Vermeintliche Menschenrechtsfreunde verkauften sich ans Golfemirat Katar

Die Ermittlungen der belgischen Behörden gegen die Korruption im Umfeld der sozialdemokratischen Fraktion des EU-Parlaments haben gerade erst begonnen. Im Zentrum eine Menschenrechts-NGO namens "Fight Impunity". Im Parlament ist man entsetzt – und fürchtet zugleich weitere Enthüllungen.

IMAGO / Independent Photo Agency Int.
Eva Kaili

Die Brüsseler Ermittlungsbilanz der letzten Tage fällt herzhaft aus: mehrere Brüsseler Wohnungen mit Bargeld zuhauf in Taschen und Säcken, sechs Festnahmen, Durchsuchungen der Büros weiterer EU-Abgeordneter. Am Ende stehen vier Anklagen, unter anderem gegen die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili, die nun von ihren Rechten und Pflichten entbunden ist, und ihren Lebensgefährten, der S&D-Fraktionsmitarbeiter Francesco Giorgi. Der Journalist Louis Colart vom belgischen Le Soir glaubt, dass es noch nie eindeutigere Beweise für Korruption und Geldwäsche gegeben habe. Der Chef der CDU/CSU-Gruppe im Parlament, Daniel Caspary, spricht von einem „riesigen Imageschaden für die sozialistische Fraktion, aber leider auch für das gesamte Europäische Parlament“. Auch von einem großen „Vertrauensverlust“ ist die Rede.

EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola teilte – ähnlich wie vor ihr die S&D-Fraktion – mit, das Parlament insgesamt stehe „fest gegen Korruption“. Man könne derzeit nichts kommentieren, werde aber „alles tun, um den Lauf der Gerechtigkeit zu unterstützen“. Antworten auf Twitter umfassten die Forderung nach „einer umfassenden Überprüfung aller Abgeordneten, ihrer finanziellen und anderen Aktivitäten“ – vor allem sobald NGOs involviert wären. Das ist der Fall bei dem ebenfalls festgenommenen ehemaligen Mitte-links-Abgeordneten Pier Antonio Panzeri (erst L’Ulivo, dann PD), dem Chef der Brüsseler NGO „Fight Impunity“, deren Räume ebenfalls durchsucht wurden. Jedenfalls, so Colart im französischen Fernsehen, stehe diese NGO mit ihrem Vorsitzenden Pier Antonio Panzeri „im Zentrum der Ermittlungen“.

— France TV Europe (@FranceTVEurope) December 12, 2022

„Fight Impunity“ – wie ironisch, denn straflos wären um ein Haar auch Panzeri und seine Clique zweifelhafter Lobbyisten davongekommen. Das Bild von den Aktionen im Umfeld der sozialdemokratischen Fraktion des EU-Parlaments wird immer klarer und erlaubt kaum eine andere Beschreibung. Ein anderer Nutzer übersetzte Metsolas Mitteilung in einfacheres Englisch: „Warum hat sie sich, verdammt noch einmal, erwischen lassen? Es gibt so viele ‚legale‘ Wege der Bestechung.“

Kaili, zuvor eine der bekanntesten Fernsehmoderatorinnen ihres Landes, hatte eine zügige Polit-Karriere hingelegt, war 2007 ins griechische Parlament, 2014 dann ins EU-Parlament gewählt worden. Die griechischen Konservativen beneideten die Sozialisten um die attraktive Kandidatin. Am 18. Januar 2022 folgte dann eines der höchsten Ämter im Straßburger Parlament, auch wenn sich Kaili die Ehre des Vizepräsidentenamtes mit 13 anderen Parlamentariern und allein vier anderen Sozialdemokraten teilen musste.

Die Korruptionsaffäre um Kaili und vier weitere Personen aus dem Umfeld der S&D-Fraktion legt nun die Unvollkommenheiten des EU-Organ-Apparates offen. In Solidaritätsbekundungen und moralischen Appellen ist das Straßburger Parlament sonst großspurig und selbstbewusst. Das ist umso leichter, als die Parlamentarier fast von jeglicher Realpolitik befreit sind. In Straßburg reicht es großmächtige moralische Imperative in Deklarationen und Vorgaben zu gießen, die dann die Mitgliedsstaaten umzusetzen haben. Daneben kann man sich an den Prügelknaben der Union – seit einiger Zeit vor allem Ungarn, Polen, nun auch Italien – gesundstoßen. 

Viktor Orbán jedenfalls, dem von der EU immer wieder Korruption vorgeworfen wird, lacht darüber und twittert heute: „Good morning to the European Parliament!“ And then they said: The EP is seriously concerned about corruption in Hungary (Und dann sagten sie: Das EP ist ernsthaft besorgt über die Korruption in Ungarn).

Die neue Affäre hat dabei zwei Seiten. Zum einen ist da der mutmaßliche Geldgeber Katar, dessen Name aus den ermittelnden Behörden an die belgische Presse gedrungen ist, während die Mitteilung der belgischen Staatsanwaltschaft nur von „einem Golfstaat“ spricht.

Die zwei Seiten der Affäre: Katar und eine willfährige EU-Clique

Im Falle Katars kann man von einer sehr regen internationalen Diplomatie sprechen, die neben Fingerhakeleien mit den USA und anderen jüngst eben auch den Sport umfasst. Das Land hatte sich in der arabischen Welt isoliert, als es die Proteste und Aufstände des sogenannten „arabischen Frühlings“ unterstützte. Dabei griff man insbesondere auf islamische, dschihadistische und salafistische Gruppen wie die Muslimbruderschaft oder die Al-Nusra-Front zurück. Daran erinnerte erst kürzlich der Sohn von Husni Mubarak, des einstigen ägyptischen Präsidenten, der durch den Aufstand – von vielen als inszenierte oder von außen ermutigte „Farbrevolution“ gesehen – fiel. Im Zuge der „Arabellion“ kamen kurzzeitig die ägyptischen Muslimbrüder an die Macht, bevor sie durch eine Militärregierung ersetzt wurden. Der neu eingesetzte katarische Emir, Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani, hatte schon 2014 gegenüber CNN, es wäre ein „großer Fehler“, jede islamische Bewegung für „extremistisch“ zu halten. Das zielte offenbar auf eine „Legalisierung“ islamischer Politik, und die setzt das Emirat Katar bis heute praktisch um.

In Syrien unterstützt das Golfemirat die dschihadistische Al-Nusra-Front, die sich zunächst als Teil von Al-Qaida präsentierte, bevor sie dieses Bekenntnis zugunsten einer angeblichen Einheit aller Rebellen gegen Assad aufgab. Noch immer operiert Al Nusra in Nordsyrien im gar nicht so heimlichen Verein mit der Türkei Erdogans. US-Abgeordnete mutmaßten gar, Katar könnte auch den IS selbst finanziell unterstützt haben, den man doch zusammen mit Washington zu bekämpfen vorgab. Tatsächlich richteten sich die Aktivitäten des Golfemirats aber vor allem gegen die Assad-Regierung und die kurdische Autonomiezone an der Grenze zur Türkei. Kontakte besitzt man auch nach wie vor zur Hamas, die man aus Doha dazu aufgerufen haben soll, zumindest bis zum Abschluss des Fußballturniers am 18. Dezember keine Unruhe im Gazastreifen zu stiften.  

Dieses Land also, das den politischen Islam legalisieren will und sich dabei als Macht- und Stabilitätsfaktor in Nahost anpreist, hätte versucht, durch Geldgeschenke an EU-Politiker und EU-Lobbyisten Einfluss auf den Staatenbund auszuüben, wobei es vermutlich weniger um konkrete Entscheidungen ging – zumindest sind die noch nicht ins Licht öffentlicher Aufmerksamkeit geraten – als um das generelle Meinungsklima, dass ja auch für die WM-Austragung förderlich war. In genau diesem Sinn agierte auch die EU-Abgeordnete Kaili, die sich auch vor dem Plenum lobend über die Fortschritte Katars im Hinblick auf die Menschen- und Arbeitnehmerrechte äußerte. Die Fußball-WM in Katar bilde „einen konkreten Beweis dafür, dass die Sportdiplomatie die historische Transformation eines Landes bewirken kann, dessen Reformen die arabische Welt inspiriert haben“.

Auch der Gewerkschaftsfunktionär Luca Visentini, Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), lobte den Sportveranstalter Katar in ähnlicher Weise: Die Situation der Wanderarbeiter aus Asien und Afrika, die dort die Bevölkerungsmehrheit (angeblich mehr als 80 Prozent) ausmachen, habe sich verbessert. Der IGB will die Korruptionsvorwürfe gegen Visentini „in diesem Stadium“ noch nicht kommentieren.

Panzeri als Kopf der Bande, Kailis Lebensgefährte als zweiter Mann

Bleibt die Frage, was das Agieren des Golfemirats mit Europa und der EU macht. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang vielleicht die Aussage des Redakteurs der belgischen Tageszeitung Le Soir, Louis Colart, durch den der Skandal auch an die Öffentlichkeit kam. Es handelt sich freilich nicht um investigativen Journalismus im engeren Sinne. Die Informationen wurden dem Polizeireporter Colart aus den ermittelnden Behörden zugespielt. An der Spitze der nun zu erhärtenden, teils schon ermittelten „kriminellen Bande“, bei der es um persönliche Vorteilsnahme gegen politische Gefälligkeiten ging, steht demnach der Ex-EU-Abgeordnete und NGO-Gründer Pier Antonio Panzeri. Gleich hinter ihm folgt allerdings der Lebensgefährte Kailis, Francesco Giorgi, der selbst parlamentarischer Mitarbeiter der S&D-Fraktion ist, und als erster Komplize Panzeris gilt.

In seinem Twitter-Auftritt nennt Giorgi sich selbst „Berater beim EU-Parlament für Auswärtiges, Menschenrechte“. Tatsächlich scheint auch Giorgi eng verbunden mit der „Menschenrechts-NGO“ von Panzeri („Fight Impunity“), ebenso wie Maria Arena, die belgische Abgeordnete, deren Büros ebenso durchsucht und versiegelt wurden und der es nicht gefiel, dass auch darüber berichtet wurde.

An diesem Montag, 12. Dezember, sollte eine Konferenz der NGO zu „weltweiten Friedensprozessen“ beginnen, wo man sich laut Programm zumeist mit vermeintlich linken Befreiungsbewegungen befassen wollte – von Kolumbien über Kurdistan bis zur westsaharischen Frente Polisario. Teilnehmer sollten auch Pier Antonio Panzeri und Luca Visentini sein. Ob die Konferenz stattfindet und in welcher Form, ist unklar. Wie passt jenes Programm aber mit dem Geld aus Katar zusammen? Vielleicht so: In beiden Fällen geht es um Interessenpolitik, einmal der Mitte-links-Politiker, dann eben Katars.

Grüner EU-Abgeordneter: „Ich befürchte, dass die Sache größer ist“

Und so gibt es einen Fortschritt im Verhältnis EU–Katar, der just in diesen Tagen feste Gestalt annimmt: die Visumsfreiheit für katarische und kuweitische Staatsbürger bei Reisen in die EU, obwohl die Grünen und (ausgerechnet) die S&D-Fraktion nun Einwände dagegen äußern und das Abkommen aussetzen wollen. Auch der Berichterstatter der Änderung, der deutsche Grüne Erik Marquardt, scheint plötzlich aus allen Wolken gefallen und will die Grenzöffnung für Kataris nicht mehr tragen – sicher, weil ihm der Gedanke, dass diese Erleichterung aufgrund katarischer Geldgeschenke beschlossen wurde, unerträglich ist. „Null Toleranz für die Korruption“ schäumte die deutsche Grüne Terry Reintke, Co-Vorsitzende ihrer EU-Fraktion.

Inzwischen hat der belgische EU-Abgeordnete Marc Tarabella, dessen Räume ebenfalls durchsucht und versiegelt wurden, sich gegen den Vorwurf der Korruption verwahrt: „Ich habe nie Geschenke aus Katar angenommen. Ich hätte die Leute angezeigt.“ Allerdings war Tarabella ebenso wie Eva Kaili laut dem deutschen EU-Abgeordneten Daniel Freund (Grüne) ungewöhnlicherweise anwesend, als die LIBE-Kommission über die Visumsfreiheit für katarische Bürger entschied. Kaili jedenfalls gehörte der Kommission nicht formell an.

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Daniel Freund spricht von einem „gewaltigen Korruptionsskandal“. Dem belgischen Sender RTBF sagte der grüne EU-Abgeordnete: „Bisher sind alle Mitarbeiter und Abgeordneten, die festgenommen und deren Büros durchsucht wurden, Sozialdemokraten … aber es würde mich überraschen, wenn Katar versucht hätte, die Meinung des Europäischen Parlaments nur durch sozialdemokratische Abgeordnete zu drehen. Ich befürchte daher, dass die Sache größer ist.“ Weitere Namen könnten in den kommenden Tagen bekannt werden. „Ich weiß es nicht, aber ich befürchte, das könnte passieren“, betont Freund, offenbar besorgt um den Ruf des Parlaments, dem auch er angehört. Er fordert von allen Parlamentariern, aber auch von den Mitgliedern der Kommission (inklusive Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen), ihre Treffen mit Vertretern von Drittstaaten offen zu legen. Doch für die Visa-Erleichterungen haben auch Abgeordnete seiner Fraktion gestimmt, ebenso wie Christdemokraten und andere Volksparteiler.

Auch der Journalist Colart sieht die Reichweite des Skandals noch nicht fest bestimmt: „Innerhalb von drei Tagen haben die Ermittler wahrscheinlich wer weiß wie viele Terabytes an Daten abgerufen, und sie werden vielleicht erst heute damit beginnen, das alles auszuwerten. Es wird also noch Tage und Wochen dauern.“ CollardColart selbst weiß freilich noch nichts von „weiteren Enthüllungen“. Auch in diesem Fall folgt die Presse also dem Spiel der Ermittlungsbehörden, deren Bewegungen oft genug von anderen Spielern bestimmt werden.

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