Moralkontrolleure, in Syrien wie in Deutschland

Ein aus Raqqa stammender Autor thematisierte in der «Süddeutschen» öffentlich eisessende Frauen in München: Das sei für den syrischen Freund ein Kulturschock. Die Behauptung, schreibt Emrah Erken, sei verlogen: Auch in Syrien gebe es freizügige Frauen – und religiöse Sittenwächter, die mittlerweile ihren Einfluss auf Westeuropa ausdehnen.

IMAGO, Shutterstock - Collage: TE

Eigentlich sollte man Mohammed Alkhalaf für seinen in der «Süddeutschen Zeitung» erschienenen Artikel über das «obszöne Eisessen» im Sommer, das für ihn «typisch deutsch» sei, dankbar sein, natürlich auch der «Süddeutschen», die ihn veröffentlicht hat. Der Journalist aus Raqqa, der nach seinem eigenen Bekunden keinen Alkohol konsumiert, gewährte einen seltenen Einblick in das Weltbild vieler muslimischer Araber, die in den vergangenen Jahren zu Hunderttausenden in den Westen kamen – und nicht die Absicht haben, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl der Krieg längst vorbei ist und damit die Fluchtgründe weggefallen sind.

Ich selbst kann über ein ähnliches Erlebnis berichten, das ebenfalls sehr aufschlussreich war.

Durch Zürich, wo ich wohne, fließen zwei Flüsse: die Sihl und die Limmat. Seit 1945 wird, sofern es die Wetterverhältnisse zulassen, das sogenannte Limmatschwimmen, eine Grossveranstaltung des Breitensports, durchgeführt. Auch ich habe dreimal daran teilgenommen. Die Veranstaltung findet jeweils im August an einem Samstag statt. Die Schwimmer begeben sich ausgestattet mit einem aufblasbaren Tierchen, welches als Schwimmhilfe dient, jeweils beim Frauenbadi in der Nähe von Bellevue ins Wasser und lassen sich flussabwärts treiben, durchschwimmen die Altstadt, kommen beim Landesmuseum vorbei und steigen beim Flussbad Oberer Letten aus. Die ganze «Fahrt» dauert rund 30 Minuten. Für die Teilnahme braucht es eine Voranmeldung, damit man eine Startzeit zugeteilt bekommt, weil nicht alle rund 4000 Schwimmerinnen und Schwimmer gleichzeitig ins Wasser gehen können.

Vor einigen Jahren, als das Limmatschwimmen stattfand, befand ich mich für Einkäufe in der Innenstadt und war etwas spät dran, weshalb ich beschloss, ein Taxi zu mir nach Hause zu nehmen, damit ich meinen Start nicht verpasste. Das Limmatschwimmen lief bereits und das Taxi, in dem ich sass, fuhr auch über die Limmat. Der Taxifahrer war ein Syrer und neu in der Stadt. Er fragte mich, was das sei, worauf ich ihm angab, dass das eine traditionelle Sportveranstaltung der Stadt sei, bei der alle mitmachen könnten. Er fragte mich anschliessend, ob Frauen und Männer gleichzeitig das Wasser betreten würden, was ich bejahte. Er schüttelte ganz entsetzt den Kopf und schwieg. Ich beschloss, ebenfalls nichts mehr zu sagen.

Der säkulare Islam
"Bevor die Scharia alles vermasselte"
Dass es muslimische Syrer gibt, die es obszön finden, wenn insbesondere Frauen öffentlich Eiskugeln lecken, wie auch das von der Süddeutschen Zeitung für den Artikel von Mohamad Alkhalaf ausgesuchte Foto dies suggeriert, oder wenn Frauen zusammen mit Männern im Fluss schwimmen, hat mit der Sexualmoral des Islam zu tun. Diese archaischen Moralvorstellungen verlangen, dass vor allem Frauen sich sittlich verhalten, dass heißt, dass sie nichts tun, was Männer allenfalls sexuell erregen könnte. Die Sexualmoral dies Islam kommt aber auch bei der Hijab-Tragepflicht zum Ausdruck, zumal der Hijab entgegen unqualifizierter Meinung von so vielen kein religiöses Symbol ist, sondern ein Durchsetzungsinstrument der Scharia, welches dazu dient, die darin enthaltene Sexualmoral zu gewährleisten, indem die «Reize» von Frauen verdeckt werden, damit die Männerwelt nicht sexuell erregt wird, weil diese sexuelle Erregung als Sünde wahrgenommen wird. Da dies nur gewährleistet werden kann, wenn alle Frauen verhüllt sind, gibt es daher in bestimmten Staaten dieser Welt eine gesetzliche Hijab-Pflicht, die rigoros durchgesetzt wird.

Beim gemeinsamen Limmatschwimmen, welches als unsittlich wahrgenommen wird, geht es einerseits um mögliche Hautberührungen zwischen Frauen und Männern beim Schwimmen aber auch ganz grundsätzlich um die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen. Der Islam sieht eine strenge Geschlechtertrennung vor, bei der nur die Männer im öffentlichen Leben teilnehmen, während Frauen nur unter sich gesellig sein dürfen, und dies natürlich nicht in der Öffentlichkeit. Die Scharia sieht, um dies zu gewährleisten zudem die sogenannte Einsperrung der Frau vor. Demnach soll die Frau das Haus nur verlassen, wenn dies unbedingt nötig ist und auch nur, wenn ein männlicher Verwandter dabei ist. Mit anderen Worten: es wird alles getan, damit die Sexualität der Frau, die als öffentliches Ärgernis wahrgenommen wird, nicht zum Vorschein kommt. Sie wird versteckt und ist einzig dem Ehemann vorbehalten. Eine eisschleckende Frau ist das Gegenteil davon. Sie zeigt sich öffentlich und unternimmt keine Anstalten, damit Männer nicht sexuell erregt werden.

Antwort auf SZ-Kolumne
Eis essen in der Öffentlichkeit- „obszön“ oder fortschrittlich?
Nun ist es so, dass es in Syrien selbst auch Frauen gibt, die offene Haare haben und nicht im Traum daran denken, sich zu bekopftuchen, die gemeinsam mit anderen Frauen aber auch mit Männern Partys feiern, die am syrischen Badeort Latikijah ihre Badeferien verbringen und dort gemeinsam mit Männern ins Wasser steigen und Alkohol trinken. Ausserdem serviert in Damaskus seit über 120 Jahren das Bakdash Ice Cream Café im Suq Hamidiye rund 15 000 Kunden täglich mit seiner traditionellen und mit Pistazien garnierten Eisspeise, die dort sowohl von Syrerinnen und als auch von Syrern öffentlich konsumiert wird. Mohammed Alkhalaf würde seine Landsleute, die so etwas tun, gewiss nicht als «typisch deutsch» bezeichnen. Anders ausgedrückt : Der syrische Journalist hat mit seinem Artikel in der «Süddeutschen» nicht etwa seinen Kulturschock offenbart, nachdem er in Deutschland ein für ihn völlig fremdes Leben vorfand, das er zuvor in Syrien nicht kannte. Ganz im Gegenteil: vielmehr brachte er zum Ausdruck, was er ganz grundsätzlich von der Gesellschaft erwartet, in der er lebt. Er verlangt diese Sittlichkeit auch in Deutschland und von den Deutschen, aber auch von seinen Landsleuten in Syrien, die in Damaskus seit über 120 Jahren öffentlich Eis lecken.

Die Sittlichkeitsvorstellungen und -erwartungen von Menschen, die so denken, stehen in einem diametralen Widerspruch zu den Sittlichkeitsverhältnissen, die wir in Westeuropa haben. Hier ist es überhaupt kein Problem, wenn Frauen öffentlich Eis schlecken, eine Banane verspeisen, zusammen mit Männern schwimmen, wobei sich ihre Körper auch berühren (so what?), und wenn sie ausgehen. Und wenn sie wollen, schlafen sie auch mit Männern, ohne mit diesen verheiratet zu sein.

Diese Selbstverständlichkeiten befinden sich aber ausserhalb von dem, was für viele Syrer, die mittlerweile permanent in Deutschland leben, die Norm ist, was für mich ein Problem darstellt. Hinsichtlich derer Töchter kann erwartet werden, dass diese nie öffentlich Eis schlecken werden. Vermutlich werden die Eltern diesen jungen Mädchen auch nahelegen, das Kopftuch zu tragen, sobald sie geschlechtsreif sind. Man wird es ihnen nicht gestatten, mit Freundinnen und Freunden schwimmen zu gehen. Einen Freund werden sie auch nicht haben dürfen – und sicher auch nicht ausgehen, selbst wenn sie über 18 sind und weiterhin bei den Eltern wohnen, die schon begonnen haben, nach einem geeigneten Mann Ausschau zu halten.

Da die islamische Sexualmoral eine Geschlechterapartheid beinhaltet, die Frauen von der Öffentlichkeit verbannen will, weil ihre Sexualität als ein Ärgernis wahrgenommen wird, habe ich diese bekämpft, solange ich zurückdenken kann. Ich bin davon überzeugt, dass Toleranz gegenüber dieser intoleranten und frauenfeindlichen Ideologie falsch ist, weil hier keine Kompromisse eingegangen werden dürfen. Ganz im Gegenteil ist hier eine Herr-Im-Haus-Mentalität angezeigt, mit der man konservativen Scharia-Muslimen klarmacht, wie es bei uns hier läuft, und welche moralischen Vorstellungen nicht nur komplett unmassgeblich sind.
Sondern auch unerwünscht.


Emrah Erken ist Schweizer Rechtsanwalt. Er befasst sich außerdem mit gesellschaftspolitischen Themen, Geschichte, Kunst und altem Jazz aus den Zwanzigerjahren.

Dieser Beitrag ist auch bei Publico erschienen.

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