Mathias Brodkorb rechnet mit postkolonialistischer Geschichtsverzerrung ab, und das ohne Polemik oder Aggression: ein geniales und unverzichtbares Werk.

Auf dem 39. Evangelischen Kirchentag in Hannover stachen zwei Programmpunkte unrühmlich hervor: ein Workshop, bei dem hellhäutige Teilnehmer unerwünscht waren, und einer, der „kritisches Weißsein“ propagierte – Ausdruck eines Denkens, demgemäß die Welt in weiß und nichtweiß eingeteilt werden kann. Die „Weißen“ sind Täter. Die Nichtweißen sind Opfer.
Ein Schwarz-Weiß-Schema: Gut und Böse klar verteilt
Natürlich wurde dieses Schema nicht auf dem Kirchentag erfunden. Die Veranstalter griffen lediglich den Zeitgeist auf. Und diesem Zeitgeist ist eigen, dass Akademia und Intelligenzia Narrative kreieren, die von den Universitäten aus in die Gesellschaft hineinsickern. „Antirassismus“ und „Postkolonialismus“ sind en vogue. Deshalb scheint es moralisch geboten, Menschen mit „Täterhautfarbe“ zu stigmatisieren. Um Gerechtigkeit wiederherzustellen und irgendetwas wiedergutzumachen. Aber was eigentlich?
Dieser Frage widmet sich Mathias Brodkorb in seinem Buch „Postkoloniale Mythen“. Das ist mutig. Denn als weißer Mann, als „Täter per se“, wird von ihm Schuldbewusstsein erwartet, nicht Widerspruch.
Doch vor solch willkürlichen Gesetzmäßigkeiten hat Brodkorb keinen Respekt. Das zeigt sich schon am Untertitel: „Auf den Spuren eines modischen Narrativs“. Was die Schöpfer der postkolonialen Lesart der Geschichte als Ausbund der Wissenschaftlichkeit und der moralischen Integrität betrachten, bezeichnet er frech lediglich als „modisch“.
Wissenschaft soll der Wahrheit dienen, nicht der Ideologie
Eine tiefere Kränkung des akademischen Egos ist wohl kaum möglich. Brodkorb demaskiert quasireligiöse Ehrfurcht vor der Wissenschaft, und misst sie an ihren eigenen Maßstäben. In diesem Fall betrifft das mit Geschichte, Philosophie und Soziologie die Geisteswissenschaften, es ließe sich aber auf Naturwissenschaften übertragen.
Die Stärke dieses Buches ist, dass es auf die Kraft von Wirklichkeit und Wahrheit vertraut.
Brodkorb kreiert keine akademische Gegenerzählung, betreibt keinen Kulturkampf, sondern lässt einfach die Fakten sprechen. Der Effekt ist atemberaubend: Vor den Augen des Lesers löst sich die Vorstellung, dass in der Geschichte, spezifisch in der Geschichte Afrikas, der weiße Mann der Täter, der schwarze Mann das Opfer gewesen sei, in Luft auf.
Dies hängt damit zusammen, dass das Faktenwissen gering ist. „Kolonialzeit“ bleibt ein schemenhaftes Gebilde. Zugleich wird eine historisch nicht zutreffende Verbindung zwischen Kolonialzeit und Sklaverei geschaffen: Da der Diskurs vornehmlich von den USA ausgeht, werden dort einigermaßen zutreffende Prämissen unreflektiert übernommen. Sklaverei gilt als Verbrechen, das vornehmlich von weißen Menschen an schwarzen Menschen verübt wurde. Eine geographische und zeitgebundene Momentaufnahme wird zur globalen, zeitübergreifenden und allgemeingültigen Formel erklärt.
Kolonialzeit und Sklaverei: Fatale historische Fehlschlüsse
Da auch die Kolonialherrschaft als Verbrechen „der Weißen“ an „den Schwarzen“ aufgefasst wird, liegt es nahe, beide Phänomene zu synchronisieren: Sklaverei wird als Ausdruck kolonialer Herrschaft betrachtet, Kolonialherrschaft unter Umständen gar als ursächlich für Sklaverei.
Damit räumt Brodkorb auf, um überhaupt eine Wissensgrundlage zu schaffen. Er stellt klar, dass Sklaverei ein weltweites Phänomen ist, das so gut wie alle Gesellschaften irgendwann einmal betraf. Tatsachen, die aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden sind: Nicht nur wurden zahlreiche Europäer innerhalb Europas Opfer von Sklaverei oder als Sklaven in den Orient verschleppt – auch Afrika war ein Kontinent der Sklavenjäger und Sklavenhalter, lange bevor Europäer dort eine nennenswerte Rolle spielten.
Brodkorb exkulpiert die Kolonialmächte nicht, benennt begangene Gräuel, aber verzettelt sich nicht in Betroffenheitsnoten: Tatsächliches Unrecht seitens der Europäer berechtigt nicht dazu, ihnen Untaten anzudichten, oder zu behaupten, Afrikaner hätten nie ihrerseits Unrecht begangen.
So wird der in seinem historischen Selbstbild arg gebeutelte Deutsche verwundert feststellen, dass das Deutsche Reich in Sachen Sklaverei klar Position bezog, und dass die Europäer, allen voran die viel gescholtenen Briten, maßgeblich für die Unterbindung von Sklavenhandel auf dem afrikanischen Kontinent sorgten.
Diese Feststellung ist der Rahmen für den eigentlichen „Spaziergang“ durch die Welt postkolonialer Mythen: Am Ende wird Brodkorb auf den Sachverhalt zurückkommen.
Die Spurensuche beginnt
Doch zunächst besucht Brodkorb vornehmlich deutsche Museen, die afrikanische Kunstschätze präsentieren. Er untersucht die Darstellung der entsprechenden Kulturen und setzt sich mit der Frage nach Restitution auseinander. Dies verbindet er mit Episoden aus der deutschen Kolonialzeit, die beleuchten, wie stichhaltig das ist, was die Ausstellungen vermitteln.
Um das Narrativ aufrechtzuerhalten, dass der Schwarze durchgehend Opfer ist, muss die innerafrikanische Gewaltgeschichte „verschwinden“ – denn ein Schwarzafrikaner, der Täter wäre, würde den Mythos ja als solchen entlarven. Ein anschauliches Beispiel für die so gesponnenen Lügen bietet der Umgang mit Exponaten, die mit Menschenopfern in Verbindung stehen:
Der eine Historiker behauptet, Menschenopfer habe es nie gegeben, der nächste redet einfach nicht darüber, und wer kreativ unterwegs ist, beklagt, dass hier Europäer ihre Maßstäbe an indigene Frömmigkeit anlegen, die sie doch gar nicht bewerten dürfen.
Brodkorb zeigt, dass manche „Wissenschaftler“ alle drei Taktiken gleichzeitig anwenden, und sich dabei ungerührt selbst widersprechen: Gewalt ist schlecht. Afrikaner sind gut. Also wenden Afrikaner keine Gewalt an. Wenn sie aber doch welche anwenden, dann ist diese gut, denn Afrikaner sind ja gut.
Unredlichkeit und Heuchelei
Ein unterkomplexes Geschichtsbild ist also das eine. Die dem postkolonialen Mythos innewohnende Heuchelei das andere: Im Grunde zeichnet den postkolonialen Habitus das aus, was man den Kolonialherren von damals vorwirft: Indem Schwarzafrikanern die Verantwortung für ihr Handeln abgesprochen wird, werden sie infantilisiert. Brodkorb zeigt beispielsweise, wie bestimmte Artefakte erworben wurden. Der Vorwurf, dies sei grundsätzlich Diebstahl, entmündigt die afrikanischen Verkäufer und Geber: Waren die Prinzen, Stammesfürsten und Sultane unfähig dazu, Kaufverträge zu verstehen und abzuschließen? Waren sie naiv, devot, dumm? Waren die Europäer gewissenlos?
Brodkorb schließt nicht aus, dass dies zuweilen der Fall gewesen sein kann. Er leugnet nicht Machtgefälle oder für Europäer vorteilhafte kulturelle Gepflogenheiten. Aber er besteht darauf, dass es unwissenschaftlich und unredlich ist, durchgehend von Betrug oder Gewalt auszugehen, wo keine Belege dafür sprechen, und sogar da, wo Quellen das Gegenteil nahelegen. Wer die Aussagen von Afrikanern selbst ignoriert, wenn sie nicht ins gewünschte Bild passen, begegnet schwarzen Menschen offensichtlich mit Arroganz – was problematisch ist, wenn man gleichzeitig behauptet, genau diese Arroganz bekämpfen zu wollen. So wird der Neokolonialismus der Postkolonialisten mit Händen greifbar.
Die postkoloniale Lesart der Welt als Absage an die Allgemeingültigkeit humanistischer Werte: Brodkorb weist hier über sein Thema hinaus. Er zeigt, dass unter dem Vorwand der Verantwortungsübernahme für (angebliche) historische Schuld die Übernahme von Verantwortung für das Hier und Jetzt abgelehnt und sogar dämonisiert wird: Der postkoloniale Mythos ist nicht nur wahrheitswidrig, er entfaltet menschenfeindliche Wirkung.
Ungetrübtes Lesevergnügen
Das Buch ist nicht nur inhaltlich exzellent. Es ist auch ungemein gut zu lesen. Wer die Tradition angelsächsischer Wissensvermittlung kennt, der verzweifelt oft am deutschen Wesen, das Kompetenz gern mit Kompliziertheit gleichsetzt: Wenn etwas leicht verständlich oder gefällig ist, hat der Akademiker versagt. Brodkorb zeigt, dass es anders geht: Das Thema wird der Komplexität angemessen, aber massen- und praxistauglich dargeboten. Wohltuend auch die Sprache des Autors: klar, schnörkellos, uneitel.
Historische Fotografien und Bilder der Exponate lockern den Text auf: Eine Aufmachung, die sich der Aufmerksamkeitsspanne des postmodernen Lesers anpasst, und zugleich der Anschaulichkeit dient. Der Anmerkungsapparat befindet sich jeweils im Anschluss an die Kapitel, so dass der Leser nicht jedes Mal, wenn ihn eine Quelle interessiert, hinten nachschlagen muss. Kurz: Die Lektüre ist ein reines Vergnügen, aus dem der Leser nicht nur gebildeter hervorgeht, sondern sicherlich oftmals mit neu gewecktem Interesse an der Thematik.
Damit erreicht Brodkorb ironischerweise das, was seine ideologischen Kontrahenten zu wollen vorgeben: Wer hat schon Lust, sich mit afrikanischer Kunst oder Kultur zu befassen, wenn er im Zuge dessen mit der Moralkeule grün und blau geschlagen wird? Hier hingegen scheint die Faszination für den „schwarzen Kontinent“ auf, die so viele Afrikaforscher beseelt hat: Heute als Rassisten und Ignoranten diskreditiert, war es doch Interesse, das sie nach Afrika zog. Und hätten sie sich mannigfaltigen Gefahren ausgesetzt, um Kunstschätze nach Deutschland zu bringen, die sie als minderwertig betrachteten?
„Sich auf das erklärende Verstehen zu beschränken und zugleich auf das rückblickende Verurteilen zu verzichten, könnte dabei helfen, den eigenen Horizont zu erweitern“, so Brodkorb in der Einleitung.
Ein Grundsatz, dem er treu bleibt: Brodkorb informiert ohne Polemik, ohne kulturkämpferischen Furor. Er arbeitet die Komplexität afrikanisch-europäischer Beziehungen heraus. Mit verblüffenden und spannenden Episoden und Anekdoten rekoloriert er das monochrom weiß-schwarze Zerrbild, das die postkoloniale Ideologie entwirft. So löst er ein, was er sich in der Einleitung vornimmt: Er hilft uns, zu verstehen, statt zu verurteilen.
Mathias Brodkorb, Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativs. Zu Klampen, Hardcover mit Überzug, 272 Seiten mit zahlreichen, z.T. vierfarbigen Abbildungen, 28,00 €.
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Das Buch werde ich mir zulegen. Nach fast 12 Jahren in Liberia und nun sechs Jahren im Sudan lese ich es sicherlich mit durch Erfahrung gesteigerten Interesse, speziell was den Aspekt des Sklavenhandels angeht.
Zum postkolonialen Narrativ gehört ja auch der Mythos vom „weißen Täterkollektiv“, egal ob es sich um britische Händler, pommersche Knechte oder serbische Unabhängigkeitskämpfer handelt.
„Postkolonialismus“ und seine pauschale Schuldzuweisung an „Weiße“ entspricht dem, was Danisch als „A-B-C-D“-Schema bezeichnet. „Links ist, wenn A von B Schadensersatz dafür will, dass C von D einen Schaden erlitten habe, ohne dass ein Zusammenhang zwischen A und C oder B und D belegt wäre. Ich bezeichne es als das A-B-C-D-Schema. Oder juristisch ausgedrückt: Jemand, der nicht aktivlegitimiert ist, verlangt von jemand, der nicht passivlegitimiert ist, Schadensersatz. Warum? Weil sie nicht nach Invididuen unterscheiden können, sondern A mit C und B mit D gleichsetzen, weil sie jeweils denselben halluzinierten oder realen Kollektiven zugehören. In den USA wollen nun viele Schwarze… Mehr
Und noch etwas: Wie würden (nicht wenige!) amerikanische „Schwarze“ heute ihren Lebensstandard beschreiben, wenn ihre Ahnen nicht dereinst als „Sklaven“ in die USA gekommen wären? Als Besser, oder als schlechter? Und können die ihre Lebenssituation überhaupt vergleichen? Denn nur sie sind ja die vermeintlich Unterdrückten.
Wie dumm, geschichtsvergessen und unverschämt LinksGrünWoke sind, erkennt man schon an der Stigmatisierung der „Weißen“. KEIN EINZIGER heute lebender Weißer hat sich in irgendeiner Weise „kolonialistisch“ betätigt. Dennoch soll JEDER Weiße heute dafür haften, was ANDERE Weiße vor mehr als einhundert Jahren getan haben. Das nennt man doch Sippenhaft, oder? War das nicht ein Konzept der nationalen Sozialisten? Nebenbei – wieso fordern LinksGrünWoke eigentlich nie eine Entschuldigung und Wiedergutmachung für die Sklavenhaltung, die in arabischen Gebieten üblich war? Wieso wird nie thematisiert, dass arabische Sklavenhändler die europäischen Küsten des Mittelmeeres bis ins späte 18. Jahrhundert überfielen und dort Menschen entführten?… Mehr
Ist das nicht derselbe Herr Brodkorb, der ein kritisches Buch über den Verfassungsschutz geschrieben hat? Und jetzt zweifelt er auch noch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse an? Er wird es wohl bald mit den „Instrumenten unserer wehrhaften Demokratie“ zu tun bekommen. Im links-grünen Polizeistaat kommt es dem einfachen Bürger nicht zu, kritische Fragen zu stellen.
Ich bin jetzt etwas irritiert. Soll mir dieses Buch den afrikanischen Kontinent näher bringen, oder Nichtwissende davon überzeugen, daß sie es heute eigentlich sind, die sich ständig fremde Kulturen aneignen?
Sorry, aber mir geht es schon auf die Nerven, ständig für das dritte Reich verantwortlich zeichnen zu müssen. Für den Kolonialismus meiner Ur-Urahnen ist da einfach kein Platz mehr. Und alle „anderen“ werden dieses Buch ohnehin nicht lesen, denn es nähme denen höchstwahrscheinlich jedes ihrer selbstverliebten Pseudo-Argumente.
Trotzdem: Vielen Dank für diese Buchempfehlung. Man könnte die Lektüre ja mal jemanden anraten, der (m.w.d.) nichtmal weiß, wie Afrika buchstabiert wird.
Diese Unwissenheit bzw. das bewußte verschweigen der anderen Sicht der Dinge ist heute in allen Bereichen zu finden. Jeder kennt den Spruch „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“ oder „Nie wieder“. Liest man den ganzen Text, dann sieht das ganz anders aus. „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin – dann kommt der Krieg zu Euch! Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und läßt andere kämpfen für seine Sache, der muß sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den… Mehr
Gelächter – wider jenem Plädoyer basiert dieses Gemeinwesen auf genau jener „moralistische Hybris“, vulgo Lüge
Dafür schaffte man 1918 die Monarchie ab