Wenn sich ein Politiker bedrängt fühlt

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) verantwortet nicht nur eine marode Polizei. Er ließ kürzlich auch einen Journalisten abdrängen, der ihn mit Fragen dazu nervt. Außerdem lässt er unhaltbare Behauptungen über den Publizisten verbreiten.

Der Berliner Journalist und Blogger Anatol Wiecki kann mitunter sehr lästig sein. Vor allem für Politiker des sozialdemokratisch-grün-linken Senats. Vor einigen Wochen machte Wiecki stadtweit Furore, als er die miserable Infrastruktur der Berliner Polizei dokumentierte. Der Journalist hatte versucht, die Polizei zu anzurufen, um sie aufzufordern, ein Auto abzuschleppen, das einen barrierefreien Straßenübergang zugeparkt hatte. Er hing 9 Minuten und 5 Sekunden in der Warteschleife der Polizei und hörte nur die Bandansage, ohne dass jemand abnahm. Dann brach die Verbindung ab. Wiecki schnitt den erfolglosen Kontaktversuch mit, und stellte ihn ins Netz.

Darauf berichteten etliche Zeitungen, denn er hatte einen Nerv getroffen: Die Erfahrung, dass der möglicherweise lebenswichtige zentrale Polizeinotruf oft schlecht oder gar nicht erreichbar ist, machten schon etliche andere Berliner. Das Problem existiert seit längerer Zeit und zwar aus einem berlintypischen Grund, der unmittelbar in die Verantwortung des Innensenators fällt. Die Notrufzentrale musste im Juni von ihrem Quartier am Platz der Luftbrücke umziehen – weil das Gebäudedach einer Notsanierung unterzogen wird. Es regnete durch. Schon 2015 wurde der Bau asbestsaniert, das schon damals marode Dach aber – warum auch immer – vergessen. Im Ausweichstandort der Notrufzentrale in der Friesenstraße existiert nur eine Uralt-Telefonanlage. Die längste in der Stadt dokumentierte Wartezeit in der Telefonschleife liegt bisher bei 11.08 Minuten. Den Sanierungsstau für die meist alten, heruntergewirtschafteten Berliner Polizeigebäude beziffert der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt auf eine Milliarde Euro.

Der Journalist Wiecki ließ es nicht bei der Dokumentation der Notruf-Not: im August ging er zu einem Pressetermin auf einem öffentlichen Platz, bei dem Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) neue Fahrzeuge an die Feuerwehr übergab, und versuchte ihn nach den Zuständen bei der Polizei zu fragen. Allerdings erfolglos: Geisel ignorierte den Frager, ein Polizist drängte Wiecki schließlich ab. Diesen Vorgang nahm der Blogger auf Video auf, jedenfalls, so weit es ging. Nach einem Wortwechsel stellte sich der Beamte nämlich auch so vor Wieckis Kamera – wohlgemerkt auf einem öffentlichen Platz – dass er nicht mehr filmen konnte.

Zu diesem Vorgang stellte der Berliner FDP-Abgeordnete Marc Luthe eine Anfrage an Geisel. Dessen Antwort, die Tichys Einblick/Publico vorliegt, bringt den Politiker erst Recht in Schwierigkeiten. Denn sie enthält offenbar gleich zwei falsche Behauptungen. Geisels Behörde teilt darin mit:

„Nach dem Ende der Veranstaltung trat unvermittelt eine der Polizei Berlin einschlägig bekannte Person an den Senator heran, ohne sich als Journalist zu erkennen zu geben. Die Person stellte sich nicht persönlich vor, sondern fragte lautstark direkt und ohne Erläuterung des Zusammenhangs nach der Notrufsituation bei der Polizei Berlin. Dabei bedrängte er den Innensenator verbal und physisch, so dass die Personenschützer des Innensenators eingreifen mussten. Der Senator hat gegenüber der Person mehrfach deutlich gemacht, dass er in dieser Art und Weise kein Gespräch führen werde. Auch nach der klaren Gesprächsabsage hat die Person den Innensenator weiter bedrängt.“

Tichys Einblick/Publico liegt ein kurzer und ein ausführlicher Video-Mitschnitt der Szene vor.

Darauf ist zu sehen, dass Wiecki in keinem Moment den Innensenator körperlich bedrängt. Die Aufnahme dokumentiert, dass Geisel sogar selbst kurz versucht, die Kamera des Journalisten zuzuhalten.

In dem längeren Mitschnitt ist außerdem zu sehen und zu hören, wie Wiecki, nachdem er gebeten hatte, mit dem Politiker über die schlechte Erreichbarkeit des Polizei-Notrufs zu sprechen, dem schon mehrere Meter entfernten Geisel zuruft: „Warum wollen Sie nicht? Warum wollen Sie denn nicht?“ In dem Moment kommt der einzige Dialog zwischen dem hartnäckigen Frager und dem SPD-Politiker zustande. Geisel antwortet: „Weil Sie den Notruf missbraucht haben.“ Der Vorwurf ist erstens nach allen vorliegenden Fakten falsch. Und zweitens zeigt er, dass der Innensenator die Hauptstadtpresse offenbar verfolgt, Wieckis Dokumentation der 9 Minuten und 5 Sekunden-Warteschleife mitbekommen hatte und also auch sehr genau wusste, wer der Journalist war, der ihn mit seinen Fragen nervte.

Am Ende ist noch zu sehen und zu hören, wie Wiecki den Polizisten fragt, der ihn abdrängt, warum er am Filmen gehindert wird. Der Beamte antwortet: „Es gibt aber auch Regeln.“ Welche Regel es in Berlin einem Journalisten verbieten soll, einen Politiker auf einem presse- und publikumsöffentlichen Termin zu filmen, verriet er nicht. Kein Wunder. Es gibt nämlich keine.

„Es kann ja sein, dass Journalisten manchmal Politiker mit ihren Fragen nerven“, kommentiert der FDP-Abgeordnete Luthe den Vorfall: „Aber das ist kein Grund, sie an der Arbeit zu hindern.“

Interessant ist in der Antwort der Innensenatsverwaltung auch die Formulierung: „eine der Polizei Berlin einschlägig bekannte Person“ für Anatol Wiecki. Bekannt ist Wiecki natürlich wegen seiner Kritik an dem schlecht funktionierenden Notrufsystem, die, siehe oben, nicht nur auf dem Blog des Journalisten erschien, sondern auch ein erhebliches Presseecho in der Berliner Blättern gefunden hatte. Der Journalist und Blogger genießt auch wegen spektakulärer Aktionen und Performances eine gewisse Bekanntheit in der Hauptstadt und bei deren Behörden. Am 13. August 2003 etwa blockierte er zum Gedenken an den 42. Jahrestag des Mauerbaus zusammen mit einer kurzfristig zusammengetrommelten Gruppe kurz eine zentrale Straßenkreuzung; die etwa 100 Leute legten sich auf den Asphalt, um an die Mauertoten zu erinnern. Wiecki ist nicht nur Journalist, Autor, Blogger, sondern auch gelegentlich Politclown und Aktivist. Nur eben einer, der erkennbar nicht die Sympathie der Berliner Regierungsparteien genießt.

Es passiert nicht zum ersten Mal, dass die Berliner Politiker und Behörden rüde mit einzelnen Publizisten umgehen, hinter denen keine Redaktion steht. Der Autor und Schriftsteller Hajo Lehmann hatte 2018 seine satirisch-polemisch gefärbten Recherchen zu dem offenbar geschönten Lebenslauf der Berliner Regierungssprecherin Claudia Sünder veröffentlicht. Die Staatsanwaltschaft überzog ihn darauf nicht nur mit einem Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung, sondern ließ auch Hoffmanns Arbeitsgeräte – Computer, Mobiltelefon, Drucker – beschlagnahmen und behielt sie monatelang mit der lächerlichen Begründung ein, das sei zur „Beweissicherung“ nötig.

Dabei hatte Lehmann die Autorenschaft der Recherchen zu Sünder nie bestritten. Bemerkenswerterweise entschieden bisher zwei Gerichte, dass Lehmanns Recherchen tatsächlich weitgehend zutreffen. Sünder, so die Richter, habe in ihrer offiziellen Biografie frühere Lebensstationen geschönt und gefälscht.

Sünder übt ihr Amt als Regierungssprecherin übrigens nach wie vor aus.

Tichys Einblick/Publico fragten bei Geisel an, worauf er seine Behauptung stütze, Wiecki habe ihn „physisch bedrängt“, und wie er zu der Beschuldigung kommt, der Journalist habe den Polizeinotruf „missbraucht“.

In einem anderen aktuellen Fall – in dem es allerdings nicht um eine nervende Einzelperson ging, sondern um eine aggressive Gruppe – verhielt sich Innensenator Andreas Geisel dagegen außerordentlich nachsichtig. Obwohl er die ordnungsrechtlichen Möglichkeiten dazu gehabt hätte, unternahm er nichts zur Verhinderung einer arabischen Israel-Hass-Kundgebung am Brandenburger Tor, die am Mittwoch stattfand. Erst auf erheblichen Druck von Bundespolitikern und Organisationen untersagte Geisel in letzter Minute den Auftritt der beiden arabischen Rapper Shadi Al-Bouriki und Shadi Al-Najiar, die mit deutschem Visum aus Ramallah anreisen durften. Beide sind bekannt für Songs, in denen sie unter anderem die Bombardierung Tel Avivs und das „Zertreten“ von Juden fordern. Ein Lied der beiden wurde trotzdem abgespielt, ohne dass die Polizei die Kundgebung abbrach. Ein Redner beschimpfte Deutsche wegen des Auftrittsverbots für die Rapper als „Nazis“.

Auch bei dieser Kundgebung drängte die Polizei wieder einen Einzelnen weg: den Vizepräsidenten der europäischen Studentenunion Ruben Gerczikow, der die Kundgebung beobachtete und ein kleines Pappschild mit der Aufschrift „Kein Platz für Antisemitismus“ an seinen Rucksacke geheftet hatte. Davon, so Polizisten zu Gerczikow, könnten sich die arabischen Kundgebungsteilnehmer „provoziert“ fühlen.

Was in Berlin als Provokation zu gelten hat und was nicht – damit scheint Andreas Geisel sich auszukennen.

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