EU: Belgien und Deutschland am stärksten von massivem Einbruch der Chemieindustrie betroffen

Europas Chemieindustrie bricht ein und mit ihr gleich zwei Schwergewichte: Deutschland und Belgien. Energiepreise, Billigimporte und Brüsseler Regulierungswut treiben eine Schlüsselbranche zunehmend in die Deindustrialisierung.

IMAGO
Raffinerie-Hafen in Antwerpen

Belgien und Deutschland haben die Hauptlast eines starken Abschwungs in Europas Chemieindustrie getragen. Der Sektor schrumpft rapide; im April ist laut einem Eurostat-Bericht vom 13. Juni der Handelsüberschuss Europas im Chemiesektor fast um die Hälfte gesunken, von 42,8 Milliarden Euro im März auf 22,1 Milliarden Euro.

Dieser Rückgang drückte den gesamten Handelsüberschuss der Eurozone im April von 37,3 Milliarden auf 9,9 Milliarden Euro. Hans Dewachter, Chefökonom der belgischen Bank KBC, sagte am 17. Juni gegenüber Brussels Signal, die chemische Produktion in Europa sei besonders gefährdet.

„Produktionsprozesse im Chemiesektor erfordern sehr viel Energie. Es wird deutlich mehr Energie benötigt, um chemische Verbindungen herzustellen als beispielsweise Möbel“, sagte er. Die Krise wird durch die Energiepreise angetrieben. Erdgas in Europa ist weiterhin mehr als dreimal so teuer wie in den USA. Das hat laut Experten die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents bei wichtigen Chemikalien wie Ethylen, Propylen und Ammoniak zunichtegemacht.

Der Europäische Chemieverband (Cefic) berichtete, dass die Nachfrage weiterhin schwach sei. Deutsche und US-amerikanische Industriekunden reduzierten ihre Bestellungen, während die europäische Produktion deutlich unter dem Normalniveau blieb. Cefic rechnet nun für 2025 mit einem Produktionswachstum der Chemieindustrie von weniger als 0,5 Prozent. Deutlich weniger als 2,5 Prozent im Vorjahr. Die Chemieindustrie ist zentral für die belgische und die deutsche Wirtschaft. Beide Länder verfügen über große integrierte Chemiecluster, in denen Raffinerie, Petrochemie, Kunststoffproduktion und Hightech-Fertigung miteinander verbunden sind.

Der Sektor sicherte direkt Tausende hochbezahlter Industriearbeitsplätze und beeinflusste indirekt Branchen wie Automobil, Bau, Pharma und Elektronik. Wenn der Chemiesektor schrumpft, geraten ganze industrielle Ökosysteme in den Regionen unter Druck. In der belgischen Stadt Antwerpen teilte TotalEnergies, ein französischer multinationaler Energiekonzern, mit, dass man im Jahr 2027 einen seiner älteren Ethylen-Cracker nach Jahren geringer Auslastung stillgelegt habe.

Tom Claerbout, Direktor für Public Affairs bei TotalEnergies, erklärte, die Schließung sei erfolgt, nachdem ExxonMobil einen wichtigen Kaufvertrag gekündigt habe. „Es ist eine Entscheidung, die auf Angebot und Nachfrage basiert“, sagte er. Ivan Pelgrims, Europachef beim Chemiekonzern Evonik mit Sitz in Deutschland, warnte im Mai, dass Europa seine industrielle Basis verlieren könnte, wenn die Regeln nicht angepasst würden. Er forderte gleiche CO₂-Abgaben für importierte Produkte und heimische Produktion, wobei die Einnahmen in „grüne“ Technologien investiert werden sollten.

Dewachter erklärte, Belgien und Deutschland seien wegen ihrer industriellen Struktur besonders verwundbar. Beide Länder seien stark abhängig von energieintensiven Branchen wie der Chemie. Höhere Arbeitskosten verschärften den Nachteil zusätzlich. „Belgien und Deutschland sind sehr energieintensiv. Deutschland sogar noch mehr“, sagte er. Die Europäische Kommission hat eine Taskforce zur Überwachung von Importen eingerichtet. Am 7. April kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, das System werde Zolldaten überwachen, um plötzliche Anstiege bei Billigimporten zu erkennen. Die jüngsten im Mai veröffentlichten Daten zeigen, dass insbesondere die Chemiebranche besonders gefährdet ist – vor allem gegenüber China, Indien und den USA.

TotalEnergies investiert weiterhin in die Anpassung seines Standorts in Antwerpen. Ein neues Projekt für den umstrittenen grünen Wasserstoff soll bis 2027 in Betrieb genommen werden. Ann Veraverbeke, Standortleiterin, sagte, laufende Investitionen seien notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Anlage zu sichern. Jim Ratcliffe, Eigentümer des britischen multinationalen Chemie- und Energiekonzerns INEOS, warnte am 10. Juni, dass die Hälfte der in Antwerpen ansässigen Industrie – dem zweitgrößten Hafen Europas – in den nächsten zehn Jahren verschwinden könnte. Bei einem Besuch einer Baustelle, auf der INEOS derzeit Europas nachhaltigsten Ethan-Cracker errichtet, erklärte Ratcliffe, dass er diese Anlage heute nicht mehr an diesem Ort bauen würde, wenn er das Projekt neu beginnen müsste: „Es war zu herausfordernd, und die erzwungenen Unterbrechungen haben uns Hunderte von Millionen gekostet.“

„Project ONE ist der erste neue Cracker in Europa seit einer Generation und genau das ist das Problem. Während der Rest der Welt über 20 neue Cracker baut, steuert Europa schlafwandelnd auf einen industriellen Niedergang zu“, sagte er.

Mit einer Investition von 4 Milliarden Euro sei das Projekt – laut INEOS die „größte Investition in die Chemie seit einer Generation“ – mittlerweile zu 70 Prozent fertiggestellt. Derzeit arbeiten 2.500 Menschen auf der Baustelle. Ratcliffe kritisierte hohe Energiekosten, langwierige Genehmigungsverfahren und belastende CO₂-Steuern als Faktoren, die Investitionen abwürgten. INEOS unterstütze Europa mit einem Milliardenprojekt, könne das aber nicht allein schultern. „Wir brauchen dringend politischen Willen und industriellen Ehrgeiz, sonst werden wir zusehen müssen, wie Europas Chemieindustrie verschwindet“, sagte er.

Ende April hatte bereits TotalEnergies einen Ethylen-Cracker in Antwerpen geschlossen – 253 Arbeitsplätze gingen verloren.


Dieser übersetzte und erweiterte Beitrag ist zuerst bei Brussels Signal erschienen.

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Kommentare ( 24 )

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AnSi
19 Tage her

Tja, und dann stellt sich so ein Möchtegern-Kanzler mal eben (ungestraft!) vorne hin und sagt: „Nordstream II wird nie wieder in Betrieb genommen werden!“
Noch Fragen? Macht den Laden dicht! Bringt eh nichts mehr. Der Letzte macht das Licht aus!

Autour
21 Tage her

Tja die EU und Dummland setzen 100% auf Renewablility und 100% auf Biobased… gut dass man dann 1000% mehr für den Rohstoff zahlt… das verstehen halt nicht alle, und so setzt es sich fort Quotenprofessoren unterstützen diesen Wahnsinn mit absurden Theorien und befeuern den Abstieg Europas… Man muss sich nur mal mit den europäischen Forschungsprojekten befassen! Wenn da nicht mindestens 55% Frauen in der Leitung sind und mind. ein Partner aus der Ukraine und bald sogar Palästina kommt = KEINE CHANCE! Ja man glaubt es nicht aber palästinensische Forscher werden von der EU in Projekten bald bevorzugt! Tja, das war… Mehr

Phil
21 Tage her

Ohne günstiges Erdgas gibt es keine Ammoniaksynthese in Europa, dadurch auch keinen Sprengstoff und keinen Kunstdünger mehr, da können unsere Politiker in Brüssel sagen und überprüfen was sie wollen. Wir können uns entscheiden, ob wir und unsere Kinder hier wehrlos verhungern sollen, oder den ganzen Klimablödsinn beenden und 4/5 aller Bürokraten und Politiker an den Nordpol schicken, die Planwirtschaft und alle Subventionen beenden und uns wieder um Innovation und Marktwirtschaft kümmern. Erhard war, was viele nicht wissen, ein Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie, ebenso wie Milei in Argentinien. 2024 hat die UNICEF verkündet, dass Mileis (gemäss deutschen Medien „ultrarechte,… Mehr

Hugohugo
21 Tage her

Hurra die ideotischen Sanktionen gegen Russland und die geniale Energiewende wirken. Wer hätte das gedacht.

Haba Orwell
21 Tage her

> Energiepreise, Billigimporte und Brüsseler Regulierungswut treiben eine Schlüsselbranche zunehmend in die Deindustrialisierung.

Oft lese ich, die Brüsseler Regelungswut wird zum großen Teil von Buntschland aus veranlasst – weil sie für allerlei Murks bequeme Rechtfertigung liefert.

merkelinfarkt
21 Tage her

Statt die sofortige Abschaffung der CO2-Abgabe zu fordern, fordert der Vorstandsvorsitzende der deutschen Evonik, Herr Pelgrims, die gleichen CO2-Abgaben auf chemische Importprodukte, die dann für „green“ zu verwenden seien…
Haben wir hier einen Gläubigen des „menschengemachten Klimawandels“, der den großen Blödsinn zur Staatsabzocke seiner Gesellschaft nicht begreift und für gerecht und richtig hält? Oder bekommt er für das Nachbeten der grünen Litanei heimliche Subventionen? Wie auch immer – Aktien von Gesellschaften mit solcher Führung kommen mir keinesfalls ins Erfolgsdepot.

Last edited 21 Tage her by merkelinfarkt
Ornhorst
21 Tage her

Die Welt wird gerade immer gefährlicher und kriegerischer. Ich meine, nicht nur die in unserer Innenstadt. Wer bis drei zählen kann, der weiß, dass wir die chemische Industrie so dringend brauchen wie selten zuvor. Polymere, Treibstoffe, Explosivstoffe. Da wären wir bei drei.
Aber was tut unsere Politik? Sie fantasiert mit Unsummen, schaut aber zu, wie die Grundstoffindustrie das Land verlässt und sich verschlechtert.

Phil
21 Tage her
Antworten an  Ornhorst

Die einfache Gleichung lautet:
Chemische Industrie = Billiges und reichlich verfügbares Erdgas
Was in der Vergangenheit insofern auch kein Problem war, da wir per Leitung auf dem direkten Weg an unseren damalig günstigen und zuverlässigen Hauptlieferanten angeschlossen waren.

Die Sprengung von Nordstream bedeutete nichts weniger als die Vernichtung der Zukunft des Industriestandortes Deutschland. Dies war eine offene Kriegserklärung an die Adresse Deutschlands, der deutschen Industrie, Regierung und Bevölkerung. Das diesbezügliche Schweigen der Regierung und Medien spricht Bände. Ich habe, ausser nach Corona, noch nie ein solch umfassendes Totschweigen erlebt.

Lafevre
21 Tage her

Wo sollen eigentlich die Akademiker bis 69 arbeiten? Am Lehrstuhl für Genderwissenschaften? Das wird der Wertschöpfung sicher helfen.

Lafevre
21 Tage her

Man kann entweder Grüne oder eine chemische Industrie haben. Zu der übrigens auch die Pharmasparte gehört. Grüne Politik ist der grösste Anschlag auf die europäische Zivilisation seit dem Ende des 2. Weltkrieges.

Ornhorst
21 Tage her
Antworten an  Lafevre

Wenn dem so wäre, dann müsste ich sagen, dass Sie so viel von Chemie verstehen wie der durchschnittliche Abgeordnete der Grünen. Chemische Produkte durchziehen unser ganzes Leben. Ohne Chemie wären wir zum guten Teil nackt, alle Nase lang krank, hätten Mangelerscheinungen durch Hunger usw. usf.

Donostia
21 Tage her
Antworten an  Ornhorst

Ich glaube Sie haben den Text von Lafevre missverstanden.

Lafevre
21 Tage her

Wenn Belgier die Interessen Deutschlands besser vertreten als bundesdeutsche Volksvertreter…