Rettet das Direktmandat

Immer mehr Abgeordnete werden nicht gewählt, sondern ernannt. Der Bundestag wird zum XXL-Parlament, die Demokratie leidet Schaden. Bundestagspräsident Lammert und der Bund der Steuerzahler laden zu einer Tagung, um den Missstand zu beheben.

Wahlen in Deutschland sind eine seltsame Sache. Es gibt 299 Wahlkreise, aber die doppelte Anzahl von Abgeordneten. Das liegt an der Kombination direkt gewählter Abgeordneten und von Listen, deren Zusammenstellung von den Parteien vorgegeben werden. Dazu kommen „Überhangmandate“. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält als Listenmandate. Und dann gibt es Ausgleichsmandate, in denen Überhangmandate verrechnet werden und z.B. ein „Ausgleich“ dafür geschaffen wird, wenn wie in Bayern besonders viele Parteien an der 5-Prozent-Hürde gescheitert sind: Dann wird so lange herumgerechnet, bis viele „Ausgleichsmandate  für ein negatives Stimmengewicht“ entstehen. Das Erstaunliche: Immer mehr Abgeordnete sitzen im Bundestag und auch in den Landtagen, die gar nicht gewählt wurden. Sondern mathematisch „ausgeglichen“ wurden. Abgeordnete, die errechnet, aber nicht gewählt wurden? Das ist grob verfassungswidrig. So ergab es bei der letzten Bundestagswahl 4 Überhangmandate und 29 Ausgleichsmandate, so dass der Bundestag auf 632 Abgeordnete anwuchs.

Mit anderen Worten: Rund 5 Prozent der Abgeordneten wurden nicht gewählt – sondern ernannt. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen das Demokratiegebot. Bundestagspräsident Norbert Lammert will das ändern. Er hat die Diskussion um ein neues Wahlrecht angestoßen. Die Zeit drängt.

Bei der kommenden Wahl könnten es weit über 700 Abgeordnete sein, fürchten Experten und der Bundestagspräsident. Die Mehrkosten betrügen dann bis zu 200 Millionen Euro pro Jahr, aber schlimmer noch: Wenn der Bundestag anbauen muss, wird die Arbeit noch schlechter. Schon jetzt fehlen im Monsterparlament Ausschüsse, um alle MdBs irgendwie beschäftigt zu halten. Und: ernannte, aber nicht gewählte Abgeordnete – das passt nicht zu einer Demokratie.

(→ Hier geht es zum Veranstaltungshinweis)

Die Rechtslage ist kompliziert und wird immer komplizierter. In 18 Legislaturperioden kam es zu 22 Wahlgesetzen, hat der Wahlrechtsexperte Manfred Hettlage gezählt. Am Grundübel haben die vielen Reformen nichts geändert: Der Bundestag wächst und wächst und wächst, und durch die wachsende Zahl nicht gewählter Abgeordneter wächst das Unbehagen an diesem Procedere. Das Verfahren ist so kompliziert geworden, dass ohne Mathematiker das Geschehen einer Reform nicht mehr überblickt werden kann.

Hier die wichtigsten Argumente:

Am Ende steht das gesamte Wahlrecht zur Debatte. Die Lösung besteht sicherlich nicht in noch mehr Überhang-Ausgleichs-Mandaten und Ausgleichs-Ausgleichs-Mandaten, also in noch mehr „ernannten“ und nicht gewählten Abgeordneten. Denn dieser Paragraphenmoloch führt nur zur Wahl- und Demokratieverdrossenheit. Wahlen gewinnen an Wert, wenn sie verstanden werden. Das Verfahren wurde deshalb immer komplizierter, weil keine Partei schlechter, aber jede besser gestellt werden sollte. Soll dieser Weg weiter beschritten werden? Dann sinkt das Ansehen der Wahl, die undurchsichtigen Regeln folgt.

Einige Parteipolitiker tendieren nun zu einer Radikalreform: Nur noch Listenmandate. Alle Direktmandate entfallen ersatzlos. Dafür spricht eine gewisse Klarheit: Überhangmandate, diese Ursache des Übels, entfallen. Aber damit wird die Wahl noch mehr von der Vorauswahl der Parteien bestimmt, die die Listen erstellen. Die Bindung der Abgeordneten an ihren Wahlkreis entfällt: Die Listen werden in Berlin unter in Berlin wohnenden Politikern erstellt; die Wähler müssen die Listen fressen. Schon heute zeigt sich, dass Listen-Abgeordnete eher treue Angestellen-Abgeordnete sind, die vollziehen müssen, was ihre „Vorgesetzten“ anordnen. Die Kritik in der CDU/CSU wurde von direkt gewählten Abgeordneten getragen, die sich einen Rest Unabhängigkeit bewahrt haben: Wolfgang Bosbach, Klaus-Peter Willsch und auch Erika Steinbach stehen dafür.

Wenn es zu einer radikalen Reform kommt, sollte sie genau in die andere Richtung gehen: Nur noch Direktmandate. Dann gewinnt der Abgeordnete mit den meisten Stimmen seinen Wahlkreis. Die Gesamtergebnisse wären klarer, die Regierungsbildung ohne komplizierte Koalitionen einfacher. Gewinner wären voraussichtlich die größeren Parteien, wobei vermutlich sogar die SPD zum Hauptgewinner zählen würde: Sie kann zwar nur noch rund 20 Prozent der Listen-Stimmen auf sich vereinen, aber über ihre Schwerpunkte in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein viele Direkt-Mandate gewinnen. Die CDU und CSU wären im Süden stark. Die kleineren Parteien würden nicht durchfallen: Die Grünen verfügen über mehrheitsfähige Kandidaten in Baden-Württemberg, Berlin und vielen Großstadtbezirken; selbst AfD und Linke könnten über starke Kandidaten in den östlichen Bundesländern und in Wahlkreisen mit überzeugenden Kandidaten einziehen. Die FDP wäre gezwungen, sich von der Helikopterpartei wieder auf regionale Beine zu stellen.

Dies ist nur ein grober Aufriss. Aber er zeigt. Direktmandate wären direkter, weil sich starke Personen zur Wahl stellen müssten, die den engen Kontakt mit den Wählern im Wahlkreis brauchen. Die Macht der Parteien und Hinterzimmer würde tendenziell sinken: Es reichten nicht mehr starke Sprüche aus Berlin für die Medien – sie müssten sich am direkten Kontakt mit den Wahlkreis-Bürgern und ihrer Lebenswirklichkeit beweisen.

Die Basis für die kommende Reform, die sich im Dreieck „noch kompliziertere Stimmen-Verrechnung“, „nur noch Listenmandate“ und „nur noch Direktmandate“ bewegt, wird auf der kommenden Veranstaltung in Berlin diskutiert. Diskutieren Sie mit.

Mehr zu Manfred Hettlage und zum Wahlrecht: www.manfredhettlage.de.

Zuletzt: „Die Berliner Republik unter dem Damoklesschwert: Wahlgesetz, Wahlgrundsätze und Wahlprüfung“, 2016, Taschenbuch, 226 Seiten, Euro 19,40

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