Thilo Sarrazin: Portrait eines verwechselten Unverwechselbaren

Thilo Sarrazin, wie sind Sie so geworden, wie Sie sind? Beim TE-Gespräch treffen diesmal Air Türkis (18) und Thilo Sarrazin (75) aufeinander. Ein Gespräch zwischen zwei Generationen und über gesellschaftliche Brüche hinweg.

 

In Thilo Sarrazin findet der Hass der neuen Linken seinen Brennpunkt. Schon in der Grundschule wurde mir schlimmes über ihn eingebläut, ich weiß gar nicht mehr so recht, was es genau war. Nur das Bild des bösen, griesgrämigen, alten Mannes ist geblieben. Ich kenne kaum einen Menschen, der in so breiten Teilen der Bevölkerung allein dafür bekannt ist, böse zu sein. Selbst in die unpolitischsten Winkel der Berliner Jugend hinein, die ansonsten den 1. nicht vom 2. Weltkrieg zu unterscheiden weiß, ist der Name ein Begriff.

Politisch konnte ich dieses Sarrazin-Gerücht mit zunehmendem Interesse überwinden, doch das Bild vor dem inneren Auge lässt sich nicht so leicht verändern. Sowie einige Ossis, die den Sozialismus zwar mehr hassen als jeder andere, aber dennoch die Idee vom bösen Kapitalismus oder dem netten Bruder Russland nicht so recht loswerden. Und so blieb mein Bild von Thilo Sarrazin: Ein pessimistischer Zyniker, ein harter Charakter. Dann lernte ich ihn kennen.

Nun will ich nicht zuviel psycho-telepathische Theorien aufstellen über das Für und Wider eines Charakters, nur so viel sei gesagt: Selten habe ich einen Menschen getroffen, dessen Mythos so diametral zur Wirklichkeit steht. Meine Redakteurin und ich kommen mit Stativen beladen bei ihm zuhause an. Schöne Krawatte, sagt er. Zum Glück weiß er nicht, wer sie gebunden hat, denke ich. Wir plaudern, während ich die Kamera in seinem Wohnzimmer ausrichte, ich sage ihm, er solle gerne möglichst viel erzählen, möglichst persönlich. Das erste, was er dann tut, ist einige Vasen aus dem Video-Hintergrund zu nehmen – sei ihm zu persönlich, sagt er. Na, das kann ja heiter werden, denke ich.

Kamera an, Ton ab. Während ich die lange Liste der Titel und Posten des Thilo Sarrazin aufzähle, schaue ich zu ihm herüber und denke mir: wie soll ich diesem Mann jetzt ein persönliches Wort aus der Tasche ziehen. Doch dann ist meine erste Frage gestellt und er beginnt zu erzählen, von seinen Großeltern, von seinem Leben, von seiner Kindheit. Die Zeit vergeht, nach zehn Minuten fällt mir ein, dass ich vielleicht mal eine neue Frage stellen sollte.

Das Gespräch können Sie sich anschauen. Also: Kamera aus, danke für das Interview. Wir stehen vor Sarrazins Bücherregal. Diese Reihe der Weltliteratur hat ihm sein Vater geschenkt, damals. Nur einige Bücher hat der ihm erst später gegeben, die waren zu anzüglich. Wir lachen. Er fragt, wie wir, ich und meine Redakteurin, es denn so halten mit dem Lesen. Ja, sagen wir, gelesen haben wir auch schon mal, Asterix. Auweia, hoffentlich hat er das jetzt verstanden. Ich wurde bisher immer für ausgesprochen gebildet und belesen gehalten für mein Alter – ohne jetzt angeben zu wollen, oder vielleicht schon ein bisschen. Aber wenn Sarrazin dann erzählt, was er bereits alles im Alter von elf Jahren gelesen hatte, fühlt man sich für einen Moment, als wäre man nicht so ganz helle in der Birne. Vielleicht ist das der Grund, warum er so gehasst wird. Asterix, sagt er – und zu meiner großen Erleichterung: er lacht dabei.

Und so stehen wir vor seinem Bücherregal und plaudern an diesem Montagvormittag. Er will mir Tipps geben, wie ich das alles handhaben soll und wie man so vorwärts kommt im Leben. Und ich solle nie pessimistisch sein, sagte der 75-Jährige zum 18-Jährigen, „es geht alles immer weiter: Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“


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Kommentare ( 18 )

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Casta Diva
3 Jahre her

Von der ersten bis zur letzten Sekunde ganz wunderbar! Vielen Dank, Air Türkis. Ich hab‘ Sie im Auge, seitdem sie 16 sind ;-). Lohnt sich!

Michael Theren
3 Jahre her

Alle aktuelleren Meinungsäußerungen von Herrn Sarrazin begeistern mich (auch wenn er sich leider nicht mehr getraut zur Vererbung Positionen zu beziehen), ebenso seine Bücher….gerade darum, könnte mir hier jemand seine Rolle bei der milliardenschweren „Abwicklung“ der DDR-Staatsbank zu Gunsten der Deutschen und Dresdner Bank erläutern?

Theos Meinungsfreiheit
3 Jahre her

Sehr gutes Interview, Kompliment an den jungen Shooting Star im Journalismus. Ich würde mir anstelle von Air Türkis die Bücher von Scholl-Latour zu Gemüte führen, eines der besten Journalsiten und Auslandskorrespondenten der Nachkriegszeit. Gleich zu Beginn das Buch „Allah ist mit den Standhaften“ aus den 80iger Jahren. Da kommt an einer Stelle der Bericht eines Interview mit dem früheren Revolutionsführers Khomeni, der in seinem Pariser Exil damals Journalisten zum Interview einlud. Unvergessen die kurze Textstelle über das arrogante Auftreten von Kollegen von Scholl-Latour. Sie alle mussten aber ihre Schuhe ausziehen und in ihren Socken den Revolutionsführer interviewen. Scholl-Latour mockiert sich… Mehr

Casta Diva
3 Jahre her

Ich teile Ihre Meinung zwar überwiegend nicht …

Maja Schneider
3 Jahre her

Ein sehr gutes, aufschlussreiches und beeindruckendes Gespräch!

A. Ferrante
3 Jahre her

Würden wir doch von Menschen wie Thilo Sarrazin regiert, um wieviel besser würden wir da stehen. Immerhin können wir über seine Bücher an seinem weit gespannten Horizont teilhaben und uns an seiner Gelassenheit und seinem Zutrauen in die menschliche Gestaltungskraft ein Beispiel nehmen.
Dieses Interview ist sehr berührend, vielen Dank dafür, Air Tuerkis.

Roland Tichy
3 Jahre her

…aber er wurde doch rausgeworfen?

giesemann
3 Jahre her

Unter den Einäugigen ist der Doppelgesichtige König – er sieht alles mehr plastisch. Die „Babyboomer“ um 1950 f sind sich ständig gegenseitig auf die Füße getreten – das belebte das Geschäft und könnte der Grund für das Wirtschaftswunder gewesen sein. Das ist vorbei, die Zuzüglinge wollen Fleisch und Boliden, doch nicht Soya und Lastenfahrrad. Und zwar für lau. Mit Grün isses da schnell aus. Müssen die Grünen und andere Gutmenschen noch lernen. Mit und ohne Teddy. Experten setzen sich immer durch, wenn nicht hier in DE, dann eben woanders. Um die mache ich mir so wenig Sorgen wie Herr Sarrazin… Mehr

Sabine K.
3 Jahre her

Ein schönes Weihnachtsgeschenk, dieses Interview! Ein Gesprächsversuch zwischen den Generationen, der erstaunlich gut gelungen ist.
Immer wieder empfinde ich Thilo Sarrazins frei formulierte Antworten und Reden als sehr wertvoll und „auf den Punkt“!
Sehr erfrischend dazu Air Türkis“!
Danke!

Dieter Rose
3 Jahre her

Leider ist nicht sichergestellt, dass unser Führungspersonal sich aus den zwanzig Prozent Bestausgebildeten rekrutiert.
Siehe das im Augenblick regierende bzw.
sich zur Wahl stellende.

giesemann
3 Jahre her
Antworten an  Dieter Rose

Wie auch, wenn von den 80% Ohnewas ständig „in Führung“ gehievt. Wie sagte FJS mal? „Mia san zwar die Dümmern, aber mia san die Mehrern“ – er meinte die CSU. Dem war’s recht, so konnte er auch seine persönlichen Geschäfte unbehelligt betreiben, neben dem politischen. Wer klug ist, der hält sich fern von denen, so gut es geht. Das galt damals, das gilt heute und in saecula saeculorum, Amen.

Wilhelm Roepke
3 Jahre her

Respekt vor Air Türkis, sich an einem Interview mit dem großen Thilo Sarrazin zu versuchen. Fragen, Licht und Ton waren okay, aber bei den wenigen Schnitten fehlt noch die Erfahrung. Bitte mal mit einem erfahrenen Cutter reden, da gibt es einige, dann passt das beim nächsten Mal richtig gut.

Ansonsten ist meine Devise: lieber ein mutiges Interview mit kleinen Schönheitsfehlern als ein perfektioniertes feiges in ARD oder ZDF. Weiter so! Hätte ich mit 18Jahren nicht gekonnt und mich auch nicht getraut.