Polnische Experten: Die Ukraine kann den Krieg gewinnen

Die Ukrainer überraschen die Russen und die ganze Welt mit verbissenem Widerstand, eiserner Entschlossenheit und unerwarteten militärischen Erfolgen. Von Prof. Dr. Berthold Löffler

IMAGO / CTK Photo

Hin und wieder zeigen sich Kriege bei aller Entsetzlichkeit auch von einer schwejkhaft-komischen Seite. So hat der Journalist Daniel Liszkiewicz ein kleines Video ins Netz gestellt, das folgende echte Szene filmte: Ein ukrainischer Pkw hält neben einem irgendwo am Straßenrand liegengebliebenen russischen Schützenpanzer. Es kommt zu einem Dialog. Der ukrainische Fahrer fragt die herumstehenden Soldaten:
„Habt Ihr aufgegeben?“
Ein Russe antwortet: „Kein Kraftstoff mehr!“
Der Ukrainer antwortet: „Sollen wir Euch nach Russland abschleppen?“
Die Soldaten lachen.

Fast genüsslich berichten polnische Medien derzeit über die offenkundigen Schwächen der russischen Armee, zu denen auch Treibstoffmangel oder schlechte Kampfmoral zählten. Aussagen gefangengenommener russischer Soldaten belegen, dass ihnen offensichtlich wie 1968 in der Tschechoslowakei gesagt worden ist, sie führen ins Manöver. Neben der gängigen Kriegsberichterstattung versuchen polnische Fachleute mit militärischem Hintergrund oder entsprechender Expertise in sicherheitspolitischen oder strategischen Fragen, gedankliche Ordnung in das Durcheinander des Ukraine-Krieges zu bringen.

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Auffällig optimistisch betrachten einige polnische Fachleute die Lage am Wochenende. Darunter der ehemalige Chef der polnischen Landstreitkräfte, General Waldemar Skrzypczak, und der Leiter des Warschauer Zentrums für strategische Analysen und Sicherheit, Mariusz Kordowski, in Interviews mit dem Nachrichtenmagazin „wPolityce“. Kordowski wie auch Skrzypczak sehen Chancen auf einen ukrainischen Sieg. Kordowski sagt, die Ukrainer überraschten die Welt immer wieder mit neuen Erfolgen, die man ihnen gar nicht zugetraut habe. Die russischen Streitkräfte hätten schwere Verluste an Menschen und Material erlitten, ihr Angriffsplan sei nicht aufgegangen. Skrzypczak, der vermutlich mehr weiß, als er öffentlich zuzugeben bereit ist, weist darauf hin, dass die Russen nach ukrainischen Angaben 3.500 Gefallene hätten, was bedeute, dass die drei- bis vierfache Zahl an Verwundeten dazugerechnet werden müsse. Die russischen Verluste betrügen also bis jetzt möglicherweise mehr als eine ganze Division. Dass die Ukrainer ihre eigenen Verluste nicht angäben, läge in der Natur der Sache. Es sei natürlich nicht ausgeschlossen, dass ihre Verluste noch höher seien als die der Russen.

Kordowski wiederum betont, es sei den Russen noch immer nicht gelungen, den Flughafen bei Kiew einzunehmen und Kiew selbst zu erobern. Im Übrigen seien die russischen Streitkräfte zahlenmäßig zu klein, um eine Großstadt wie Kiew zu besetzen (und unter Kontrolle zu halten). Im Osten und Südosten gebe es ebenfalls keine großen Fortschritte. In der jetzigen Phase der kriegerischen Auseinandersetzung neige sich zwar die Waagschale des Sieges auf die Seite der Ukraine, freilich dürfe man das gewaltige militärische Potenzial, über das die Russen verfügten, nicht übersehen.

Inwieweit polnische Begeisterungsfähigkeit für Menschen und Nationen mitspielt, die einen heroischen Kampf um ihre Freiheit führen, sei hier einmal außer Betracht gelassen. Dennoch scheint das Urteil Kordowskis nicht völlig aus der Luft gegriffen, wenn er in Rechnung stellt, dass die Ukraine über beträchtliche Mengen militärischen Materials, vor allem aber über eine gewaltige Entschlossenheit zur Verteidigung ihres Territoriums verfüge. Niemand hätte erwartet, dass die Ukraine so gut auf ihre Verteidigung vorbereitet sei. Den ukrainischen Streitkräften sei es gelungen, ihre Verteidigungsvorbereitungen und die großen Mengen an militärischer Ausrüstung, die sie vom Westen bekommen hätten, geheim zu halten. Die ukrainische Armee kämpfe überdies mit dem Moment der Überraschung und neuen Methoden der Gefechtsführung. So setze sie der artilleristischen Überlegenheit der Russen geschickte Tarnung und Verteilung der Truppen im Raum entgegen, um den russischen Artillerieschlägen die Wirkung zu nehmen.

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General Skrzypczak sieht die Russen im Augenblick unter Schock, weil ihr Operationsplan völlig gescheitert sei. Deshalb gruppierten sich die russischen Truppen um, um auf der gesamten Frontlinie zu einem noch entschlossener geführten Angriff überzugehen. Die Russen wollten Kiew um jeden Preis einkesseln und erobern. Das aber bedeute Straßenkämpfe mit gewaltigen Verlusten für die Russen. Straßenkampf sei bekanntlich die schlimmste Form des Kampfes. Das gilt umso mehr, als jetzt massenhaft (einige Angaben sprechen von 25.000) Waffen an Zivilisten ausgegeben worden seien. Am vergangenen Freitag war in wPolityce berichtet und mit Fotos unterlegt worden, dass an die ukrainischen Parlamentsabgeordneten Kalaschnikow-Sturmgewehre verteilt worden sind und sich führende Politiker wie der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko bewaffnet in der Öffentlichkeit gezeigt haben.

Für General Skrzypczak spielt der Kampf um Kiew die Schlüsselrolle. Seiner Einschätzung zufolge werden die Ukrainer Kiew nicht aufgeben, wenn sich die Russen zum Sturm auf die Stadt entschließen. Die Folge könnten Kämpfe sein, die drei bis fünf Tage dauern, unterstellt, dass die Russen Kommandoeinheiten in der Stadt zum Einsatz bringen. Falls die Russen diese Eliteverbände tatsächlich zur Eroberung von Kiew einsetzten, wären sie wirklich verrückt.

Wenn die Ukrainer dem nächsten Angriff, der wie in der ersten Phase zwei oder drei Tage dauern wird, standhalten, dann könnten sie nach fünf oder sechs Tagen seit Beginn des Kriegs die operative Initiative übernehmen. Die Russen würden an der Wand stehen und sich zu Verhandlungen mit Selenskyj gezwungen sehen. Das würde das Ende des Krieges für die Russen bedeuten, so der General mit einem Optimismus, der in Westeuropa wohl auf Erstaunen stoßen würde.

Diesen vorsichtigen Optimismus teilen allerdings auch andere osteuropäische Fachleute. In der Samstagsausgabe des Nachrichtenmagazins wPolityce sagt der ehemalige Oberkommandierende der estnischen „Verteidigungskräfte“ und heutige Europaabgeordnete, Riho Terras, Putin sei wütend, weil er dachte, der ganze Krieg würde ein Spaziergang und in ein bis vier Tagen zu Ende sein. Die Russen hätten keinen taktischen Plan gehabt. Der Krieg koste 20 Mrd. Dollar am Tag. Raketen seien nur für 3 bis 4 Tage vorhanden. Deshalb würden sie so sparsam eingesetzt. Es fehle den Russen an Waffen.

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Der estnische General kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie sein polnischer Kamerad: Wenn es den Ukrainern gelinge, die Russen 10 Tage aufzuhalten, dann bleibe den Russen nichts anderes mehr übrig, als an den Verhandlungstisch zu kommen. Denn sie hätten weder genügend Geld, noch Waffen, noch Vorräte, auch wenn sie sich gegenüber Sanktionen gleichgültig zeigten. Das Ziel der Russen sei es gewesen, Kiew zu erobern und dort eine Marionettenregierung zu installieren. Sie hätten Provokationen gegen unschuldige Zivilisten, Frauen und Kinder vorbereitet, um Panik zu säen. Das sei ihre Trumpfkarte gewesen. Der ganze russische Angriffsplan habe sich darauf gestützt, dass die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte in Panik geraten und sich Selenskyj aus dem Staub macht. Sie haben erwartet, dass sich Charkow als erstes ergibt, dann andere Städte ihrem Beispiel folgen, um Blutvergießen zu vermeiden. Jetzt seien die Russen schockiert über den verbissenen Widerstand, auf den sie stoßen. Terras ist der Ansicht, die Ukrainer müssten unbedingt panische Reaktionen vermeiden. Denn die Raketenangriffe hätten nur Einschüchterung zum Ziel. Der estnische General schließt: „Die Ukraine muss stark bleiben, und wir müssen ihr helfen!“

Der Krieg zeigt sich hin und wieder von einer komischen Seite. Wenn es zutrifft, was General Terras aus Berichten der ukrainischen Aufklärung erfahren haben will, dann hält sich Putin zusammen mit den russischen Oligarchen im Augenblick am Ural auf. Warum dort? Putin hätte alle dort versammelt, damit niemand abhaut.

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Kommentare ( 92 )

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Monostatos
2 Jahre her

Eigenartig, dass erfahrene US-Militärs zu gänzlich anderen Einschätzungen kommen als ein Politologie-Professor aus Ravensburg. Ich nehme viel Wunschdenken wahr, z. B. dass Putin völlig allein restlos undurchdachte Entscheidungen wie seinerzeit der GröFaZ trifft. Da kann man den Studenten nur raten, asap zu einem kompetenten Kollegen zu wechseln. Was Substanz ist, kann man den Darlegungen von Professor John J Mearsheimer University of Chicago aus dem Jahr 2014 zur Ukraine entnehmen:
https://youtube.com/watch?v=JrMiSQAGOS4&feature=share

Alf
2 Jahre her

Putin hat den Krieg bereits verloren.
Er hat Angst davor, das russische Volk zu befragen.
Die Antwort wäre klar.

Edgar Jaeger
2 Jahre her

Die Ukrainer zeigen den selben Siegeswillen wie 1939 die Finnen im Winterkrieg. Leider sind die russischen Resourcen um vieles größer, als die der Ukrainer. Daker wird Putin, wie Stalin auch keine Rücksicht auf seine Soldaten nehmen und sie als Kannonenfutter verbrateten. Denn und das ist sich Putin sicherlich bewußt, wenn er nicht  Luhansk, Donezk und die Krim nicht behalten und unter seiner Kontrolle hat ist er weg vom Fenster. Auch 1939 wurden die Finnen vom Westen bewundert, aber niemand half.

Dr. Slonina
2 Jahre her

Hoffen wir, daß die Polen und Esten mit ihren optimistischen Analysen recht haben. Ich drücke jedenfalls den Ukrainern die Daumen, durchzuhalten und den russischen Aggressor zu vertreiben.

Protestwaehler
2 Jahre her

Immer diese „Experten“.

P. Pauquet
2 Jahre her

Grundereignis hat sich so wirklich zugetragen. Hypothetisches Telefonat zwischen einem russischen Panzerkommandant (irgendwo in der Ukraine und seinem Kommandostab). Brumm, klingeling! … Stab: “Hier xy Regimentskommandatur! … Ja?“ – “Hier Panzerkommandant (PK) abc! Kann uns jemand abholen? Melde unser Panzer ist weg!“ Kom: “Was? Wie weg? Sind Sie abgeschossen worden?“ – PK: “Nein! Nicht abgeschossen, Alles gut. Nur der Panzer ist weg. … Äh, nicht wirklich weg. Hat jetzt nur jemand Anders.“ – Kom: “WAS?“ Pk: “Wir waren nur mal auf’m Feld pinkeln und eine rauchen. Da kam ein Bauer mit einem Trecker vorbei, angekoppelt und weg. Wir hinterher. Keine… Mehr

DieterM
2 Jahre her

Langsam glaube ich wirklich, dass die Russen sich eingebildet haben, dass viele Ukrainer sie als „Befreier“ willkommen heißen.
Anders kann ich mir die Manöver der ersten Tage nicht erklären. Schnell verteilte Angriffe, in der Hoffnung, dass sich viele Ukrainer auf deren Seite schlagen. Genau das ist aber nicht passiert.

Reinhard Peda
2 Jahre her

Der Krieg ist für Russland verloren, weil er die Ukrainische Bevölkerung nicht gewinnen konnte.

Derrio.F.
2 Jahre her
Cubus
2 Jahre her

Mit dem ersten Schuss stirbt auch die Wahrheit. Können die Russen nicht mehr oder nehmen sie Rücksicht auf die Bevölkerung?
Auf jeden Fall ein Verbrechen, an dem alle Seiten ihren Anteil haben.
Hier sehr interessant ein Beitrag von Monitor / ARD aus 2018. Heute undenkbar:

https://www.youtube.com/watch?v=-iJNtff6HTU