Landtagswahlen: Warum im Osten nicht mehr der Westen gewählt wird

In Brandenburg und Sachsen werden SPD und CDU vom Sockel der Volksparteien gestoßen - soviel scheint sicher. Es ist die Quittung dafür, dass Friday for Future im Westen ihnen wichtiger sind als die Wähler vor Ort.

ODD ANDERSEN/AFP/Getty Images

Mit Spannung wird der Ausgang der Wahlen in Brandenburg und in Sachsen erwartet, Prognosen werden derweil wie Blitzmails aus Delphi gehandelt. Alle Umfrageergebnisse sind jedoch in dreifacher Weise fragwürdig.

Erstens existiert eine ohnehin schon große Fehlertoleranz, so dass bei einem Spielraum von +/- 1,5 % die Abweichung statistisch im Extremfall bei 3 % liegen kann.

Zweitens findet man im Osten eine weitaus geringere Parteienbindung als im Westen. Wähler lassen sich im Osten stärker von Interessen, als von Gewohnheit und Tradition leiten. So gesehen sind sie die „demokratischeren“ Wähler, weil sie stärker von den Verhandlungen der res publica, als von traditioneller Zugehörigkeit ausgehen. Deshalb wirkt sich die Repräsentationslücke, wie der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt das Phänomen benannte, dass die etablierten Parteien immer weniger die Interessen von wachsenden Wählerschichten vertreten, im Osten wesentlich stärker aus. In Ostdeutschland denkt man weniger ideologisch, sondern ergebnisorientiert. Man könnte es auch so formulieren, dass der Bedeutungsverlust der Linken und der SPD im Osten darauf zurückzuführen ist, dass beide Parteien „nicht geliefert“ haben, Politik oft für die Medien, anstatt für ihre Wähler in den Gemeinden und Kommunen in Ostdeutschland machen.

Jüngstes Beispiel ist die durch einen fragwürdigen Gerichtsbeschluss verfügte Schließung des Tagebaus Jänschwalde, die Signalwirkung hat. Weder die Funktionäre der ehemaligen Arbeiterpartei SPD, noch die der CDU traten für die Arbeitnehmer ein, um es sich nicht mit Fridays for future zu verderben. Statt gegen die Schließung zu kämpfen, postet der Spitzenkandidat der CDU, Ingo Senftleben:

„In Jänschwalde werden zwei von sechs Kraftwerksblöcken stillgelegt. Das kostet direkt 600 Arbeitsplätze. Wir müssen gemeinsam mit der Wirtschaft zeigen, dass wir solche Industriearbeitsplätze ersetzen können. Sonst wird die Strukturentwicklung nicht gelingen.“

Das war am 6. Mai 2019, über die aktuelle Schließung des Tagebaus findet man bisher kein Statement von ihm. Sicher ist jetzt schon, dass mit hohlen Phrasen und Schweigen der Machtwechsel in Brandenburg nicht gelingen wird. Gerade in Jänschwalde hätte Ingo Senftleben beweisen können, dass er „Bock auf Brandenburg“ hat, hätte er Flagge zeigen können, zumal Ministerpräsident Dietmar Woidke im Regierungsraumschiff am 26.08. durch den Tagebau flog und nichts von der Brisanz der Situation bemerkte, oder wie Woidkes Staatskanzlei gutgelaunt publizierte: „Bei einem Rundgang in der LEAG-Ausbildungsstätte Kraftwerk Jänschwalde sprechen Woidke und Giffey mit Azubis, Betriebsräten, Vertretern der Industriegewerkschaft BCE sowie Jugendvertretungen des Tagesbaus und des Kraftwerks. Dabei geht es auch um eine zukunftsfähige Aus- und Weiterbildung am Standort unter Berücksichtigung des Strukturwandels. In der Einrichtung werden rund 140 Jugendliche u.a. als Mechatroniker, Elektroniker für Betriebstechnik und Industriemechaniker ausgebildet. In den vergangenen 13 Jahren wurden rund 25 Prozent der Belegschaft des Kraftwerks und des Tagesbaus durch Jungfacharbeiter ersetzt.“ Wenig später verfügte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Schließung des Tagebaus.

Sind Woidke und Senftleben die mediengehypten Fridays for future wichtiger als die hart arbeitenden Kumpels in Jänschwalde? Zumindest bekommt man hier eine konkrete Ahnung von dem, was Patzelt unter Repräsentationslücke versteht.

Drittens gelang es zwar dem Westen, die Deutungshoheit über den Osten zu gewinnen, doch werden diese Deutungen von einem immer kleiner werdenden Anteil von Bürgern überhaupt noch rezipiert. Außerdem gehen die Deutungen des juste milieus oft am Wesen der Sache vorbei und stellen immer wieder den besten Wahlhelfer für die AfD dar.

Welcher Ostdeutsche kann den SPIEGEL noch ernstnehmen, wenn er behauptet, die Ostdeutschen wählen AfD, weil sie sich einsam fühlen? Oder eine Caroline Fetscher, die sich im Tagesspiegel mit dem Versuch, die Psyche der Ostdeutschen zu analysieren, verhebt, sich aber mit solchen Aussagen: „Auf selbstgepflügter Scholle säen sie xenophobe, europafeindliche und antidemokratische Ressentiments…“ nur selbst auf Freuds berühmte Couch legt.

Wenn die WELT meint, sie muss den großen Kenner Ostdeutschlands, Michel Friedman, die Wahl im Osten kommentieren lassen, gibt sich das Unternehmen selbst der Lächerlichkeit preis und ist eigentlich nur noch zu bemitleiden.

Aber gerade weil die Gewissheiten verloren gehen, Unsicherheiten immer stärker, Dekadenzphänomene immer sichtbarer werden, erlebt der aufmerksame Leser eine Journalistenklasse, die gegen die Realität anschreibt und ansendet und die Wahlen in Brandenburg und in Sachsen zum Orakel von Delphi verklärt, anstatt Ursachen und Gründe zu analysieren. Freilich, die Analyse käme nicht ohne schmerzliche Selbstkritik aus, denn zur Wahrheit gehört es, dass die AfD im Osten auch als Antwort auf die teils übergriffigen Erziehungsversuche des Establishments gewählt wird.

Letztlich werden die Wahlen nicht in den Medien, und auch nicht im „Kampf gegen rechts“, sondern in Jänschwalde entschieden – so viel Orakel darf sein.

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Kommentare ( 48 )

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48 Comments
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RMPetersen
4 Jahre her

Zitat:
„Zweitens findet man im Osten eine weitaus geringere Parteienbindung als im Westen.“

Nach vier Jahrzehnten Zwangsbindung an die SED ist das doch verständlich, oder?

Thorsten
4 Jahre her

Der Wahlausgang könnte als Sieg der „Nationalen Front“ gegenüber der Opposition bezeichnet werden.

Könnte einer der letzten Siege der „Alternativlosen Merkel-Kuscheltruppe“ gewesen sein …

Muller
4 Jahre her

Bei den ganzen Wahlanalysen wird ein Punkt vergessen:
Viele heutige ältere Menschen habe es gestrichen satt, unter vilen Entbehrungen zuerst die von den einstmals regierenden Rechtssozialisten hinterlassene Trümmerlandschaft weggeräumt zu haben. (Die, die diese Landschaft hinterlassen habe, sind inzwischen zum allergrößten Teil verstorben.) Danach kam die Trümmerlandschaft der nachfolgenden Linkssozialisten im real praktizierten Sozialismus, die sie lange Jahre erdulden und dann ebenfall weggeräumen mussten.
Um jetzt von selbst ernannten „Antirassisten“ die es sich großteils in unserem Sozialsystem lebenslang auf der Nehmerseite eingerichtet haben, als „hässliche alte weiße Männer“ beschimft zu werden.

teanopos
4 Jahre her
Antworten an  Muller

nanana, nicht soviel konkretes.
Schämen Sie sich nicht soviel recht zu haben?
Damit stellen Sie den/die gemeinen Politiker/innen und seine/ihre „komplexe Welt“ in den Schatten.
Sie sollten die Politiker*innen außerdem nicht mit einfachen Lösungen überfordern um die seit Jahren bekannten Probleme sofort abzustellen.
Es könnte nämlich zudem dazu führen dass Sie(und bzw. wir Kritiker) recht haben und hatten.

Holzdrache
4 Jahre her
Antworten an  Muller

@ Muller, ich fürchte die älteren Menschen sind die treuesten CDU / SPD Wähler. Leider!!
Gruss
Tom

J.Thielemann
4 Jahre her

Bei einer Gemäldeausstellung- Gegenwartskunst – lauschten Zuhöher den Worten einer Dame, die dort eine Führung machte. Im Verlauf ihrer Ausführungen lachte ein Herr in einer der hinteren Reihen amüsiert sehr laut auf. Die Dame fragte pikiert, ob er meine, er könne das Bild besser einschätzen?! Seine (zutreffende ) Antwort war, daß er das Bild gemalt hätte. Eine gute Parallele zum Thema AFD und neue Bundesländer. Was ist so im Erklärungs- Angebot? – Zu Anfang: Alle, die nicht mainstreamkonform unterwegs sind, sind Besorgte. Gemeinhin wird mit einem Besorgten jemand stilisiert, der sich unbegründet Sorgen macht. (Die Millionen Leute, die ihren Sicherheitsgurt… Mehr

mac4ever
4 Jahre her
Antworten an  J.Thielemann

Toller Kommentar. Es ist zum Verzweifeln. Wir werden verar*cht, 24/7. Für mich ist die Wahl nur das Aufschieben der unbedingt nötigen Umkehr. Ich war skeptisch bei der Wahl und habe leider recht behalten. Das Ergebnis reicht nicht. Noch nicht.

Albert Pflueger
4 Jahre her
Antworten an  J.Thielemann

Ob Macron die Interessen der Franzosen vertritt, ist unter diesen durchaus strittig. Gelbwesten kommen ja nicht von ungefähr!

AnSi
4 Jahre her

Meine Hoffnungen liegen derzeit auf meinen Landsleuten in Sachsen und Brandenburg. Ich hoffe, sie enttäuschen mich nicht und wählen CDU und SPD ab und hoffentlich nicht Grüne zum Ausgleich!
In 2h werden wir sehen, wie sich die Lügenbaroninnen um Ausreden winden.

Bitte, enttäuscht mich nicht!

T. Ruebsal
4 Jahre her

Ich habe gerade einmal sämtliche Online-Medien durchgeschaut und man scheint nicht sonderlich Panik vor einem möglichen Wahlsieg der AfD zu haben. Das war vor der letzten Bundestagswahl und bei der Europawahl ganz anders. Da spürte man das Fracksausen, die Partei würde zu stark werden. Dazu jetzt die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung nur in Sachsen. In Brandenburg, wo es auf RRG hinausläuft, scheint es normal zu bleiben. Wieso hab ich nur so ein ungutes Gefühl …

Christoph Behrends
4 Jahre her

Ist heute einer dieser Wahlsonntage, von denen man noch in zwanzig Jahren recht genau wissen wird, wie man den Tag verbracht hat?

Mr. Spock
4 Jahre her

Sehr geehrter Herr Mai,

es gut und richtig, dass Sie bei Landtagswahlen die regionalen Aspekte herausstellen und diese haben auch einen gewissen Einfluss auf Wahlentscheidungen.

Aber Sie ignorieren , wie so viele Ihrer Zunft, die großen Probleme, die alles überlagern. Es gibt sie nun mal, die Wechselwirkungen zwischen Bundes- und Landesebene.

GNaB
4 Jahre her

Rekord-Wahlbeteiligung in Dresden

In Dresden ist die Wahlbeteiligung jetzt schon höher als bei der Landtagswahl 2014. Sie lag 14 Uhr bei 61,9 Prozent. 2014 lag die Wahlbeteiligung bei Schließung der Wahllokale 18 Uhr bei 57,2 Prozent. Quelle mdr

Holen sich die Sachsen ihr Land zurück oder aufgescheuchte Sunday for Sunset Jungwähler.

W aus der Diaspora
4 Jahre her
Antworten an  GNaB

Vielleicht hat es auch nur letztes Mal vormittags geregnet und für heute ist für nachmittags Regen angesagt? : -)

heinzB
4 Jahre her
Antworten an  GNaB

Gute Frage??
Ich hoffe,die Sachsen holen sich ihr Land zurück,da es ja nicht nur um Jungwähler geht,sondern überwiegend um Nichtwähler,die nicht mehr tatenlos zuschauen wollen,was
die Blockparteien aus unserem Lande gemacht haben,bzw. noch machen werden!

Thomas Hellerberger
4 Jahre her
Antworten an  GNaB

In Dresden und Leipzig ist es klar die Angst der grünlinken Altbaubourgeoisie, vor einem Wahlsieg der AfD. Hier in Hessen überholte mich heute morgen auf der Autobahn A5 Richtung Norden (also Osten) um 10 Uhr mehrere Autos, mit Kennzeichen wie CB, ERZ bzw. GR mit einem Affenzahn – die hatten wohl die Briefwahl versäumt und wollten noch vor 18 Uhr im Wahllokal sein. Normalerweise fahren die Sonntags genau die andere Richtung, Richtung Arbeitsplatz in Frankfurt oder Stuttgart. Es wird davon abhängen, ob in Sachsen und Brandenburg die Provinz gegenhält, um die Grün- und PdL-Stimmen in Potsdam, dem Berliner Speckgürtel und… Mehr

Li PingPong
4 Jahre her

Ich wähle wie im „Osten“ !

honky tonk
4 Jahre her
Antworten an  Li PingPong

Das heißt hauptsächlich Altparteien inklusive neu lackierte SED?