Die Köche der guten Süppchen

Ein Berliner Juso-Funktionär träumt davon, Feinde zu erschießen. Medienaktivisten arbeiten daran, den WELT-Journalisten Rainer Meyer aus der Öffentlichkeit zu drängen. Beide Fälle sind exemplarisch für eine Gesellschaft, in der Argumente verschwinden – und lästige Leute als Feinde markiert werden.

Getty Images | Screenprint: via Twitter
Im Herbst 2015: Malu Dreyer (SPD) neben dem damaligen Mayener Juso-Vorsitzenden Johannes Schäfer

Dieser Text erzählt unter anderem von Bengt Rüstemeier, bis eben noch Mitglied des Berliner Juso-Landesvorstandes und immer noch Mitglied des Akademischen Senats der Humboldt-Universität Berlin, ein junger, andererseits nicht mehr ganz so junger Mann, der sich öffentlich seine Gedanken über die Erschießung bestimmter Menschengruppen gemacht hatte. Außerdem behandelt er die Empörung gegen den Welt-Autor Rainer Meyer alias Don Alphonso. Meyer schreibt nicht über das Erschießen bestimmter Leute. Auch markiert er keine anderen Personen als Ziel irgendwelcher Maßnahmen. Aus bestimmten Gründen halten ihn mehrere Medienmitarbeiter trotzdem für eine Person, die möglichst gründlich aus der Öffentlichkeit gedrängt werden sollte.

Einen SPD-Jungpolitiker und Juso-Funktionär mit Senatssitz in der Humboldtuniversität, der öffentlich Erschießungsphantasien pflegt, stellen wir uns eher nicht als Bürger vor, der sich in der gemäßigten Zone der spätmerkelianischen Republik wohlfühlt. Auf Bengt Rüstemeier trifft das trotzdem zu. Bis vor wenigen Tagen war er stellvertretender Vorsitzender der Jusos Pankow, gehörte dem erweiterten Berliner Juso-Landesvorstand Berlin an, sitzt im akademischen Senat der Humboldt-Universität und machte sich auf Twitter Gedanken über die Erschießung von Jungliberalen und Vermietern. Um Algorithmen zu umgehen, die bei dem Kurznachrichtendienst auf Wörter wie „erschießen“ reagieren, ersetzte er dabei das e durch das Euro-Zeichen oder eine 3, das o durch eine Null, vorsichtshalber erfand er auch das Wort „ershooten“. Ein Twitter-Post von ihm lautete übersetzt: „Jungliberale ershooten wann?“

— Benedikt Brechtken (@ben_brechtken) February 6, 2021

Ein anderer: „Ein v€rm1€7€rschw€!n (Vermieterschwein) persönlich zu €rsh0073n (erschießen) kann hilfreich sein aber, aber muss nicht notwendig voraussetzung sein“.

So etwas wie Empörung kam bei den Berliner Jusos nur sehr schleppend in Gang.
„Ich lese nur konkrete Lösungsansätze zur Bekämpfung der Gentrifizierung“, twitterte ein Mitglied aus Berlin-Mitte über Rüstemeiers Vorschlag, Vermieter umzulegen. Das „Referat Lehre und Studium“ im Asta der Humboldt-Universität legte den Hashtag „#SolidaritätmitBengt“ an und erklärte die Berichterstattung über seine Tweets zum eigentlichen Problem beziehungsweise zu „rechten Strategien“:

Zwischen Yachtclub und Gulag-Fantasie

Erst, als die SPD-Parteiführung ein wenig Druck ausübte – schließlich finden am 26. September in Berlin nicht nur Bundestags- sondern auch Abgeordnetenhauswahlen statt – rangen sich die Jusos zu einer Distanzierung von Gewalt durch, allerdings, ohne Rüstemeier zu erwähnen. Der legte dann seine Funktionen nieder und bat um „Entschuldigung für meine dummen und unbedachten Äußerungen. Mir ist klar geworden, dass diese Aufforderung als Aufforderung zur Gewalt verstanden werden können.“ Jedenfalls dann, wenn jemand die Überlegung, eine bestimmte Menschensorte zu erschießen, mutwillig als Gewaltaufforderung interpretiert.

Um nun zur bürgerlichen Zone zu kommen: Rüstemeier ist oder war zumindest bis vor Kurzem auch Mitglied im Blankeneser Segelclub e. V. und Gast im Yacht-Club Berlin.

Wäre seine politische Karriere ohne größeres Ruckeln weitergegangen, dann hätte er also auch dort weiter Kontakte knüpfen können, wo sich vielleicht der eine oder andere Vermieter findet. Aber wer weiß, möglicherweise kommt er ja auch wieder zurück in eine Spur, die irgendwann in ein Parlament oder in eine öffentlich finanzierte Organisation führt. Ein Facebook-Video, das Rüstemeier von sich selbst aufgenommen hatte, zeigt einen sehr dünnen, intellektuell und motorisch wenig begabten Jungen, der versucht, einen Artikel der Zeit von Jens Jessen wegen Sexismus zu kritisieren. Zwischen den Sätzen, die er in die Kamera spricht, isst er. Das Essen fällt ihm dabei mehrmals von der Gabel.

Seine rhetorische Anmut deckt sich mit seiner übrigen Eleganz. Sollte er jemals selbst dazu Anlauf nehmen, einen Vermieter oder Jungliberalen zu erschießen, dann würde die Aktion wahrscheinlich mit Selbstverletzung von Knie oder Fuß enden. Was diesen praktischen Punkt betrifft, können sich Beobachter des Berliner-Juso-, SPD- und Humboldtuniversitätskosmos vorerst beruhigen. Bengt Rüstemeier ist als Person uninteressant. Als soziale Figur verdient er allerdings Beachtung. Denn seine Erschießungs-Tweets ähneln in einem entscheidenden Punkt vielen anderen und vor allem geschickteren Äußerungen in seinem Milieu: nämlich in der Selbstverständlichkeit des Ressentiments. An keiner Stelle hält es Rüstemeier für nötig, seinen Hass auf Vermieter, Jungliberale und generell Nichtlinke überhaupt zu begründen. Er versteht sich von selbst. Irgendeine Ausführung, in der er sich mit seinen Feindbildern näher beschäftigen und Argumente vorbringen würde, findet sich bei ihm nirgends.

Zu allen Zeiten gehörte es zum Instrumentarium totalitärer Bewegungen, Hass auf bestimmte Personengruppen zur Selbstverständlichkeit zu machen. Das Ziel bestand immer darin, Argumente gegen den Feind zu reduzieren und irgendwann ganz darauf zu verzichten. In einer idealen Propaganda genügt die bloße Nennung. Etwa „Vermieter“. Oder „Jungliberaler“, „Liberaler“ oder „Rechter“. Die Assoziation, dass es sich um jemand handelt, der bekämpft werden muss, stellt sich als Reflex von selbst ein. Eine Debatte des Milieus kreist ab diesem Punkt nur noch um die Kampfmethode: Erschießen? Oder im Fall der Vermieter doch nur enteignen?

Beim dem argumentlosen Markieren von Einzelpersonen und Gruppen als Feinde handelt es sich nicht um den singulären Spleen eines dünnen Berliner Ex-Jusofunktionärs und Pendlers zwischen Yachtclub und Gulagfantasie, sondern um eine Praxis, die mittlerweile in der formal bürgerlichen Zone des besten Deutschlands aller Zeiten fest verankert ist. Beispielsweise im Tagesspiegel, ehemals Zeitung des bürgerlichen Berlin. Von dieser Bürgerlichkeit existieren heute noch Restbestände, etwa die Kolumne von Harald Martenstein, der deshalb auch von Tagesspiegel-Mitarbeitern angegiftet wird.

Im Tagesspiegel schreibt unter anderem ein Redakteur namens Gregor Dotzauer, der prinzipiell die gleiche Technik des begründungsfreien Markierens von Gegnern benutzt wie der Pankower Juso, nur deutlich geschickter in der Ausführung. Es handelt sich gewissermaßen um einen Rüstemeier mit Sprachkompetenz. Anfang Februar erschien im Tagesspiegel ein Text Dotzauers über das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, gegründet von 70 Wissenschaftlern, die sich gegen Einschüchterung, Diskussionseinschränkungen und diffamierende Angriffe auf Hochschulmitarbeiter durch Vertreter der Identitätslinken wehren. Mit dem Gründungstext des Netzwerks und den Angriffen auf Wissenschaftler wie die Islamforscherin Susanne Schröter oder den Historiker Jörg Baberowski hält sich Dotzauer nicht auf. Die Debatte selbst interessiert ihn ganz offensichtlich nicht. Er interessiert sich für Personen. Bei ihm heißt es unter der Überschrift „Bitte rechts abbiegen“ zunächst gönnerhaft:

„Insofern ist es gut, dass die Migrationsforscherin Sandra Kostner – ihr jüngstes Buch heißt reichlich polemisch „Identitätslinke Läuterungsagenda“ – und der Historiker Andreas Rödder, Mitglied der CDU, ein „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ (netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de) vorgestellt haben, das sich in einem Manifest ‚gegen ideologisch motivierte Einschränkungen’ der Debatte wendet. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde gehören unrechtmäßig gebrannte Kinder wie die Frankfurter Islamforscherin Susanne Schröter.“

Oh, eine Wissenschaftlerin schreibt ein Buch mit einem reichlich polemischen Titel. Und es gibt „unrechtmäßig“ Gebrannte, woraus folgt, dass es auch rechtmäßig Gebrannte geben muss. Und die listet Dotzauer auf:

Dossiers wie von Geheimdiensten: Wer trat wann wo auf?

„Zu unverdächtigen Konservativen kommt aber auch eine Reihe neurechter Zündler, etwa der Würzburger Neuhistoriker Peter Hoeres der emeritierte Althistoriker Egon Flaig oder der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski.“

Hinweise, wo die Verdächtigen gezündelt haben sollen, davon findet sich kein Wort. Dotzauer nennt kein einziges Werk der ’neurechten Zündler‘, zitiert nichts, bringt kein einziges Argument gegen sie vor. Er versieht sie begründungslos mit einer Markierung als Feinde. Egon Flaig etwa und Jörg Baberowski stehen nicht zufällig in dem Artikel und auf den Listen etlicher anderer, die ähnlich wie Dotzauer arbeiten.

Der Althistoriker Flaig zog sich den Zorn der identitären Linken und vor allem der modernen linksdrapierten Rassenideologen durch seine „Weltgeschichte der Sklaverei“ zu, in der er sowohl die Geschichte der Sklaverei als auch ihrer Abschaffung nachzeichnet. Zur dieser Historie gehört bei ihm die Tatsache, dass die meisten Afrikaner durch andere Afrikaner versklavt wurden, dass muslimische Händler mehr Sklaven in Afrika kauften als westliche, und dass die Bewegung zur institutionellen Abschaffung der Sklaverei nur im Westen entstand, kurzum, dass die Sklavereigeschichte sich komplexer liest als die schlichte Erzählung vom schuldigen Westen, die das Fundament der linken Antirassismus-Ideologie bildet. Der Historiker Jörg Baberowski gilt in diesem Milieu vor allem wegen seiner Arbeiten über den sowjetischen Kommunismus als Feind, weil er die Apologetik verweigert, der Stalinismus habe einen humanistischen Kern besessen, und bei seiner Massengewalt handele es sich um eine Verirrung. Flaigs und Baberowskis Geschichtsschreibungen werden auf der linken Seite des politischen Spektrums als ärgerlich und störend empfunden, umso mehr, als es dort bisher niemand schaffte, substanzielle Gegenargumente aufzubieten.

Das gleiche gilt für die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter: Die Professorin an der Universität Frankfurt beschäftigt sich seit Jahren mit dem Versuch von Vertretern des politischen Islam, in die Institutionen westlicher Länder vorzudringen, und sich mit dem Schlagwort ‚Islamophobie‘ gegen Kritik zu immunisieren. Auch das empfinden linke Gruppen und ihre islamistischen Alliierten als lästig, weshalb sie gern den Debattenraum für Schröter enger machen und am besten ganz beseitigen würden. Als sie an der Hochschule eine pluralistisch besetzte Konferenz zum Thema Kopftuch organisierte, marschierte eine Mob mit der Parole „Schröter raus“ auf.
Neben dem Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit, das für ihn fraglos ein Rechtsabbiegen darstellt, befasst sich Dotzauer auch mit den Unterstützern des „Appells für freie Debattenräume“.

Der habe, wie er im Tagesspiegel schreibt, „im September 2020 auch klar rechtspopulistische Unterstützer angezogen“. Als „rechtspopulistischen Unterstützer“ (beziehungsweise Unterstützerin) nennt Dotzauer unter anderem die Schriftstellerin Monika Maron. Auch hier verrät er nicht, was er ihr eigentlich vorwirft. Zur Rufkampagne gegen Maron gehört unter anderem die stereotype Wendung, ihre Figuren – etwa in ihrem Roman „Artur Lanz“ – kritisierten den Islam. Und?

Abgesehen davon stellt sich bei dem Verdikt ‚Rechtspopulismus’ die Frage, warum er schlechter sein soll als Linkspopulismus, also einer Haltung, die von der Linkspartei bis zu CDU-Mitgliedern wie Ruprecht Polenz reicht und dazwischen große Teile des Kultur- und Medienbetriebs einschließt.

„Antikonformismus kann eine schöne Tugend sein“, schließt Dotzauer seine Auflistung: „Sie nicht denen zu überlassen, die sie sich auf die Fahne geschrieben haben, dabei aber ihr eigenes Süppchen kochen, ist die Pflicht jedes denkenden Menschen.“

‚Ihr eigenes Süppchen kochen’: diese nach Neues Deutschland und Kurt Hager riechende Wendung passt zu Gesinnungsnotaten wie „Zündler“ und „klar rechtspopulistische Unterstützer“ auch besser als: ihre eigenen Bücher schreiben oder argumentieren, wenn auch nicht zum Gefallen von allen und jedem.

Mit einem ähnlich läuseknackerischen Eifer arbeitet sich Dotzauer in einem anderen Tagesspiegel-Beitrag an dem Würzburger Historiker Benjamin Hasselhorn ab. Der weckte das Missfallen der Köche richtiger Suppen durch seinen Auftritt als Sachverständiger im Kulturausschuss des Bundestages. Dort ging es um die Frage, ob und wie stark die Hohenzollern vor und nach 1933 die Nationalsozialisten unterstützt hätten. Mit dem Argument, diese Unterstützung sei groß gewesen, versucht eine Allianz von Linkspartei bis SPD mit medialer Begleitung und unter besonderer Unterstützung durch den ZDF-Mitarbeiter Jan Böhmermann, einen Ausgleich über Vermögensgegenstände zwischen Staat und den heutigen Hohenzollern zu entscheiden – nämlich durch die Abweisung sämtlicher Ansprüche der Nachgeborenen. Hasselhorn, Autor des Buchs „Königstod. 1918 und das Ende der Monarchie in Deutschland“ sieht die Rolle der damaligen Hohenzollern beim Aufstieg der Nationalsozialisten allerdings deutlich differenzierter, als es sich die Hohenzollern-Enteignen-Front wünscht. Seitdem versuchen Strichlistenführer, Hasselhorn zum Rechtsradikalen zu framen. Das begann mit einem Artikel in der Süddeutschen („Wie eng Konservative und Rechtsradikale verstrickt sind“ ).

Screenprint: sueddeutsche.de

Nach bewährtem Muster geht es gar nicht um das, was Hasselhorn schreibt, was er vor dem Kulturausschuss des Bundestages vorgetragen hatte, wie seine Argumente lauten. Sondern darum, dass sein Historiker-Doktorvater (Hasselhorn ist promovierter Historiker und Theologe) vor vielen Jahren einmal einen Vortrag an einem Institut gehalten habe, das die Süddeutsche als „rechten Think Tank“ sieht.

Noch schlimmer: Hasselhorns Theologie-Doktorvater, weiß das Münchner Blatt, habe in der NZZ zu „Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit“ in der Hohenzollerndebatte gemahnt. („Da sieht man’s mal wieder“ – Karl-Eduard von Schnitzler).

Nach diesem Muster geht auch Dotzauer vor. Bei ihm ist Hasselhorn eine „schillernde Persönlichkeit“, selbstredend, ohne dass eine Begründung für diese Bezeichnung folgt. Dotzauer hält ihm vor, „eine Eloge auf den kanadischen Psychologieprofessor Jordan Peterson“ geschrieben zu haben, der wiederum „von amerikanischen Alt-Rightisten heiß verehrt“ werde – was immer das nun für Peterson und Hasselhorn bedeutet. Außerdem habe Hasselhorn einen Text zu der Festschrift „zum 60. Geburtstag des revisionistischen Historikers Karlheinz Weißmann“ beigesteuert. „Revisionistisch“ ist ein fluider Begriff. Wann und wo Weißmann etwas Revisionistisches vorgetragen haben soll, und was Hasselhorn wiederum damit zu tun hat, dazu liefert Dotzauer keinen sachdienlichen Hinweis.

Gegen die Verrufskampagne unterstützten mehrere Kollegen Hasselhorn, wie Dotzauer vermerkt: „Neben dem HU-Historiker Jörg Baberowski hat sich auch Hasselhorns Würzburger Chef Peter Hoeres, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte, damit hervorgetan.“ Hoeres habe „kein Interesse daran“, sich „gegen das Dumpfbackentum der AfD abzugrenzen“; er sei „schon zweimal in der Berliner Bibliothek des Konservatismus aufgetreten, einem rechten Thinktank“. Außerdem schreibe er für Tichys Einblick. Abgesehen davon, dass es sich bei der „Bibliothek des Konservatismus“ um eine Bibliothek und einen Veranstaltungsort handelt, aber keinen „Thinktank“, und dass sie mit keiner Partei verbunden ist, fehlt auch hier die Pointe. Der Autor verrät nicht, was ihm an einem Auftritt in der BdK nicht passt, und was er dagegen hat, wenn jemand für „Tichys Einblick“ schreibt. Ihn scheint auch gar nicht zu interessieren, was Hoeres dort oder woanders publiziert, also das, was früher einmal Inhalt hieß. Dotzauer liefert keinen Beitrag zu einer intellektuellen Auseinandersetzung, er findet noch nicht einmal wieder zu seinem eigenen Ausgangspunkt zurück, nämlich der Frage, was die Auftritte anderer Leute anderswo mit Benjamin Hasselhorn und dessen Sicht auf die Hohenzollern zu schaffen haben soll. Das, was der Tagesspiegel-Redakteur, der anderen Dumpfbackigkeit vorhält, selbst dumpf zusammenbäckt, sind keine journalistischen Texte. Es sind Dossiers in Stil eines Nachrichtendienstes: Welche Person kennt eine andere, wer hat sich wann an welchem Ort aufgehalten? Was hatte jemand, der die Zielperson X kennt, vor zehn Jahren getan? Das MfS stellte ähnliche Übersichten unter dem Stichwort „Wer ist wer?“ zusammen.

Etwas elaborierter als Rüstemeier betreibt Dotzauer die gleiche Praxis: Er markiert begründungslos Personen, die ihm nicht passen. Andere wiederum zitieren aus Dossiers dieser Sorte. Es findet eine gewisse Arbeitsteilung statt: Die einen legen Listen von Personen an, die unter die weitgefasste Kategorie Nichtlinke fallen. Sie stellen fest, dass diese Personen ein Problem darstellen, das in ihrer Existenz selbst liegt. Andere signalisieren, dass etwas unternommen werden muss.

Dazu kommen Andeutungen, dabei dürfte es auch gröber zugehen, etwa von der Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski („Antifa ist Handarbeit“). Oder der taz-Autorin mit dem Pseudonym „Veronika Kracher“, die den Überfall auf den AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz ausdrücklich lobte. Der nächste macht sich plakativ Gedanken über das Erschießen von Angehörigen einer bestimmten Kategorie, und erntet damit bei Jusos der Humboldt-Universität erst einmal Zustimmung („#SolidaritätmitBengt“). Zur Tat ist dann nur noch ein kleiner Schritt, für den sich auch der eine oder andere findet. An der Humboldt-Universität agitieren Studenten im akademischen Senat und außerhalb schon lange gegen den Historiker Jörg Baberowski, hauptsächlich mit Unterstellungen und gefälschten Zitaten. Sie verhinderten mit der Stimmungsmache die von ihm geplante Gründung eines interdisziplinären Zentrums für Diktaturforschung an der Hochschule. Auch dieses Zentrum wäre für dieses Milieu eine ärgerliche Angelegenheit gewesen.

Dem BZ-Journalisten Gunnar Schupelius – auch ein Markierter – der sich regelmäßig mit den Verbindungen zwischen Politikern der Regierungsparteien in der Hauptstadt und Linksextremisten befasst, zündeten eben diese Linksextremisten das Auto an
– verbunden mit der Empfehlung, sich künftig andere Themen zu suchen. Bei dieser Tätigkeit handelt es sich übrigens um echtes Zündeln.

Ein Trupp Linksextremer überfiel in Zürich den Weltwoche-Journalisten Alex Baur und dessen Frau, wobei Baur sich aber wehren konnte. Baur gehört ebenfalls zu den Leuten, deren Arbeit andere ärgert. Unter anderem wies er mit einer Recherche nach, dass der größte Teil aller deutschsprachigen Wikipedia-Einträge zu Klima und verwandten Themen von einer einzigen Person stamm, die, wie auch immer finanziert, die Meinungsmonopolisierung praktisch in Vollzeit betreibt.

Der Mitarbeiterin einer Immobilienfirma in Leipzig, also einer Figur, die im weitesten Sinn Vermietern zugerechnet wird, stattete eine „Kiezmiliz“ einen „Hausbesuch“ in ihrer Wohnung ab; ein Täter boxte ihr ins Gesicht.

Natürlich besteht noch ein großer Unterschied zwischen universitärem Psychoterror und Behinderung der Forschung, dem Anzünden eines Autos, dem Überfall auf jemand in dessen Wohnung und dem Erschießen. Aber all diese Akte der Eskalation unterscheiden sich auch sehr von den Zuständen einer zivilen Gesellschaft, in der es allgemein als normal gilt, dass andere Leute andere Ansichten haben, ob nun zur Geschichte der Sklaverei, zum Kommunismus oder zur Funktion des privaten Eigentums. In einer zivilisierten Gesellschaft kann jeder an einem Streit teilnehmen, sollte aber dafür, gewissermaßen als allgemeine Teilnahmeberechtigung, so etwas wie Argumente vorzeigen. Wer keine Argumente vortragen, sondern nur missliebige Personen und Gruppen markieren will, der gehört dafür gesellschaftlich geächtet. Auch, wenn er dafür nur publizistische Hilfsdienste leistet.

Die Markierung Missliebiger findet auch von Rechtsaußen statt, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Diese Markierer und ihre Hilfskräfte sitzen nicht in regierungstragenden Parteien und Hochschulgremien, sie erhalten keine publizistische Unterstützung von großen Medien, öffentlich-rechtlichen Anstalten und von journalistischen Aktivisten im Dunstkreis etwa der „Neuen Deutschen Medienmacher“, einer Organisation, die üppige Summen direkt aus dem Etat des Kanzleramtes bezieht.

Eigentlich geht es nur um eine markierte Zielperson

Interessant ist die Reaktion des wohlmeinenden Milieus, wenn ihre Mitglieder nicht nur Druck ausüben, sondern sehr gelegentlich auch Druck erfahren. Am 3. Februar 2021 veröffentlichte die Zeit einen Text der Autorin Antonia Baum mit der Überschrift „Markierte Zielpersonen“.

In diesem Artikel geht es eigentlich nur um eine markierte Zielperson: den Autor Rainer Mayer, der in der Welt unter dem Nome de plume Don Alphonso schreibt. Auch Mayer gehört – wie Flaig, Baberowski, Hasselhorn und etliche andere – wegen seiner Publikationen zu der Kategorie der ärgerlichen Personen. Vermieter ist er auch noch. Baum fasst in ihrem Zeit-Text ein so genanntes Narrativ zusammen, das Angehörige des wohlmeinenden Milieus schon seit Monaten in ihren Debattenforen herauf- und herunterrollen. Es hört sich, kurz gefasst, so an: Don Alphonso befasst sich in seinen Texten immer wieder mit Protagonisten dieses Milieus und erregt damit deren Missfallen. Mal weist er ihnen nach, dass sie alternative Fakten verbreiten, die man etwas direkter auch Lüge nennen kann. Mal geht es um Hass- und Hetzattacken der Guten, die sich bekanntlich sehr gegen Hass und Hetze engagieren und dafür gern öffentliches Geld und Preise entgegennehmen.

Diese Details kommen bei Baum allerdings nicht vor, sondern nur die behaupteten Auswirkungen: Figuren, die in Don Alphonsos Texten eine Rolle spielen, erhalten nach eigenen Angaben im Netz ab und zu unfreundliche Reaktionen. Wohlgemerkt: ihnen wird nicht das Auto angezündet, sie werden nicht überfallen und geschlagen. Es stellt kein Jungpolitiker einer Regierungspartei leicht verschlüsselt die Frage auf Twitter, wann sie erschossen werden. Aber sie empfangen nach eigenen Angaben unfreundliche Mails oder Twitterbotschaften. Daran, vermutet Baum, ohne Belege zu präsentieren, sei Don Alphonso indirekt schuld:

„Ohne selbst je in einen justiziablen Bereich zu geraten, lenkt Meyer die Aufmerksamkeit seiner Fans in seinen Artikeln und Tweets auf bestimmte Menschen, die er nicht zu mögen scheint. Diese Menschen – manchmal auch ihre Familien – sind dann teilweise über Jahre hinweg Beschimpfungen, Vergewaltigungs- und Morddrohungen ausgesetzt, mutmaßlich ausgehend von den mutmaßlich rechtsextremen Rainer-Meyer-Fans.“

In ihrem Text listet Baum diejenigen auf, die Opfer von Mails und Tweets der Meyer-Fans sein sollen. Es kommen dort beispielsweise Anna-Mareike Krause vom RBB und die Aktivistin Anne Wizorek vor. Beide hatten im Januar 2016 nach den massenhaften Silvester-Übergriffen in Köln die Lügengeschichte in Umlauf gesetzt, das Oktoberfest in München sei noch viel schlimmer, nur spreche darüber keiner. Wizorek verbreitete im ZDF die Mär über eine „inoffizielle Dunkelziffer“ von hunderten Vergewaltigungen, die frei erfunden war. Krause assistierte mit einem Tweet zum gleichen Thema. Rainer Mayer schrieb darüber (damals noch in der FAZ), wo er das Lügengebilde der beiden sezierte.

Es tritt weiter als Opfer auf: Natascha Strobl, die im vergangenen Jahr von der „Panorama“-Redaktion aufgeboten wurde, um als „Rechtsextremismus-Expertin“ einen Bundeswehroffizier wegen einiger Likes und einem Vortrag im Studienzentrum Weikersheim als Rechtsradikalen an den Pranger zu stellen. Meyer wies nach, dass Strobl sich selbst intensiv in linksradikalen Kreisen bewegt. Als Kronzeugin in Sachen politischer Ränder eignet sie sich also schlecht; eine ARD-Redaktion, die mit derart unterschiedlichen Maßstäben hantiert, darf man wohl als verlogen bezeichnen.

Apropos verlogen: Meyer wies auch nach, dass eine „Panorama“-Vertreterin mit der Behauptung gelogen hatte, die Redaktion hätte den Klarnamen des Offiziers zunächst nicht genannt. Solche Recherchen sind natürlich ärgerlich und nicht hilfreich. Rückgängig machen lassen sie sich trotzdem nicht.

Ein weiteres Opfer aus Baums Liste heißt Sibel Schick, eine Twitter-Aktivistin, die sich offen für Rassismus gegenüber Deutschen zeigt und Männer in einem Text generell als Arschlöcher markierte: „Du sagst: „Nicht alle Männer sind gleich. Ich sage: „Ist das nichtirrelevant vielleicht? Denn es ist ein strukturelles Problem,
Und ja, es ist kein individuelles Problem Und nein, es geht nicht um Ausnahmen, Denn es ist ein weltweites Phänomen, Dass Männer Arschlöcher sind.“
(Leider ist Schick auch eine miserable Autorin, der Verfasser bittet um Nachsicht für dieses Zitat).

Einen Platz auf Antonia Baums Opferliste bekommt auch Julia Schramm, ehemals Mitarbeiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung, dort übrigens Spezialisten gegen Hate Speech, die sich auf Twitter eine zweite Bombardierung von Dresden wünschte. Auch der frühere Spiegel-Redakteur Hasnain Kazim zählt dazu, der öffentlich dadurch auffiel, dass er Ostdeutsche generell für minderwertige Menschen hält.

In den USA nennt sich diese Technik reverse trolling: Das möglichst pauschale Beleidigen bestimmter Gruppen vorzugsweise auf Twitter mit dem Ziel, möglichst viele Gegenreaktionen zu erhalten. Einige davon sind natürlich beleidigend, manche justiziabel, sie dienen also dazu, die eigene Wichtigkeit zu stärken, den Opferstatus herauszustreichen, mehr Einfluss zu fordern und sich gegen Kritik zu immunisieren.

Über die Lügereien und Manipulationen etwa von Wizorek und Panorama, denen Meyer jeweils hinterherrecherchierte, verliert Baum in der Zeit kein Wort. Das toxische reverse trolling streift sie ganz kurz mit der schönen Formulierung, manche der Schützlinge auf ihrer Opferliste „kultivieren einen zugespitzten Ton“.

Dass Leute, die Männer, Ostdeutsche und generell Deutsche für minderwertig halten oder sich Brandbomben auf eine Stadt wünschen, vielleicht auch ganz ohne Rainer Meyer die eine oder andere unfreundliche Rückmeldung bekommen würden, scheint für Baum eine geradezu exotische Idee zu sein. Für Journalisten wie sie gibt es im Milieu der Guten & Gerechten die Bezeichnung „Ally“, Verbündeter. Ein Ally befasst sich nicht mit den verschiedenen Seiten eines Themas. Er oder sie stellt sich verständnisvoll und gelegentlich übervoll auf die einzig richtige Seite. Als gutem Ally fällt Baum nicht auf, dass Meyer eben nicht Personen und Gruppen markiert und irgendjemand argumentlos als minderwertig bezeichnet, geschweige denn, dass er eine ähnlich toxische Sprache wie Schick, Schramm oder Kazim benutzt, oder eben der in progressiven Kreisen schnell entschuldigte Bengt Rüstemeier. Vermutlich wäre es der Panorama-Redaktion sogar lieber, wenn Meyer das täte, statt eine Gegenrecherche zu einer Sendung zu starten. Meyer lenkt auch nicht, wie Baum behauptet, die Aufmerksamkeit auf Leute, die er nicht leiden kann, sondern er leuchtet ein Milieu aus. Aufmerksamkeit suchen Leute wie Wizorek, Strobl, Schick, Schramm und andere ja selbst, und zwar außerordentlich intensiv.

Dass Rainer Meyer selbst immer wieder Gewaltdrohungen von Linksaußen erhält, erwähnt Baum nur sehr kurz und indirekt, indem sie Welt-Chefredakteur Ulf Poschard mit einem entsprechenden Satz dazu zitiert. In diesem Fall sieht sie keine indirekten publizistischen Schuldigen. Sie befasst sich auch nicht weiter damit.
Ziel und Zweck von Baums Beitrag besteht ziemlich unverhohlen darin, Druck auf die Chefredaktion der Welt auszuüben, um Meyers Entlassung zu erreichen. Außerdem seine Entfernung aus der Jury des Bundestags-Journalistenpreises. Falls das nicht gelingt, möchte sie es zumindest skandalisieren, dass eine Zeitung Meyer beschäftigt, und der Bundestagspräsident an der Berufung in die Jury festhält.
Wie in guten Kreisen üblich findet sie auch dafür wiederum einen politischen Ally, den Linkspartei-Bundestags-Abgeordneten Stefan Liebich, der nicht nur die Entfernung Meyers aus der Jury verlangt, sondern auch ein Argumentsurrogat dazu vorträgt: Mayer sei ein „schlechter Mensch“.

Warum Liebich das Problem für sich nicht einfach dadurch löst, dass er sein Bundestagsmandat zurückgibt, gehört wahrscheinlich zu den ärgerlichen und nicht hilfreichen Fragen, auf die ein Adressat in diesen Kreisen meist mit einem Mienenspiel reagiert, als würde seine Wurzelspitze angebohrt, oder als hätte er gerade ein Ferienwochenende mit Karl Lauterbach gewonnen. Stellen möchte ich sie trotzdem.

Anhand der Fälle Bengt Rüstemeier, Rainer Meyer und den Protagonisten dazwischen lässt sich das Weltbild der Guten & Gerechten ganz gut ausleuchten: Sie möchten von lästigen und ärgerlichen Publikationen und Forschungen verschont bleiben, von Recherchen, überhaupt von jeder Beschreibung ihrer Tätigkeit, die nicht von einem Ally vorgenommen wird. Sie möchten Jurysitze, Redaktionsjobs und andere Einflussmöglichkeiten exklusiv für sich und Allies. Darüber hinaus beanspruchen sie das Recht, alles, was ihnen missfällt, ob einzelne oder Gruppen, zu markieren, mit toxischem Vokabular zu überziehen, Listen anzulegen und gelegentlich über Methoden der Exekution zu sinnieren. Gibt es eine unfreundliche Gegenreaktion, dann müssen zum Ausgleich noch mehr Ally-Artikel, Preise und Staatsgeld her. Dieses Geschäftsmodell ruht auf der tiefen Überzeugung, dass einander in der Gesellschaft nicht Bürger mit gleichen Rechten gegenübertreten, sondern manche – nämlich sie selbst – argumentfrei mehr Definitionsmacht besitzen sollten als andere.

In einem Beitrag, in dem Baum vor einiger Zeit versuchte, mit ganz ähnlichen Methoden den konservativen FAZ-Autor Simon Strauß zu markieren und nur halbverblümt seine Entlassung zu fordern, schrieb sie:
„Es geht um publizistische Macht, den Zugang zu ihr und die Frage, wem das Sprechen ermöglicht wird.“

An Zeit wie Tagesspiegel ist der Verleger Dieter von Holtzbrinck beteiligt. In beiden Blättern versieht Giovanni di Lorenzo das Amt des Herausgebers. Eine Frage an beide: Möchten Sie in einer Gesellschaft leben, in der Argumente und Debatten verschwinden, und stattdessen Dossiers über Personen angelegt werden? Fühlen Sie sich in dieser radikal verarmten Welt wohl? Möchten Sie, dass Personen und Gruppen als Feinde markiert werden können, denen grundsätzlich weniger öffentlicher Raum zustehen als anderen? Fürchten Sie übrigens nicht auch, dass die Methoden bleiben, aber die politischen Vektorpfeile irgendwann die Richtung ändern könnten?

Rechte und Linke bis zu den radikalen Rändern gehören zu jeder zivilen Gesellschaft. Wer auf andere mit dem Finger zeigt und „rechts“ schreit, sollte prinzipiell nicht anders gesehen werden als jemand, der den Finger hebt und ihm die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zuruft oder seine Hautfarbe nennt.

Giovanni de Lorenzo: Sie hätten Einfluss genug, um diese toxische Entwicklung zu bremsen. Abgehen davon, dass nicht jeder Geld für Dossiers in Zeitungen ausgibt, die andere Aktivisten kostenlos ins Netz stellen.

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