Ex-Chefökonom Stark: Wir stecken mitten im Systemwechsel

Maastricht spielt keine Rolle mehr – Deutschland hat Souveränität über Haushalt verloren – „Ich kann einen Crash nicht mehr ausschließen“

IMAGO / Wolf P. Prange
Jürgen Stark, promovierter Volkswirt, zur Wende Referatsleiter im Bundeskanzleramt, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Vizepräsident der Bundesbank, Direktoriumsmitglied der EZB bis 2012: „Man hat sich in dem Wahn verfangen, große Zahlen zu produzieren“

Frankfurt. Ein verheerendes Urteil über die Haushalts- und Währungspolitik der EU zieht der frühere Chefökonom der EZB, Jürgen Stark. Demnach hat Deutschland die Souveränität über seinen Staatshaushalt verloren, die Maastricht-Kriterien spielen keine Rolle mehr. Stark spricht sogar von einem laufenden Systemwechsel.

Die galoppierende Verschuldung werde unweigerlich in eine Inflation münden, über die sich die hoch verschuldeten EU-Staaten entschulden werden. Sogar einen Crash will Stark nicht mehr ausschließen. „Nach meinem Eindruck haben wir die Erosion der nationalen Souveränität auf dem Gebiet der Haushaltspolitik längst“, kritisiert Stark im Gespräch mit dem Monatsmagazin Tichys Einblick. „Bei jedem euphemistisch als EU-Integrationsfortschritt deklarierten Vorgang, etwa den diversen Rettungsfonds des Jahres 2010, die später dann in den dauerhaften Stabilitätsmechanismus umgewandelt wurden, handelte es sich jeweils um eine Beschränkung der nationalen Budgetsouveränität.“

Stark greift die EZB frontal an, weil sie durch den gezielten Aufkauf der Staatsanleihen der südlichen Krisenländer deren Verschuldungspolitik direkt unterstützt. „Mit einheitlicher Geldpolitik hatte dieser selektive Anleihekauf nichts zu tun. Das war der entscheidende Schritt in die monetäre Staatsfinanzierung, die vertraglich verboten ist.“ Stark weiter: „Heute sind wir in einer Situation, in der die Explosion der öffentlichen Verschuldung ohne dieses aktive Handeln der EZB gar nicht möglich wäre.“ Jetzt werde die Staatsverschuldung noch befeuert durch das PEPP-Programm. „Im März 2020 waren es erst 750 Milliarden Euro, die für Anleihekäufe annonciert wurden, im Juni wurde dann um weitere 600 Milliarden Euro aufgestockt, und im Dezember gab es noch einmal 500 Milliarden Euro on top. Die unvorstellbare Summe von 1850 Milliarden steht zum Kauf von Anleihen bis zum ersten Quartal 2022 zur Verfügung.“ Das habe die Finanzmärkte noch einmal beflügelt, führe aber „zu einer Abkoppelung der Aktienmärkte von der Realwirtschaft“. Das könnte fatale Folgen haben. „Ich will einen Crash nicht herbeireden, aber ausschließen kann man ihn nicht.“

Als „Mogelpackung“ bezeichnet Stark das Corona-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ (NGEU). Das Programm habe „nichts, aber auch gar nichts mit den Folgen der Pandemie zu tun“, so der Ökonom. Es gehe vor allem um einen Machtzuwachs für die EU und die Finanzierung der Krisenländer. „Allein Italien erhält, wenn man Zuschüsse und Kredite addiert, rund 200 Milliarden Euro. Diese riesige Summe taucht nirgendwo in der italienischen Schuldenstatistik auf.“ Stark zieht ein düsteres Fazit. „Was wir hier erleben, hat mit Maastricht und den Verträgen, denen Deutschland zugestimmt hat, nichts mehr zu tun. Wir stecken mitten in einem Systemwechsel.“


Lesen Sie das ganze Interview in Tichys Einblick 06-2021 >>>

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Kommentare ( 85 )

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85 Comments
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Axel Fachtan
2 Jahre her

Alle politischen Ebenen entziehen sich der Kontrolle durch die Basis. Durch Euro und EU hat die politische Kaste bereits seit Mitte der Neunziger Jahre, als das Ganze geplant wurde, die Axt an die Wurzeln der Mittelschicht in Deutschland und Europa gelegt. Von 1948 bis 2001 gab es mit der D-Mark eine funktionierende Währung. Kein einziges „Rettungspaket“ war erforderlich. Die D-Mark war ein Erfolgskonzept, das politisch zerstört worden ist. Durch Kohl, Genscher, Waigel, Schröder, Fischer u.v.a.m. Für die Folgen dieser Zerstörung will aber niemand einstehen. Ein System, in dem Scheuer und Spahn Bundesminister bleiben dürfen, ist keine funktionierende Demokratie mehr. Bei… Mehr

karel
2 Jahre her

Werter Herr Starck, natürlich sind wir im Systemwechsel…
seit 2004, als mit der EU-Erweiterung um 10 Länder die politische EU-Hoheit zu den Sozialisten in Europa wechselte, Umkehr ausgeschlossen.
Die vielgenannten Stabilitätskriterien, von der Kohl-Regierung als Voraussetzung für die Aufgabe der DM durchgesetzt, wurde ausgerechnet von Deutschland von einer rot-grünen Regierung ausgehebelt.
Und nun ist Merkel für alles verantwortlich. Welch ein Etikettenschwindel.

Klaus D
2 Jahre her

Deutschland hat Souveränität über Haushalt verloren……war aber zu erwarten denn gerade die konservativ liberalen haben uns (deutschland) für ein appel und ei an die EU lobbys verkauft

twent80
2 Jahre her

In einem Interview mit der Welt aus dem Jahr 2007 hat Herr Stark noch dt. Lohnzurückhaltung gefordert. Das Ergebnis war eine Rentenkürzung. Erst die Einführung des Mindestlohns hat das Rentenniveau stabilisiert. Hier ein Ausschnitt aus dem Interview und das am Vorabend der Finanzkrise. Stark: Ich spreche keinem Arbeitnehmer das Recht ab, angemessen entlohnt zu werden. Tatsache ist allerdings auch, dass dank der Lohnzurückhaltung in den vergangenen Jahren mehr Menschen Arbeit gefunden haben. Die Arbeitslosigkeit als große soziale Herausforderung wird nicht gemeistert, indem man hohe Lohnzuwächse zulässt, sondern indem man die Produktivitätssteigerungen nicht vollständig für höhere Löhne ausschöpft. Deutschland ist ein positives… Mehr

Last edited 2 Jahre her by twent80
karel
2 Jahre her
Antworten an  twent80

Es gibt noch eine andere Wirklichkeit: Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften sanken um die Jahrtausendwende von einst 10 Mio auf etwa 6 Mio. 4 Mio Beitragszahler fielen aus. Das Streiken auch, denn die Streikkassen waren leer. während vorwiegend in den MED-Ländern die Löhne rasant stiegen. Die Finanzkrise machte den EURO für MED billig, deren Staatsschulden expoldierten. Man kaufte ein… in Deutschland. So was aber auch… diese Realität liest man kaum in den Zeitungen. Dafür aber Agenda 2010. Auch so´n Etikettenschwindel. Ein weiterer Blick zurück: in Zeiten von SPD-Regierungen stiegen hierzulande stets die Staatsschulden rasant an, die Arbeitslosigkeit ebenso. Scheint weithin unbekannt… Mehr

Kalmus
2 Jahre her

In Gesprächen mit meinen links-und rechtsrheinischen Bekannten und Verwandten werden mir immer mehr die unterschiedlichen Welten bewusst. Wir reden aneinander vorbei, auch zum Thema Geldpolitik. Während bei mir nach dem 40 Jahre Erlebten die Alarmglocken schrillen, sind es bei denen Glöckchen der Verheißung.

Korner
2 Jahre her

Die Grünen haben nun erklärt, dass sie auch ohne Bekenntnis zur NATO mit den Linken koalieren wollen. Die werden es dann schon richten. Herr Stark, Ihre Sorgen sind also unbegründet.

Thorsten
2 Jahre her

China wird diesen Abwertungswettlauf mitmachen aber vor allem mit seinen Exportüberschüssen alles Wertvolle im Westen aufkaufen. Immobilien, Rohstoffe und Know-How kommen mir da in den Sinn.
Wir werden enden wie Südamerika als Bananenrepubliken die ihren Hegemon regelmäßig anbetteln müssen …

Zwischenrufer
2 Jahre her

Wetten, die nächste Generation wird an der kommenden Wirtschaftskrise mehr leiden als an der Klimakrise. Die jungen Leuten hüpfen heute für den Klimaschutz. Morgen werden sie bedauern, dass sie nicht gegen eine Weltwirtschaftskrise gehüpft sind.

Rudi Huschke
2 Jahre her

Hat doch auch etwas Gutes. Endlich kann sich Deutschland mit Fantastilliarden verschulden und die anderen Länder zahlen für unsere Schulden mit. Ist doch wunderbar..!

Regina Lange
2 Jahre her
Antworten an  Rudi Huschke

Ne, ne, so läuft das nicht! Wir bezahlen Fantastilliarden (übrigens eine brillante Wortschöpfung) für die Schulden und die Sozialsysteme der anderen EU-Staaten. Sind wir dann heillos überschuldet und können unseren „Zahlungspflichten“ an die EU und an unsere Brüdern und Schwestern aus den nehmenden Staaten nicht mehr nachkommen, gibt’s ein Tribunal am europäischen Gerichtshof und die Uschi und ihre Mann*innen werden uns Strafzahlungen aufbrummen, dass uns Hören und Sehen vergeht!

ketzerlehrling
2 Jahre her

Der Crash kommt auch. Noch wird dieses kranke System mit Unmengen an frisch gedrucktem Geld am Leben erhalten. Aber wie das so ist mit immer mehr Eiern, mit denen man jongliert. Irgendwann ist es eines zuviel und alles geht zu Bruch.