Türkische Militäroffensive: Opfer eines großen Machtspiels

Unter der türkischen Offensive in Syrien leiden am meisten die Christen und die Kurden.

Burak Kara/Getty Images

Seit dem 9. Oktober rollen türkische Panzer in den Norden Syriens ein. Vorgebliches Ziel der Offensive sind die kurdischen Selbstverteidigungsmilizen YPG. In ihnen sieht die Türkei einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die sich seit Jahrzehnten im bewaffneten Kampf gegen die Türkei befindet. Tatsächlich läuft die Operation aber auf ein anderes Ziel hinaus: Die langfristige demografische Veränderung Nordsyriens, weg von einer multiethnischen und multireligiösen Region, hin zu einer sunnitisch-muslimisch dominierten Region unter Kontrolle der Türkei und mit ihr verbündeter Islamisten.

Die humanitäre Lage spitzt sich zu

Bereits in den ersten Stunden des Einmarsches starben die ersten Zivilisten. Wenige Tage später sind 130.000 Menschen auf der Flucht, das erste Krankenhaus vom Beschuss schwer beschädigt. Internationale Helfer ziehen sich vor den eskalierenden Kämpfen zurück. Die ersten Dörfer sind von den vorrückenden Truppen und mit ihnen verbündeten Milizen besetzt, die ersten Städte umzingelt. Die humanitäre Lage spitzt sich zu – und der Zenit ist noch längst nicht erreicht. Den Zivilisten in der Region stehen gefährliche Zeiten bevor. Kurzfristig sind sie unmittelbar von den Kampfhandlungen um sie herum bedroht. Die Versorgung mit Medizin, Lebensmitteln und Heizmaterial für den kommenden Winter wird schwieriger. Es wird schlimmer, je länger die Kämpfe dauern. Mittelfristig wird es für alle bedrohlich, die Erdogans türkisch-islamischer Herrschaft entgegenstehen. Das betrifft in erster Linie Kurden, die in der Region traditionell zuhause sind. Es betrifft aber auch viele andere ethnische oder religiöse Minderheiten.

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Bis zum Ausbruch der Gewalt im Jahr 2011 lebten zwei bis drei Millionen Christen unterschiedlichster Konfessionen in Syrien – die zweitgrößte christliche Minderheit im Nahen Osten, nach der in Ägypten. Die areligiöse Militärdiktatur der Assads ließ sie weitgehend in Ruhe, solange sie sich nicht offen gegen das Regime stellten. Als die ursprüngliche Revolte im Kontext des Arabischen Frühlings in einen Bürgerkrieg umschlug, änderte sich die Lage.

In der bewaffneten Opposition gewannen bald Islamisten die Überhand. Christen aus islamistisch kontrollierten Landesteilen wurden vertrieben. Viele flohen ins Ausland. Je nach Schätzung leben noch 500 000 bis 750 000 Christen in Syrien. Viele fanden in den religiös liberalen Kurdengebieten Schutz.

Christen und Kurden sollen vertrieben werden

Was ihnen nun bevorsteht, lässt sich aus der Lage in Afrin schließen. Türkische Truppen und verbündete islamistische Milizen griffen die früher mehrheitlich kurdische Stadt im Nordosten Syriens im Januar 2018 an. Sämtliche Christen und viele jesidische Kurden mussten fliehen. Die Kontrolle über die Stadt wurde den Islamisten überlassen. Inzwischen ist sie mehrheitlich arabisch-sunnitisch. Faktisch herrscht Scharia-Recht. Das scheint der Plan zu sein, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für das gesamte Gebiet um die türkisch-syrische Grenze verfolgt. Er möchte dort eine „Schutzzone“ einrichten. Die soll aber nicht dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen, sondern dem Schutz eines türkisch-nationalistischen Staates vor ethnischer Vielfalt an seinen Grenzen. Denn nachdem die türkische Armee und ihre islamistischen Verbündeten das Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht und Andersgläubige und ethnische Minderheiten vertrieben haben, möchte Erdogan dort Millionen von sunnitischen Arabern ansiedeln. Diese waren aus allen Teilen Syriens in die Türkei geflüchtet.

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Die Türkei ist aus verschiedenen Gründen wirtschaftlich angeschlagen. Die Inflation steigt seit Jahren rapide, die Menschen sind zunehmend unzufrieden. Wie auch hierzulande richtet sich Unzufriedenheit oft gegen Geflüchtete. Die über drei Millionen syrischen Gäste sind nicht mehr willkommen. Der Präsident möchte sie loswerden, auch wenn die meisten lieber bleiben wollen. Im Norden Syriens sieht Erdogan anscheinend die Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Er würde die Geflüchteten los und könnte gleichzeitig die demografische Zusammensetzung an der Grenze zur Türkei so verändern, dass es dort kein Kurdengebiet mehr gibt.

Christen und andere Minderheiten als Kollateralschaden?

Christen und andere Minderheiten wären ein Kollateralschaden in diesem Kalkül. Sowohl die Vertreibung in Syrien als auch die Zwangsumsiedlung aus der Türkei verstoßen gegen grundlegende Menschenrechte. Ethnische Spannungen sind garantiert, weitere Gewalt wahrscheinlich. Doch in der Region tickt noch eine Bombe, die weitaus größeren Schaden anrichten könnte. Ab 2014 begann der sogenannte Islamische Staat (IS), Territorien in Syrien zu erobern. Die sunnitischen Terroristen griffen dabei alle am syrischen Bürgerkrieg beteiligten Fraktionen an: Regierungstruppen, andere Islamisten und auch die YPG, die schon damals die kurdischen Gebiete verteidigten. Mit Unterstützung der USA gelang es nach und nach, die IS-Kämpfer zurückzuschlagen. Seit März dieses Jahres halten sie kein Territorium mehr. Der IS ist aus Syrien aber nicht verschwunden. Abgesehen von einer unbekannten Zahl Schläfer unter der lokalen Bevölkerung sind zahlreiche Kämpfer und ihre Familien in Haftlagern untergebracht. Die Schätzungen reichen von 6 000 bis 12 000 gefangenen IS-Terroristen und 70 000 bis 80 000 Familienmitgliedern. Die Lager, in denen sie leben, liegen über genau das Gebiet verstreut, das jetzt ins Fadenkreuz der Türkei geraten ist. Die Milizionäre, die sie bisher bewacht haben und die Hilfsorganisationen, die sie humanitär betreut haben, waren mit dieser Aufgabe bereits überfordert.

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Aus dem Ausland haben sie wenig Unterstützung erhalten. Die Bundesregierung hat nicht einmal die Gefangenen mit deutschem Pass zurückgeholt, um sie hier vor Gericht zu stellen. Anderen Staaten haben sich ähnlich verhalten. Es war also abzusehen, was nach ersten Berichten nun passiert ist: Einige hundert IS-Kämpfer sollen bereits freigekommen sein. Mit jedem Tag der türkischen Offensive wird wahrscheinlicher, dass es deutlich mehr werden. Selbst wenn eine erzwungene Allianz mit dem Assad-Regime der YPG kurzfristig Luft verschafft: Die Region wird erneut massiv destabilisiert. Die bevorzugten Ziele der IS-Kämpfer werden einmal mehr Christen, jesidische Kurden und andere Minderheiten sein. Wenn kampferfahrene, ideologisch gehärtete Terroristen nach Europa gelangen, wird die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen auch bei uns deutlich steigen.

Europa muss gegen Erdogan handeln

Darum sind Deutschland und Europa gezwungenermaßen mehr als nur unbeteiligte Beobachter der türkischen Aggression. Mit der Drohung, syrische Flüchtlinge nach Europa ausreisen zu lassen, konnte Erdogan bisher tun was er wollte. Kritik oder Konsequenzen aus Brüssel oder Berlin musste er nicht fürchten. Diese Situation verschiebt sich nun. Nicht aus Menschlichkeit, nicht aus Solidarität mit Christen, Kurden oder anderen Minderheiten, sondern aus realpolitischem Eigeninteresse müssen Deutschland und Europa handeln. Denn wenn sie Erdogan weiter gewähren lassen, wird die Region auf absehbare Zeit nicht zur Ruhe kommen und die Lage auch hierzulande gefährlicher.

Dieser Beitrag von Kamal Sido – Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker – erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.


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Kommentare ( 15 )

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Di Limonati
4 Jahre her

Herr Kamal Sido, nicht nur die Türken sehen in der YPG einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die sich seit Jahrzehnten im bewaffneten Kampf gegen die Türkei befindet, sondern die meisten am politischen Geschehen beteiligten Staaten und Politiker ebenfalls. Sie, die Kurden und die Deutschen jedoch, sind tagein tagaus damit beschäftigt, eine Terrororganisation reinzuwaschen. Sie behaupteten schon im Mai 2016 in „Telepolis“, dass es eine „neue alte“ Strategie von Erdogan ist, zumindest in der „Shahaba-Region“ (Nord-Aleppo), zwischen den beiden (kurdischen) Enklaven Afrin im Westen und Kobani im Osten, soll nach Assads Diktatur ein sunnitisch-islamitisches Gebilde unter türkischer Herrschaft entstehen.… Mehr

luther
4 Jahre her

es geht dem Grösaz (größter Sultan aller Zeiten) um die Endlösung der Kurdenfrage und die Errichtung des Großtürkischen Reiches. Wie immer in der Geschichte ein mörderisches Spiel zu Lasten der Menschen, die nur leben wollen. Wer finanziert das türkische Kreigsabenteuer? Der Überfall auf Syrien ist einfach nur niederträchtig.

Ralf Poehling
4 Jahre her

Wunderbar analysiert. Meiner Einschaetzung nach ist der IS die Schattenarmee der Muslimbrueder und Erdogan mit letztgenannten entweder seit langem alliiert oder er gehoert sogar selbst dazu. Der Uebergang zwischen Grauen Woelfen und sunnitischen Islamisten ist fliessend, was diverses Videomaterial der laufenden tuerkischen Offensive eindeutig untermauert. Wenn man dies in die Beurteilung der Lage mit einbezieht, klaeren sich die Fronten und man weiss, was zu tun ist. Es war ein strategischer Fehler, Assad das Wasser abzugraben. Auch wenn er vorher dem Iran die Tuer geoeffnet hat. Der IS ist letztlich ein weit groesseres Problem, als die Mullahs. Vielleicht haette der Westen… Mehr

Porcelain by Nocken-Welle
4 Jahre her

+

…schön dass hier auch mal Weltenretter NGO-Verbandelte und Gesellschafter für bedrohte Völker und andere Menschenretter zu wort kommen.

…meine Erfahrung ist die: die wollen zwar den Rest der Welt retten, tun sich mit sich selber aber oftmals schwer.

+++

Porcelain by Nocken-Welle
4 Jahre her

+

wer sagt denn, dass Erdogan Geschichte wär´? in der Not rücken die Türken noch enger zusammen – Sie haben aus einem Verbündeten einen Feind gemacht, die TR tritt aus der Nato aus – die Waffen, die sie zu ihrem Schutz geliefert haben, die richten sich jetzt gegen Sie selbst – und für Jens ist die ruhige Zeit in Europa vorbei.

mann – was bin ich froh, dass hier Leutz zwar reden können, aber: Nichts zu sagen haben.

+++

AngelinaClooney
4 Jahre her

„Wenn kampferfahrene, ideologisch gehärtete Terroristen nach Europa gelangen, wird die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen auch bei uns deutlich steigen.“ Kampferfahrene jungen Männer sind doch schon längst bei uns. Wer bereits 2015 davor warnte wurde von unseren Politvertretern ensprechend „belehrt“. Selbst ein umgefahrener Weihnachtsbaum in Berlin im Jahre 2016 hat zu keinen entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen geführt.

Wilhelm Cuno
4 Jahre her

Muss Europa wirklich was tun? Ich finde nicht. Stahlharte Grenzen und im Gegenzug die ewige Einmischung überall aufhören. Wir können das nicht lösen. Mein Vorbild ist Israel.

Di Limonati
4 Jahre her
Antworten an  Wilhelm Cuno

Das Kurdenproblem ist nicht unser Problem, sehe ich genau so. Aus dieser Region kommt immer wieder der Versuch, der meistens auch gelingt, sich in deren Angelegenheiten einzumischen. Das Morden dort unten, macht eben ohne Amerikaner, Engländer und Franzosen keinen Spass.

Raus aus diesen Regionen ohne wenn und aber.

Paul Pimmel - der Herr des Kosmos
4 Jahre her

Ein Vorblick auf Deutschland 2050.
Dass Erdoǧan vielleicht genau darauf setzt, dass IS-Leute „entkommen“ und als Quartiermacher seines neo-osmanischen Reichs nach Europa „flüchten“? Hat jemand schon einmal an diese Möglichkeit gedacht? Mir sträubt sich bei dem Gedanken alles, aber es sieht wirklich aus, dass derzeit Putin Trump und Assad die einzigen sind, die noch für eine geregelte und funktionierende Welt eintreten.

SpenglersPriest
4 Jahre her

„Wie auch hierzulande richtet sich Unzufriedenheit oft gegen Geflüchtete.“ Ist das tatsächlich so? Möchte ich doch sehr stark bezweifeln. Und was sollen Deutschland und Europa tun? Sanktionen wären angemessen. Ein militärisches Abenteuer wäre eine extrem dumme Idee. Es würde sehr teuer, ein Ende einer solchen Operation wäre nicht absehbar. Und es ist auch zu bezweifeln, dass Europa das überhaupt stemmen könnte. Europa hat genug interne Probleme. Wir könnten unsere Grenzen selbst schützen, wenn wir das denn wollten. Wer dagegen protestiert, der soll persönliche Flüchtlinge bei sich aufnehmen und versorgen und zwar aus eigener Tasche. Nichts spricht dagegen ortsnah zu helfen.… Mehr

elly
4 Jahre her

„EUROPA MUSS GEGEN ERDOGAN HANDELN“ auch wenn es inzwischen usus ist, den Kontinent Europa mit dem Staatenbund EU gleichzustellen, gewöhne ich mich nie daran. Teile Russlands liegen in Europa und welchen Grund hätte Putin? Die EU müsste gegen Erdogan handeln, kann sie aber nicht. Nur allzu bereitwillig hat sich dieser Staatenbund von den NGOs und Merkel das agieren in der Flüchtlingskrise diktieren lassen. Nur allzu gerne wurden und werden Glücksritter aus Afrika aufgenommen und gut versorgt, dafür verkaufte dieser Staatenbund wahre Kriegsflüchtlinge an Erdogan. Christen und Kurden sollen vertrieben werden und die EU schaut gerne zu. Dafür gewährte sie Asylsuchenden… Mehr

SpenglersPriest
4 Jahre her
Antworten an  elly

Ich halte Trump für moralischer als all die EU Moralheuchler. Ansonsten stimme ich zu.