bildet das sechste Kapitel über das Lehramt Benedikts XVI. sicher den Höhepunkt, indem seine ganze Verkündigung und Theologie auf die christologische Mitte seines Denkens zurückgeführt wird. Der römische Petrus-Dienst kann kaum in Analogie zu den politischen und medialen Führungsansprüchen verstanden werden, wie wir sie in den „Imperien von der Art dieser Welt“ antreffen.

Gegenüber Pilatus, dem Inhaber der absoluten politischen Macht, hat sich Jesus als ein König gänzlich anderer Art behauptet, der gekommen ist, um für die Wahrheit Zeugnis zu geben. Wo anders könnte der Platz des Stellvertreters Christi sein als an der Seite des verspotteten, verurteilten und hingerichteten Herrn? Von ihm aber bekennt der christliche Glaube, dass dieser Jesus in Wirklichkeit der Sohn Gottes ist, der in dieser Welt kam, um uns von Sünde und Tod zu erlösen und um uns das ewige Leben im dreifaltigen Gott der Liebe zu schenken.

Das Papsttum lebt nicht von dem Prestige, das ihm die Welt zuschreibt, sondern vom Zeugnis für Jesus, den Sohn des lebendigen Gottes und den für unsere Sünden leidenden Gottesknecht und Messias. Christi Triumph über den Tod zeigt sich in der siegreichen Macht des Glaubens, den Petrus bei seinen Brüdern im Apostelamt stärken soll, und nicht im politischen Triumphalismus des Cäsarenwahns.

Papst Benedikt XVI. übte in seiner angeborenen Bescheidenheit und in der Tugend christlicher Demut seine apostolische Vollmacht aus, indem er der petrinischen Spiritualität der biblischen Einsetzungsworte zu entsprechen versuchte.

Ein Kompass durch verwirrte Zeiten
Die DNA der Kirche: Glaube, Wahrheit und Freiheit
Die drei großen biblischen Zeugnisse von der Übertragung der universalkirchlichen Lehr- und Leitungsverantwortung (Mt 16; Lk 22; Joh 21) sind wohl nicht zufällig verbunden mit der Erinnerung an das Versagen Petri, des Ersten der Apostel, der während der Passion Jesu dreimal seinen Herrn verleugnete. Das soll auch die höchsten kirchlichen Würdenträger daran erinnern, dass sie stets der Vergebung ihrer Sünden bedürfen und nur in der Nachfolge des demütigen und gekreuzigten Herrn den Leib Christi, die Kirche, in der Wahrheit von Glaube, Hoffnung und Liebe aufbauen.

Wer sich die Botschaft dieses Pontifikates zu eigen machen möchte, die Erzbischof Gänswein in summa darstellt, wird auch verstehen, dass die Jesus-Trilogie, die der Überlast des Petrus-Dienstes in den wenigen freien Stunden abgerungen worden ist, nicht eine schriftstellerische  Privatangelegenheit war, sondern der zentralen Mission des Nachfolgers des Hl. Petrus entspricht. Denn Jesus fragte ihn, für wen die Leute den Menschensohn halten. Und für die Kirche aller Zeiten gab und gibt Petrus die Antwort, die ihm zukommt aufgrund der Offenbarung Gottes: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16). Auf Petrus und sein Bekenntnis baut Jesus immerdar seine Kirche und garantiert ihr die Unzerstörbarkeit, mögen auch alle Pforten der Hölle ihren Rachen vor ihr aufreißen.

Der Leser dieses Buches sei in diesem Sinn auf den Titel des vorliegenden Buches verwiesen. „Nichts als die Wahrheit“ bezieht sich nicht auf die privaten Erlebnisse und subjektiven Urteile seines Verfassers über diese und jene Ereignisse oder die beteiligten Personen. Es geht in diesem Buch um die Wahrheit des geoffenbarten Glaubens, in deren Dienst Joseph Ratzinger sein theologisches Denken stellte, und um die ihm vom Herrn aufgetragene Verkündigung des Evangeliums von der alles tragenden Liebe Gottes. Erst der Untertitel „Mein Leben mit Benedikt XVI“ bringt die eigene Perspektive des Autors ein, der sich bereitwillig in den Dienst des Theologen Joseph Ratzinger und Papstes Benedikt XVI. hat nehmen lassen.

Nichts wäre verfehlter, als diese überzeugende Synthese von Ratzinger-Biographie und Gänswein-Autobiographie als ein „Enthüllungsbuch“ aus der „Schlüssellochperspektive“ abzuwerten oder skandallüstern durchzublättern. Nirgends werden Dienstgeheimnisse preisgegeben, alte Rechnungen beglichen, „Hühnchen gerupft“, mit Gegnern abgerechnet oder eigene Wunden geleckt.

Es werden aber aus wirklicher Sachkenntnis die öffentlich diskutierten Missverständnisse korrigiert oder die sogenannten Skandale diskutiert, die aber nicht vom regierenden und emeritierten Papst Benedikt verursacht waren, sondern die ihm nur ignorant oder maliziös angedichtet wurden. Bis in die Details bestätigen kann ich aus eigener Kenntnis die Darstellung jedes Einzelfalls von der Regensburger Rede über die causa Williamson und der Tragik des fehlgeleiteten Kammerdieners Gabriele und der nicht autorisierten Ko-Autorschaft mit Kardinal Sarah bis zu dem absurd-bösartigen Lügenvorwurf gegen einen der intellektuell redlichsten und moralisch lautersten Menschen, den ich je kennenlernte, aufgrund des vom Erzbistum München in Auftrag gegebenen und reich dotierten „Missbrauchs-Gutachtens“.

Auf dem geraden Weg
Eine katholische Familie unter der Naziherrschaft
Ratzingers wahre „Achillesferse“, wenn man so will, war seine sokratische Natur. Jeder, der im Urvertrauen einer liebenden ehelichen und familiären Gemeinschaft heranwächst, hat  den unwiderstehlichen Hang, in den anderen nur das Gute zu sehen. Gewiss hatte Joseph Ratzinger außerhalb der Familie dem Bösen des gottlosen Nazi-Regimes und den Schrecken des Krieges ins Auge gesehen. Und wer wie er die 22 Bücher des „Gottesstaates“ sorgfältig gelesen hatte, kann sich mit Augustinus keine Illusionen machen über die grausamen Folgen der erbsündlichen Korruption der menschlichen Natur.

Aber die Reinheit einer Kinderseele rechnet doch wenigstens in der kirchlichen Familie damit, andere mit Argumenten und gutem Zureden überzeugen zu können. Leider sind auch in der Kirche Christi nicht alle bonae voluntatis.

Wenn Erzbischof Gänswein auf das Allzumenschliche in der Kirche hinweist, dann nicht, um ihren Gegnern billige Propaganda an die Hand zu geben, sondern um anderen zu helfen, in den Enttäuschungen auch über kirchliche Vorgesetzte oder den Leiden unter ihren Kapriolen, nicht den Blick auf Christus zu verlieren, der allein uns niemals täuscht oder enttäuscht. Der „Vatikan“ ist bei weitem kein Haifischbecken. Aber es kann auch in keiner Kurie oder im Kloster besser zugehen als im historischen Kreis der Jünger Jesu, die ihn verleugnet und verlassen haben und die sich der allermenschlichsten Frage nicht enthalten konnten, wer denn nun unter ihnen der Größte und Erste sei.

Jedes Christenleben und besonders jeder Pontifikat eines Bischofs und Papstes steht unter dem Gericht des Wortes Jesus: Wer von euch der Erste sein will, sei der Diener aller (vgl. Mt 23,11). Papst Gregor I. nahm „servus servorum Dei“ unter die Titel des Papstes auf, worauf Benedikt XVI. öfter hingewiesen hat.

Wer Papst Benedikt XVI. als Mensch, Christ und Priester verstehen will, der wird sein – kurz nach dem Beginn seines Pontifikates am 29.8.2006 verfasstes – Geistliches Testament studieren und meditieren. Erzbischof Gänswein beschließt mit diesem bewegenden Dokument die Biographie Benedikts XVI. und seine Autobiographie an der Seite eines großen Zeugen der „Vernunft des Glaubens“. Das Resultat seines lebenslangen Ringens um die Synthese von Glauben und Vernunft heißt: „Jesus Christus ist wirklich der Weg und die Wahrheit und das Leben – und die Kirche ist in allen ihren Mängel wirklich Sein Leib.“

Das vorliegende Buch hat mir die vielen persönlichen Begegnungen mit Joseph Ratzinger wieder lebendig in Erinnerung gebracht und den Wunsch geweckt, mit ihm im Himmel über das zu sprechen, was wir „noch in rätselhaften Umrissen schauen“, er aber schon „von Angesicht zu Angesicht“ (vgl. 1 Kor 13,12).

Georg Gänswein und Saverio Gaeta, Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI., Herder, 314 Seiten, 28,00 €.


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Kommentare ( 2 )

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fatherted
1 Jahr her

mal ehrlich….kein Mensch interessiert sich noch für den Papst….auch nicht für Ratzinger. Die Menschen wenden sich in Deutschland ab von den Kirchen….und damit auch vom Papst. Das Papsttum ist noch eine nette Touristenattraktion in Rom….mehr nicht. Ach so….ja….absahnen tut der Vatikan nur noch aus Deutschland….woanders versiegen die Quellen zusehends.

el punzon
1 Jahr her
Antworten an  fatherted

Nun, ganz so simpel ist es nicht, denn es gibt noch genügend, die solch religiös-mundanen Vereinen die Hand halten. Vereinen, die in meinen Augen nichts mit einem/dem(?) Glauben an einen/unseren(?) Schöpfer zu tun haben, sondern mehr mit den weltlichen Verführungen und ‚Errungenschaften‘ des Glanzes, des Geldes und der damit einhergehenden Verfügungsgewalt und Macht über die Menschen. Damit will ich gar nicht Joseph Ratzinger (‚Benedikt XVI‘) persönliche Unredlichkeit unterstellen, sondern dieses verlogen-bigotte System der (katholischen) Kirche(n) in Frage stelle – was im Übrigen auch für andere sog. Religionen und derem Systeme udn Strukturen der Macht und Gier und Manipulation gilt, egal… Mehr

Last edited 1 Jahr her by el punzon