Die Macht der Ideologien – Linke und Islam

Wird die Integration den Rückwärtsgewandten überlassen, statt sie in die Hände der Kämpfer für Aufklärung und Meinungsfreiheit zu legen, kann es keine Wende geben. Ein Beitrag zur Debatte über die Reformbereitschaft von Religionen/Ideologien und die Chancen für einen aufgeklärten Islam von Ingrid Ansari.

Screenshot: phoenix, im dialog
Ex-RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo

Vor ein paar Tagen sah ich auf Phoenix – „Im Dialog“ – ein (leider viel zu kurzes) Gespräch mit dem früheren RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo. Für mich Zeitgeschichte, aber als Jugendliche und dann in Beruf und Familie involvierte junge Frau war ich nur atmosphärisch davon betroffen und versuche erst jetzt im Rückblick, mir ein Bild über diese bewegte Zeit zu machen. Dellwo wollte eigentlich nicht mehr im Fernsehen auftreten, schrieb Moderator Michael Krons, habe aber in dem Dialog-Format eine Möglichkeit gesehen, die ideologischen Hintergründe der vor 45 Jahren gegründeten RAF zu kommentieren. Aha, „ideologisch“, ja, das ist Dellwo anscheinend immer noch wichtig, dachte ich. Also ansehen!

Nach seinen Motiven gefragt, erklärt Dellwo, dass er sich schon als Kind gegen jeglichen Anpassungsprozess gewehrt habe. In die seiner Überzeugung nach faschistische BRD, in der er in einem Klima der permanenten Repression und der Konditionierung zur Härte, wie er sagt, aufwuchs, wollte er sich unter keinen Umständen integrieren lassen. Es war ein Aufbegehren gegen alle Autoritäten: Eltern, Lehrer, Kirche, Justiz, Wirtschaftsordnung, Regierung, Ordnungskräfte, „Bullen“ – ein radikaler Bruch mit den „altnazistischen“ gesellschaftlichen Verhältnissen.

Die Hausbesetzungen 1973 sieht Dellwo heute noch als berechtigt an und fragt sich, weshalb ein derart großer Wirbel darum gemacht worden sei. Das Eigentumsrecht sollte im Sinne einer Gleichverteilung, einer radikalen Gleichheit vor dem Gesetz in Frage gestellt werden. Pläne, was nach der angestrebten Staatsabschaffung geschehen sollte, habe man nicht gehabt. Erst einmal müsse der Feind niedergemacht werden.

Nach dem Hungertod von Holger Meins (1974) sei Widerstand nur mit Gewalt denkbar geworden; der Tod eines durch die Haftbedingungen „Gefolterten” habe für ihn die Nachricht bedeutet, dass eine extreme andere Ausrichtung nicht geduldet werde. Damals sei es die permanente Hetze des Staates gegen die Unangepassten gewesen, jetzt hetze man gegen die Flüchtlinge. Auf die Frage nach den Opfern der RAF-Terroranschläge meint Dellwo, die wahren Opfer seien die Menschen in der Dritten Welt. (Und sie selber, möchte man hinzufügen; sie, die sich immer als Opfer der Gesellschaft gesehen haben.) Eine für Ideologen typische Antwort: Ablenkung von den eigenen Taten auf die der Gesellschaft, ohne auf die Frage eingegangen zu sein.

Wie wird man zum Anhänger einer Ideologie/Religion

Was beim Anhören von Dellwos Ausführungen auffällt ist, dass er, der von einem rebellischen Kind zu einem Jugendlichen mit all den typischen Anzeichen eines Pubertierenden wurde, auf dieser Entwicklungsstufe stehen geblieben scheint. Er hatte sich damals mit Gleichgesinnten zusammen getan, die sich ständig gegenseitig bestätigt und von Andersdenkenden radikal abgesetzt haben, ihre Überzeugungen nie durch Auseinandersetzungen mit anderen Meinungen überprüft haben.

Wie aber haben es die Studentenbewegung, die APO (die Außerparlamentarische Opposition) und später die RAF (deren Anzahl zwischen 1970 und 1990  nur noch zwischen 60 und 80 Personen betrug), geschafft , derartige Kreise ziehen und die Gesellschaft bis heute zu beschäftigen und zu verändern?  Wobei die Überreaktionen des Staates die Aggression nur noch verstärkten. Dass die 68er nach dem Krieg  fruchtbaren Boden für ihre Kritik fanden,  kann man nachvollziehen – auch ich habe vor allem die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit und die Kritik am ungebremsten Kapitalismus begrüßt. Außerdem hatte die Bewegung sogar noch zu RAF-Zeiten Unterstützung und Helfer aus der Mitte der Gesellschaft: Schriftsteller, Künstler, Liedermacher, Juristen, Pädagogen, Intellektuelle – darunter bekannte Namen – nahmen zeitweise Mitglieder auf.

In meinem eigenen Freundeskreis fielen Namen von Unterstützern und sogar von Sympathisanten, die in Versuchung waren, zur Ausbildung in eines der Trainingslager nach Palästina zu gehen.  Dennoch war es insgesamt eine Minderheit, die für eine Zeit lang die ganze BRD in Atem hielt und sich auf den angekündigten „Marsch durch die Institutionen“ machte. Ihr Wortführer Rudi Dutschke war es, der diese Formulierung geprägt hat, die an den „Langen Marsch“ von Mao erinnern sollte, dessen „Bibel“ die APO ausgerechnet zu Zeiten der zerstörerischen, staatlich verordneten „Kulturrevolution“ vergötterte. Zerstören von Kulturgütern steht ja auch bei muslimischen Fanatikern hoch im Kurs. Und sehen wir uns heute unsere Kulturlandschaft an, kann man auch hier die Schäden besichtigen. Aber dass die Bewegung am Ende derart gesellschaftsverändernd wirken konnten, war – und ist mir noch heute – eine Denkaufgabe. Hier ein Versuch:

Dadurch, dass die Revoluzzer auch vor sich selber keinen Zweifel daran hatten, im absoluten Recht zu sein, wirkten sie  so stark auf  Menschen, die in jungen Jahren durch die Wirren der Pubertät und durch die Verunsicherung ihrer Erziehungspersonen Halt in einer Peergruppe suchten, in der sie mit Gleichgesinnten eine soziale Orientierung und Richtlinien fanden und ihrem altersgemäßen Drang nach Ausbruch, Abenteuern und Revolte Ausdruck verleihen konnten.

Wenn man einmal die Listen z.B. der späteren RAF-ler auf ihre Vorbildung hin abklopft, so fällt auf, dass viele der Männer und Frauen Studienabbrecher (oft mit Fächern wie Pädagogik, Psychologie oder Soziologie) waren und nach  dem  Bezug einer Wohngemeinschaft das Studium  nicht mehr weiter führten, um sich voll politisch engagieren zu können. Es gab auch Schulabbrecher, die herumlungerten, kriminell wurden oder sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielten, bis sie – manchmal schon im Alter von 16 Jahren – in einer solchen Gruppe landeten.

Erinnern wir uns an unsere eigene Jugendzeit und wie unsicher, suchend, streitbar und verführbar man in dem Alter oft ist, wie wenig man manchmal noch mit seinen Eltern zu tun haben will und kann gut verstehen, warum die Jugendlichen sich andere Impulse und Aufgaben suchten. Bleiben sie dann jedoch dort verankert und lassen keine frischen Anstöße von außen zu, dann treten sie mit der Vorstellung, die sie von der Welt haben,  auf der Stelle, sie bleiben dort – oft sogar ein Leben lang –  stecken, wo sie angefangen haben, was naturgemäß besonders bei denen auffällt, die lange im Gefängnis gesessen haben wie Karl-Heinz Dellwo.

Das Drehen um sich selber, das Leben in einem geschlossenen Weltbild, ein Leben wie in einem Kokon – mit einem Glauben an eine Utopie von absolut gesetzter Geltung im Zentrum – hat etwas Autistisches. Mit „Nicht-Gläubigen“ setzt man sich – der man ja in der Wahrheit ist – nicht auseinander, sondern man belehrt sie.  Die Belehrungsattitüde ist allen Ideologien eigen, sei ihre Utopie nun göttlich, sozialistisch, faschistisch oder was auch immer. Derzeit sind die LIES!-Aktionen der Salafisten dafür eine gutes Beispiel.

Eine Veränderung von außen ist unmöglich, weil die Mitglieder gar nicht in der Lage sind, sich von außen zu sehen. Auflockernder Witz oder Ironie sind out, weil sie das Leben als komplex begreifen. Kunst und Kultur spielen nur insofern eine Rolle, als sie uns belehren kann. Um die ganze Bandbreite der Kunst auszuschöpfen, sind Ideologen zu unfrei in ihrem Denken, zu einseitig auf Schwarz und Weiß fixiert, orientieren sich zu sehr an Tabus und Moral.

 50 Jahre Wiederkäuen

Seit 50 Jahren käuen die, die man zusammenfassend  als „links“ bezeichnet, ihre ausgelaugten Ideen wieder. Der Muff, den sie damals verscheuchen wollten, wabert nun bei ihnen durch die Stuben. Während sie diesen Mief abschaffen wollten, haben sie sich gleichzeitig gut versorgt. Einige haben es bekanntermaßen weit gebracht. Otto Schily, vorher RAF-Anwalt, wurde später – immerhin mit Qualifikation – Innenminister. Joschka Fischer, einst Mitglied der linksradikalen und militanten „Revolutionären Front“ beteiligte sich an mehreren Straßenschlachten mit der Polizei und war „Abbrecher“ auf allen Fronten. Als er 1985 Umweltminister von Hessen wurde, hatte er – nach eigenen Angaben (s. Doku „Joschka und Herr Fischer“) – bei seinem Antritt keinerlei Qualifikationen und nicht die geringste Ahnung von seinen Aufgaben als Minister.

Mal wieder setzten die Grünen stattdessen mit  Äußerlichkeiten auf Provokation: Schwur ohne Krawatte und mit Turnschuhen. Heute stehen letztere in einem Museum und sind dort anscheinend eine Attraktion. Heute wirkt eine solche „Verkleidung“ nur noch grotesk, wie man es z.B. an Claudia Roth sieht, die längst das fürstliche Gehalt einer Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags kassiert. Lächerliche Reste einer Protesthaltung, die sich längst mit dem Kapitalismus arrangiert hat und anscheinend gar nicht merkt, wie unglaubwürdig sie auf Nicht-Gleichgesinnte wirkt. In Talkshows und Interviews verbreiten sie ihre abgeleierte Weltsicht ohne Rücksicht darauf, dass sie die Zuschauer schon seit Jahrzehnten mit immer wieder Demselben zu Tode langweilen.

Ihre Techniken: Abwehren, Relativieren, Moral predigen, Abwerten, Ausgrenzen, z.B. nicht die Hand geben, nur in eine Talkshow gehen, wenn ein bestimmter „Anderer“ ausgeladen wird. Experten, Professoren, die jahrelang auf einem Gebiet wissenschaftlich gearbeitet haben, werden je nach Passung abgeschmettert.  Denn frei nach dem Motto „Jeder Mensch ist ein Künstler“(Joseph Beuys), „Jedes Kind ist hochbegabt“ (Gerald Hüther) sind wir jetzt ja alle auch Wissenschaftler. „Beleidigungen sind die Argumente jener, die über keine Argumente verfügen“, sagte schon Jean-Jacques Rousseau.

Was verbindet Linke, Islam und Kirchen

Die politische  Kraft und Glaubwürdigkeit der Linken ist versiegt. Wollen sie und die Kirchen nun neue Energien aus dem noch so lebendigen, betriebsamen und kämpferischen Islam ziehen? Sich sozusagen anhängen? Der Islam als der Glaube, der seine Kraft auch daraus zieht, dass seine Anhänger ihn schon mit der Muttermilch aufgesogen und verinnerlicht haben und der aus diesem Grund noch viel tiefer verwurzelt ist als die Ideologie der 68er? Eine Religion, die die Welt in Gläubige und Nicht-Gläubige aufteilt, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau leugnet, die Ehebrecherinnen steinigt und Homosexuelle hängt; die in patriarchalischen Strukturen lebt. Das alles scheint gar keine Rolle zu spielen. Einer Debatte darüber weichen die Linken schlicht und einfach mit den oben genannten Techniken aus. Impulse aus der realen Welt erreichen diese Gruppierungen gar nicht mehr. Daher ist es auch ein sinnloses Unterfangen, mit ihnen diskutieren zu wollen.

Ideologien sind austauschbar. Der Rechtsanwalt Horst Mahler, einst Verteidiger von Andreas Baader und Gudrun Ensslin und glühender RAF-Aktivist, distanzierte sich während eines Gefängnisaufenthalts von der linksradikalen Szene; nur, um später in der rechtsradikalen Nazi-Szene zu landen. Wegen Volksverhetzung und Leugnung des Holocausts ist er meines Wissens noch heute in Haft. Die Welt in ihrer Komplexität zu sehen, ist eben weitaus härter als sich erneut in die Traumwelt eine Ideologie zu flüchten.

Sich von einer Ideologie zu lösen, ist den meisten nicht möglich. Wir sehen es bei Karl-Heinz Dellwo (s.o.) und vor allem bei alten Nazis. Wie erst bei denen, die von Geburt an infiltriert sind. Der Politologe und Schriftsteller Hamed Abdel Samad hat diesen schmerzhaften Prozess durchgemacht. In seinem ersten Buch „Mein Abschied vom Himmel“ schildert er seine Ängste, Zweifel und Verlusterfahrungen, die ihn an den Rand des Zusammenbruchs geführt haben. Er hat überlebt.  Nun ist er vom Tod durch seine früheren Glaubensbrüder bedroht.  Aus der Mitte einer um sich selbst kreisenden Religion kann nur in Einzelfällen Selbstheilung erwachsen, weil die Kraft oft nicht ausreicht und der Abschied von der vertrauten Umgebung, von der Glaubensgemeinschaft und der Familie zu schmerzhaft ist.

Die Muslime und die Aufklärung

Die große Bewegung der „Aufklärung“, die Berufung auf die Vernunft, die Hinwendung zu den Wissenschaften und die Aufforderung zu religiöser Toleranz, zur Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten war kein Impuls, der aus den kirchlichen Institutionen kam. Er kam von außen, von Philosophen, Psychologen, Wissenschaftlern, Schriftstellern und den Künsten.  Auch in Deutschland stehen aufgeklärte Muslime bereit: Seyran Ates, Sabatina James, Imad Karim, Necla Kelek, Ahmad Mansour mit seinem Projekt „Heroes“, Hamed Abdel Samad, Ali Ertan Toprak, Zafer Senocak, dessen Artikel „Von der Trauer der aufgeklärten Muslime“ man mit Bewegung liest. Und viele, viele mehr, die in der Bevölkerung großen Anklang finden. Wo auch sonst sollten sie Unterstützung finden, wenn nicht in Europa!

Doch mit der hart umkämpften Errungenschaft Aufklärung scheint es hier nicht mehr so weit her zu sein. Professor Bassam Tibi, der sich einst unter Protest der Linken eine „deutsche Leitkultur“ wünschte, sieht – wie er bei „Cicero“ unter der Überschrift „Ich kapituliere“ schreibt – inzwischen keine Chancen mehr für einen europäischen Islam. Die Kanzlerin und in ihrem Schlepptau Regierung und Parlament blicken kühl und ungerührt an den Aufklärern vorbei und verbünden sich lieber mit den stockkonservativen Islamverbänden, die von allen muslimischen Aufklärern heftig kritisiert werden.

Auf einer „Mahnwache“ für die Opfer des Terrors in Paris am Brandenburger Tor sehen wir Aiman Mazyek,  den umtriebigen Vorsitzenden des „Zentralrats der Muslime in Deutschland“, der etwa 3,3 Prozent der Muslime vertritt, eingerahmt von und untergehakt mit Bundeskanzlerin und Bundespräsidenten. Wie wäre es, wenn dort einmal Hamed Abdel Samad stünde (der übrigens von Helmut Schmidt zu sich nach Hause eingeladen wurde). – Wenn wir die Integration den Rückwärtsgewandten überlassen, anstatt sie in die Hände der leidenschaftlichen Kämpfer für Aufklärung und Meinungsfreiheit zu legen, ist es kaum noch  möglich, auf eine Wende zu hoffen.  Inzwischen nimmt die Klerikalisierung des öffentlichen Raums immer mehr zu.

Autorin Ingrid Ansari war Dozentin am Goethe-Institut.

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