Wenn mutmaßliche ARD-Korrespondenten mutmaßlich eine mutmaßliche Schreckenstat kommentieren

Auf dem Video sieht man eine israelische Frau, die starke Verletzungen nicht nur im Gesicht, sondern auch am Arm, einem Fuß und zwischen den Beinen erlitten hat. Man braucht schon viel Phantasie, um hier zu der Einschätzung zu gelangen, dass die Terroristen ihr nicht Schreckliches angetan haben. Vielleicht wurde sie ja von ihren Kameradinnen so zugerichtet? Ist es etwa das, was ARD-Korrespondent Kitzler als Alternativoption im Kopf hat?

Screenprint: via X - Collage: TE

Jan-Christoph Kitzler ist offenbar entsetzt. Sicherlich auch über den antisemitischen Terror der Hamas. Gerade regt sich der ARD-Korrespondent im israelischen Tel Aviv aber über den Mann auf, der diesen Terror sichtbar macht: den israelischen Armeesprecher Arje Shalicar. Der hatte am Samstag bei X ein Video hochgeladen, das nach Beginn des Hamas-Großangriffs vom 7. Oktober mit als erstes um die Welt ging. Es zeigt eine blutverschmierte Israelin. Die junge Frau, die in Jogginghose von einer Armeebasis entführt wurde, wird von einem Terroristen unter „Allahu Akbar“-Rufen aus dem Kofferraum eines Jeeps gezerrt.

Shalicar schrieb dazu: „Was haben die palästinensischen #Hamas Bestien, Mörder und Vergewaltiger mit Naama Levy angestellt???“ Kitzler gefiel das offenbar überhaupt nicht. In einem X-Post schrieb er mit Blick auf das Video von Bildern, die „für menschenverachtenden Terror der Hamas“ stünden, empörte sich dann jedoch über Shalicar: „Aber muss es sein, dass diese Frau hier – mit Nennung des Klarnamens – vorgeführt und instrumentalisiert wird?“

Ja, es muss sein. Das sage nicht ich, sondern das sagt die Mutter Na‘amas, Ajelet Levy Schachar. Die Frau, die noch immer um ihre Tochter in Geiselhaft bangt, antwortete im November im US-Fernsehsender CNN auf die Frage, warum die schrecklichen Bilder von Na‘ama geteilt werden müssen: „Es ist wichtig, mit seinen eigenen Augen zu sehen, was dort passiert ist.“ Ja, die Videos spielen auch der Hamas-Propaganda in die Hände. Und trotzdem sind viele in Israel überzeugt, dass man sie unbedingt zeigen muss: Der Welt muss klar werden und vor allem klar bleiben, mit wem man es hier zu tun hat.

Kitzlers Frage hingegen entspringt einem deutschen Kosmos. In diesem berührt es uns teils schon unangenehm, überhaupt Fotos von Menschen zu sehen, die Opfer von Terror werden. Weil wir am liebsten gar nicht mit dem Leid und dem Schmerz konfrontiert werden wollen. In Israel ist das anders: Den Opfern ein Gesicht und einen Namen zu geben, ist tief im israelischen Selbstverständnis verankert. Hier leiden nicht nur die unmittelbaren Angehörigen. Ein ganzes Land leidet und fühlt mit ihnen.

Kitzlers Beitrag ist aber noch aus einem anderen Grund irritierend: Der ARD-Mann schreibt, dass Na‘ama „mutmaßlich“ Schreckliches angetan wurde. Das Wort „mutmaßlich“ hat einen festen Platz im journalistischen Bullshitbingo. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Seine Verwendung kann durchaus Sinn ergeben oder gar rechtlich erforderlich sein. Dann nämlich, wenn man noch nicht genau weiß, ob etwas wirklich so geschehen ist, wie man es beschreibt. Nur kann man das Ganze natürlich auch ad absurdum führen.

Auf dem Video sieht man eine Frau, die nicht nur im Gesicht, sondern auch am Arm, einem Fuß und zwischen den Beinen Blut verloren hat. Man braucht schon viel Phantasie, um hier zu der Einschätzung zu gelangen, dass die Terroristen ihr nicht Schreckliches angetan haben. Vielleicht wurde sie ja von ihren Kameradinnen so zugerichtet? Ist es das, was Kitzler als Alternativoption im Kopf hat. Oder dass es sich um ein KI-Video handelt? Selbst wenn man ernsthaft diesen völlig irren Vorstellungen anhängen würde, bliebe immer noch die Tatsache, dass Na‘ama im Gazastreifen festgehalten wird. Schon das ist Schreckenstat genug.

Jetzt könnte der promovierte Historiker Kitzler natürlich argumentieren, dass man eigentlich überhaupt nichts wissen kann, alles relativ und Realität sowieso eine Illusion unserer Gehirne ist, die in einer Nährlösung vor sich hin halluzinieren. Dann aber müsste sein Tweet konsequenterweise so lauten: „Ja, mutmaßlich dieser mutmaßlichen Frau wurde mutmaßlich Schreckliches mutmaßlich angetan. Die mutmaßlichen Bilder stehen mutmaßlich für mutmaßlich menschenverachtenden mutmaßlichen Terror der mutmaßlichen Hamas und mutmaßlich weiterer mutmaßlicher Terrorgruppen im mutmaßlichen Gazastreifen.“

Seltsam ist, dass Kitzler an anderer Stelle jüngst ganz ohne ein „mutmaßlich“ auskam: In einem Kommentar in den Tagesthemen erklärte er, „dass mehr als zwei Drittel der rund 15.000 Toten im Gazastreifen bisher Frauen und Minderjährige sind“. Offenbar hat der Korrespondent hier selbst vor Ort in atemberaubender Geschwindigkeit nachgezählt und gerechnet. Auf ein „mutmaßlich“ verzichtete er daher – natürlich nur mutmaßlich!

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