Der Mensch ist böse – wie böse ist er?

Gero Jenner sagt, die "heiße Bürgergesellschaft" stehe von Anfang an - und im Grunde sogar prinzipiell - auf einem Kriegsfuß mit der Natur. Zur Diskussion laden wir ein.

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Seit der Entstehung der großen Sozialutopien ist es üblich, den Menschen als von Natur aus gut zu verstehen und alle Übel darauf zurückzuführen, dass er durch falsche Institutionen vom rechten Wege abgebracht worden sei. Man müsse deshalb nur die schlechten Institutionen und Anschauungen ändern, damit seine ursprünglich guten Eigenschaften wieder makellos in Erscheinung träten. Anders gesagt, genügt es, dem Menschen das falsche Gewand vom Leibe zu reißen, dann sei er wieder, was er von Natur aus ursprünglich war.

Der edle Wilde

Jean-Jacques Rousseau hat den edlen Wilden in die Philosophie eingeführt, ihm zufolge kam die Verderbnis erst durch und mit der Zivilisation. Bei dieser philosophischen Schwärmerei blieb es nicht, anschließend forschten die Ethnographen nach mehr oder weniger „primitiven“ Völkern, die friedlicher lebten als die Menschen unserer eigenen Zeit. Man suchte nach den institutionellen Merkmalen, die sie von den modernen Gesellschaften unterscheiden.

Da wurde an erster Stelle der Übergang zur künstlichen Erzeugung der Nahrung durch Ackerbau und Viehzucht gefunden: In der ihnen vorausgehenden Epoche der Jäger und Sammler habe größere Friedfertigkeit geherrscht. Das Ergebnis ist allerdings wenig aussagekräftig, denn in Gesellschaften, die das Land als Nomaden durchzogen und deshalb Nahrung nicht speichern konnten, lohnte es sich nicht, andere Menschen zu unterjochen, man hätte sie ja gleichzeitig unterhalten müssen – unter den Bedingungen der Subsistenz wäre das der denkbar größte Aufwand überhaupt gewesen.

Der edle Wilde hat zweifellos existiert, aber mit einiger Sicherheit trifft man ihm vor allem unter Verhältnissen großer Bedürftigkeit an. Dagegen begegnet man ihm immer seltener, seitdem es den Menschen gelang, Reichtum zu erwerben und anzuhäufen, also nach der neolithischen Revolution. Während die Beute der Jäger und Sammler augenblicklich in der ganzen Gruppe aufgeteilt werden musste – eine Voraussetzung für das gemeinsame Überleben – ließ sich der nun akkumulierte Reichtum von einem Allgemeingut in das Eigentum einzelner überführen. Kaum war es möglich, Nahrung in größerer Menge zu speichern, da lohnte es sich auf einmal, andere Menschen für sich arbeiten zu lassen, sie also im schlimmsten Fall zu versklaven; und es lohnte sich ebenso, sie für den eigenen Schutz als Söldner anzuheuern. Die bloße Tatsache, dass man um des Überlebens willen nicht länger teilen musste, verbunden mit einer rapiden Bevölkerungszunahme, machte es schwieriger, auf die Gleichheit des materiellen Besitzes zu achten. Ausbeutung und menschliche Ungleichheit, Übel, die unter Jägern und Sammler noch weitgehend unbekannt waren, haben sich nach der neolithischen Revolution in den zunehmend wohlhabenden sesshaften Gesellschaften schnell herauszubilden begonnen.

Gut oder böse? Die widerstreitenden Menschenbilder

Die Lehre, wonach der Mensch ursprünglich gut und unverdorben sei, wird von sonst ganz unterschiedlichen Autoritäten in ganz unterschiedlichen Disziplinen vertreten, wie z.B. von Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Sigmund Freud, Lewis Mumford, Erich Fromm bis hin zu Attac. Dagegen hat interessanterweise gerade das Christentum mit der Lehre von der Erbsünde des Menschen dieser Anschauung widersprochen. In der Sicht der Kirchenväter war der Mensch zwar im ersten Augenblick der Schöpfung noch gut, weil ein gütiger Gott ihn nicht anders als gut zu erschaffen vermochte, aber durch eigene Schuld verfiel er der Sünde und war für diese Welt und das irdische Leben daher grundsätzlich nicht mehr zu retten. Was immer man von dieser Lehre halten mag, auf jeden Fall haben wir dadurch zwei grundverschiedene Menschenbilder zur Wahl: den von Natur aus guten und den (seit dem Sündenfall) bösen Menschen.

Der edle Wilde und sein böser Schatten

Welches dieser beiden Menschenbilder die Realität besser beschreibt, vermag nur die Geschichte zu lehren. Ist unser Glaube an den edlen Wilden, der im Laufe seiner sozialen Entwicklung nur aufgrund falscher Anschauungen und Institutionen schließlich zum Wolf für seine Mitmenschen mutiert, auf historische Wahrheit begründet, oder haben wir es mit einem Mythos zu tun? Sollte das erste der Fall sein, dann sind all jene oben genannten Denker im Recht, die nach den institutionellen und ideologischen Stellschrauben suchen, an denen wir nur richtig zu drehen brauchen, um einen grundlegend veränderten, neuen Menschen hervorzubringen, der dann wieder so unverdorben wäre wie seine Ahnen in grauer Vorzeit. Die verschiedensten Stellschrauben werden dabei zur Wahl geboten: die Eigentumsverhältnisse, die politische Ordnung, die Verteilung der Arbeit, das Geldsystem – um nur die wichtigsten zu nennen.

Der edle Wilde zu Pferd: eine Inkarnation des Bösen

Wenn es allerdings wahr sein sollte, dass der Mensch auch dann noch böse wäre, wenn wir dafür keine falschen Anschauungen oder Institutionen verantwortlich machen können, dann hätten wir es mit bloßem Wunschdenken zu tun: einem schönen, aber eben doch unwahren Mythos. Ich neige inzwischen der zweiten Annahme zu. Den Wilden, den wir ganz aus der Nähe studieren können, hat es nämlich auf unserem Globus gegeben, und zwar nahezu ein ganzes Jahrtausend lang – und er war alles andere als edel. Die viehzüchtenden Nomaden Ostasiens standen im schroffen Gegensatz zu den hochentwickelten sesshaften Hochkulturen der alten Welt. Im Vergleich mit dem Ackerbau, der zu einer gewaltigen Zunahme der Bevölkerung führte, brachte das Vieh auf den Steppen Asiens seinen Besitzern keinen oder nur sehr mäßigen Reichtum.

Die Nomaden lebten von der Hand in den Mund, primitiv wie die Wilden, sie hatten sich ja kaum von dem Zustand der Jäger und Sammler entfernt. Doch im schärfsten Gegensatz zu Letzteren, denen es keinerlei Vorteil brachte, ihre Mitmenschen zu berauben oder gar zu versklaven, wurden die Horden Dschingis Khans ebenso wie ihre Nachfolger und Vorgänger von dem ungeheuren Gewinn geblendet, den ihnen genau diese Politik des Raubs und der Versklavung verschaffte. Über tausend Jahre bildeten diese Horden den Terror der alten Welt von China bis nach Europa. Im Vergleich zu den Angehörigen der großen sesshaften Zivilisationen waren diese brandschatzenden Banden wirkliche Naturkinder und echte Wilde – das traf ebenso auch auf manche Indianerstämme des neuen Kontinents zu -, aber das weitgehende Fehlen aller angeblichen Übel der Zivilisation wie Eigentum, Geld, Sklavenwirtschaft, Metallgewinnung etc. hat sie durchaus nicht daran gehindert, mit einer auch für ihre Zeit unüberbotenen Grausamkeit mordend und plündernd durch die Welt zu ziehen. Diese Wilden aus den Steppen Asiens hielten es für ihr gutes, für ihr angeborenes Recht, sich das Hab und Gut militärisch unterlegener Völker anzueignen und diese überhaupt auszurotten, wenn sie sich gegen eine solche Behandlung wehrten. Erst die Erfindung der Feuerwaffen hat dem tausendjährigen Spuk ein Ende gesetzt (Vgl. Ian Morris, Why the West rules – for now).

Wenn die größere Nähe der Nomaden zu einem vorzivilisatorischen Naturzustand sie nicht um einen Deut edler machte, sondern im Gegenteil zu Wölfen in Menschengestalt, dann ist es an der Zeit, gegen jene Theorien skeptisch zu sein, die uns die Korrumpierung des Menschen durch seine Institutionen einreden wollen. Auch wer nicht an die Erbsünde glaubt, wird doch einräumen müssen, dass die Vorstellung, wonach der Mensch erst durch die von ihm geschaffenen zivilisatorischen Errungenschaften böse gemacht worden sei, das Verhalten der mordenden Nomadenhorden nicht zu erklären vermag. Er wird dann aber auch zu dem Schluss gelangen, dass die darauf begründeten Theorien von Jean-Jacques Rousseau bis hin zu Fabian Scheidler ihre Geltung verlieren (Bezeichnenderweise ist in Fabians Scheidler sonst hervorragendem Buch „Die Megamaschine“, einem wahren Kompendium aller nur denkbaren zivilisatorischen Übel, von der tausendjährigen Mordmaschine des „edlen“ Wilden zu Pferd keine Rede.)

Das Problem des Bösen im Menschen – homo homini lupus – stellt sich noch nicht auf dem Niveau von Jägern und Sammlern – soviel ist wahr, aber der Grund dafür hat mit einer besonderen moralischen Höhe dieser vorzeitlichen Menschen nicht das Geringste zu tun. In diesem ursprünglichen Stadium war der Mensch nicht deswegen edel und gut, weil er die richtigen Institutionen und die richtige Weltanschauung besaß, sondern weil ihm seine Lebensumstände schlicht verboten, das Böse zu praktizieren.

Der Ursprung des Bösen: exorbitanter Gewinn verbunden mit Straflosigkeit

Denn in dem Augenblick, wo sich ihm die Gelegenheit dazu bot, ergriff er sie ohne alle moralischen Skrupel. Auf der Stelle verwandelte er sich nicht bloß in einen Dieb, sondern in eine reißende Bestie. Die mordenden Nomaden waren ja nichts anderes als die ursprünglichen Jäger zu Pferde. Ihre Meisterschaft im Töten, die sie bis dahin nur an Tieren ausgeübt hatten, wendeten sie nun bedenkenlos gegen Menschen an, die sesshaften Bauernvölker, die ihnen in dieser Kunst weit unterlegen waren.

Die einfache, wenn auch wenig erfreuliche Lehre aus dieser historischen Evidenz: Der Mensch ist böse, wenn ihm das einerseits zu großem Vorteil gereicht und er andererseits kaum mit Strafe zu rechnen hat. Aus der Verbindung von Schnelligkeit, die ihnen das Pferd verschaffte, und einer höchst effizienten Bewaffnung aus Bogen und Pfeilen haben die Nomaden das Maximum an Macht über andere gewonnen. Nichts anderes traf übrigens auf die Völker Europas zu, als diese seit dem fünfzehnten Jahrhundert ihren eigenen globalen Raubzug begannen. Andere Völker beraubten, versklavten und rotteten sie aus, weil ihnen das große Vorteile verschaffte und sie im Großen und Ganzen dabei keine Strafe zu fürchten hatten, weil die von ihnen benutzten Waffen, Gewehre und Kanonen sie für den Rest der Welt unbesiegbar machten – genauso wie vor ihnen die Nomaden.

Auch in diesem Fall wurde das Böse der Räubereien und Massenabschlachtung wehrloser Völker nicht durch falsche Institutionen und Anschauungen hervorgebracht – im Unterschied zu den Nomaden konnten sich die erobernden Europäer ja sogar einer Religion der Feindesliebe rühmen, die ihnen solches Handeln eigentlich auf das Strengste verbot. Ihr Verhalten speiste sich aus einer anderen Quelle: Es folgte der unwiderstehlichen Verlockung, die in dem bloßen Vorhandensein hoch überlegener Waffen lag und in dem Machtrausch, den ihr Gebrauch den Eroberern verschaffte.

Der informierte Zeitgenosse wird wohl zugeben müssen, dass der Homo sapiens unserer Zeit solchen Verlockungen genauso wenig zu widerstehen vermag. Würde eine der drei führenden Mächte: die USA, Russland oder China, die Atomwaffe ganz allein besitzen, dann hätte der Globus längst eine Weltregierung unter US-amerikanischer, russischer oder chinesischer Flagge. Die USA als Erstbesitzer der Waffe haben diesen Vorteil gegenüber dem „Reich des Bösen“ und anderen „Schurkenstaaten“ nur deswegen nicht ausspielen können, weil ihre Rivalen – erst Russland, dann China – schon bald über die gleichen Todesschwerter verfügten. Seitdem hindert alle drei Mächte einzig und allein das Gleichgewicht des Schreckens daran, ihren geschichtlichen Vorbildern zu folgen. Dass es dennoch Leute wie beispielsweise Jeremy Rifkin gibt, die unsere eigene Epoche als Zeitalter der globalen Empathie verklären, ist eine andere Sache …

Die Zivilisation bringt das Böse nicht hervor, sie vertausendfacht nur die Gelegenheiten

Ich gebe zu, diese Sicht auf den Menschen, welche den äußeren Umständen unserer Existenz eine entscheidende Rolle zubilligt, schmeichelt unserem Selbstgefühl weniger als die Annahme, dass in uns allen im Grunde ein edler Wilder verborgen sei, der leider nur von schädlichen Institutionen oder verfehlten Anschauungen korrumpiert worden ist. Die skeptische Sicht bietet dennoch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Sie verhilft uns zu einer tatsachengerechten Einschätzung der Welt, in der wir wirklich leben. Der Wilde war edel, aber nur weil und auch nur so lange wie ihm gar nichts anderes übrig blieb. Wer Glück bei der Jagd oder beim Sammeln hatte, teilte mit allen anderen – ein Überlebensimperativ. In einer komplexen Gesellschaft, die aus Tausenden, Zehntausenden oder noch mehr Mitgliedern besteht, kam diese einfache Lösung nicht länger in Frage. Da jeder nun davon träumte, ein Maximum des von allen erstrebten Wohlstands für sich zu besitzen, war es ein sozialer Imperativ, dessen Verteilung so zu regeln, dass darüber nicht andauernde Kämpfe entbrannten. Das Böse war nun ganz klar definiert: Es waren Habsucht, Neid und der räuberische Griff nach dem Besitz anderer, die zum Wohle des Ganzen irgendwie beherrscht werden mussten.

Der Ameisenstaat und die Bürgergesellschaft

Das Problem, das sich aus der Frage der Verteilung ergab, ließ, logisch gesehen, nur zwei radikale Lösungen zu – in den Begriffen Max Webers: zwei Idealtypen sozialer Organisation, die dem Menschen einige Sicherheit vor sich selbst, also vor seinen weniger edlen Neigungen, verschaffen. Den ersten Typus, der sich historisch der größten Verbreitung erfreut, möchte ich als Ameisenstaat betiteln, man könnte ihn mit Thomas Hobbes auch Leviathan nennen; den zweiten bezeichne ich als Bürgergesellschaft.

Im Ameisenstaat wird die Verteilung von Gütern und sozialen Funktionen auf primitive und dennoch überaus wirksame Art geregelt, nämlich durch die Geburt. Es sind hierarchisch eingefrorene, statische Gesellschaften, wo mindestens achtzig bis mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung – je nach der Fruchtbarkeit des Bodens, den vorhandenen Nutzpflanzen und der zu ihrer Kultivierung benutzten Technologie – mit der Bestellung des Bodens beschäftigt sind, von dessen Ertrag sie dann bisweilen die Hälfte oder noch mehr zwangsweise an die maximal zwanzig oberen Prozent abführen müssen. Diese maximal zwanzig Prozent der Gesellschaft nehmen so unterschiedliche Funktionen wie die von Handwerkern, Künstlern, Soldaten bis hin zu den obersten Rängen des regierenden Adels und der Priesterschaft wahr. Der Ameisenstaat hat das Böse der individuellen Begehrlichkeiten dadurch unterdrückt und im besten Fall abgeschafft, dass niemand in seinem jeweiligen Stand auf anderes Anspruch erheben darf, als was die Geburt ihm zuteilt. Neid, Habsucht und Wettbewerb werden in einem solchen System schon im Keime erstickt, denn sie zielen auf eine Veränderung der persönlichen Lebensumstände ab, die in der eingefrorenen Gesellschaft grundsätzlich unveränderbar sind.

Die Kastenordnung: der perfekte Ameisenstaat

Neid und Wettbewerb, welche eine Gesellschaft in fortdauernder Gärung halten, hat der indische Ameisenstaat besser einzudämmen verstanden als alle anderen Varianten der kalten Gesellschaft. Das indische Kastensystem hat sich als so widerstandskräftig und so wirkmächtig erwiesen, dass sogar islamische und christliche Gemeinden sich kastenartig differenzierten. Lässt man als Kriterium für den Erfolg einer sozialen Ordnung deren Dauerhaftigkeit gelten, dann bildet die hierarchisch eingefrorene Gesellschaft Indiens mit ihrer mehr als zweitausendjährigen ungebrochenen Geschichte das erfolgreichste Gesellschaftsmodell überhaupt – horribile dictu!

Nein, das ist gar nicht so schrecklich, wie es auf den ersten Blick scheint, denn die hinduistische Kastenordnung hat es besser als alle anderen eingefrorenen Sozialordnungen geschafft, der Erblichkeit der Verteilung den bösen Ruch und giftigen Stachel der Ausbeutung zu nehmen. Dieses Kunststück gelang ihr, indem sie der obersten Kaste, den Brahmanen, nur eine spirituelle, aber nicht zugleich auch die weltliche Macht und den damit gewöhnlich verbundenen Reichtum zuerkannte. Die Brahmanen standen an der Spitze der Gesellschaft, aber im Vergleich zu der in der Hierarchie unter ihnen stehenden Kaste des Kriegeradels besaßen sie nur bescheidene materielle Güter.

Es war diese (bis zur Eroberung Indiens durch die Engländer) fortdauernde Trennung von materieller und spiritueller Macht, die dem indischen Kastensystem, der rigidesten Form der Erblichkeit überhaupt, seine Glaubwürdigkeit und Stabilität verschaffte. Hinzu kam, dass das Ideal des Menschen von den Hindus im strikten Gegensatz zu materiellem Reichtum definiert worden war. Der Erlöste war von allen materiellen Bindungen frei – einschließlich der Bindung an seine Kaste und deren erbliche Verpflichtungen. Das indische System hielt somit ein Ventil des Ausbruchs bereit: Es war möglich, und zwar jedem möglich, auch dem Mann aus der niedersten Kaste, der Welt ganz zu entsagen. Der Kastenbrahmane und der kastenlose Heilige, der Sannyasin, standen dann auf der gleichen spirituellen Höhe, nämlich an der Spitze einer Gesellschaft, die sich nicht – auf jeden Fall nicht in erster Linie – durch den materiellen Reichtum, sondern durch Spiritualität definierte. Das Böse der materiellen Begehrlichkeit: Neid, Habsucht, Ehrgeiz und Wettbewerb wurden dadurch in einem Maße entschärft wie nirgendwo sonst.

Erbliche Zuteilung: die eine von zwei Strategien, das Böse einzudämmen

Außer in ganz kleinen Gartenkulturen haben die großen klassischen Zivilisationen (wie Ägypten, Indien, China, die Staaten Europas und des Neuen Kontinents) nirgendwo auch nur den Versuch unternommen, das Prinzip der erblichen Zuteilung grundsätzlich in Frage zu stellen, also Verdienst und eigene Leistung darüber entscheiden zu lassen, wer König wird und wer Bauer. Nur Revolutionen konnten (wie etwa in China) zum Sturz eines Kaisers führen und umgekehrt einen Bauern zum Kaiser machen.

Warum die erbliche Ordnung überall als gottgegeben betrachtet und vor der industriellen Revolution nie radikal angetastet, geschweige denn beseitigt wurde (auch nicht in der Athener Demokratie, die auf einem breiten Sockel der Sklaverei aufsaß), ist wiederum nicht in irgendwelchen institutionellen oder ideologischen Besonderheiten begründet, sondern schlicht darin, dass in den Großstaaten die Aufhebung der Erblichkeit einen organisatorischen Aufwand bedeutet hätte, der den damaligen, immer noch recht bescheidenen Wohlstand schlicht zunichte gemacht haben würde. Man hätte ja Ausbildungsstätten und ein universelles Prüfungssystem für die unteren achtzig Prozent einführen müssen, welche sie überhaupt erst befähigt hätten, die Berufe der oberen zwanzig Prozent auszuführen. In China hat es Schulen gegeben, in die ein reicher Bauer seinen Sohn schicken konnte. Bestand er dann sämtliche Prüfungen, dann war er als Literat (Mandarin) für die höchsten Stellen im Staat qualifiziert, nämlich für die Verwaltung in den Provinzen. Doch die Zahl derer, die diese Schulen durchliefen, machte einen verschwindend geringen Bruchteil der Gesamtbevölkerung aus. Sie änderte nichts an der Praxis der Erblichkeit von neunundneunzig Prozent aller Posten.

Die Bürgergesellschaft: Das Böse zähmen, indem man ihm eine sozial unschädliche Entfaltung bietet

Erst die Bürgergesellschaft findet eine radikal andere Antwort auf das Problem der Verteilung und damit auch auf das Böse in Gestalt von Habsucht und Neid. Während die Kastenordnung die Verteilung materieller Güter durch alle Generationen ein für alle Mal festlegt, wird sie in der Bürgergesellschaft mit jeder Generation neu geregelt. Was in der eingefrorenen Gesellschaft noch das schlechthin Böse war: Neid, Habsucht und Wettbewerb – das darf der einzelne jetzt frei ausleben, er soll es sogar, jedenfalls bis zu einem gewissen Grade, weil es diesem neuen Gesellschaftstypus zum ersten Mal gelang, diese sonst so gefährlichen Eigenschaften so zu kanalisieren, dass sie der Gesellschaft bei richtiger Lenkung nicht schaden, sondern ihr im Gegenteil den größten Nutzen verschaffen (Eine Einsicht, die Adam Smith bekanntlich mit aller Entschiedenheit formulierte).

Die eigentliche Erfindung der Bürgergesellschaft besteht in der Verbesserung der individuellen Lebensumstände durch Arbeit und Leistung, welche damit die Stelle von Erbrechten durch die Geburt einnehmen. Arbeit und Leistung hat es zwar schon immer gegeben, aber nicht als Instrumente, um die Verteilung zu regeln. Arbeit diente den Kasten Indiens wie allen anderen erblich definierten sozialen Organisationen zwar als unterscheidendes Merkmal. Die einen waren Priester, die anderen Bauern, die einen Händler oder Soldaten, die anderen Könige, aber für die unteren Schichten waren die jeweiligen Tätigkeiten nichts Besseres als ein notwendiges Übel, vor dem sich vor allem die Bauernschaft mit allen möglichen Finten drückte, denn zum Dank für mehr Arbeit hatte sie nur noch mehr Steuern zu zahlen. Arbeit zum Zweck der Akkumulation machte in der Kastengesellschaft gar keinen Sinn, da man mit noch so viel Arbeit und noch soviel Reichtum dem eigenen Stand nicht entkommen konnte.

„Heiße“ Gesellschaften der permanenten Revolution

Erst in der Bürgergesellschaft wird der einzelne Herr über sein Schicksal: Durch eigene Leistung kann und darf er nicht nur die Verteilung zu seinen Gunsten ändern, sondern auch noch den eigenen Stand, den eigenen Rang. Individuelle Leistung ist das Prinzip, das die eingefrorene, statische Gesellschaft – den hierarchisch gegliederten Ameisenstaat – aus seiner Starre befreite und ihn schließlich ganz zersprengte, weil sich aus diesem Übergang eine ständige Neu- und Umverteilung, soziale Gärung und Dynamik ergab, der Wechsel zur „heißen Gesellschaft“, wo jede Generation dazu aufgerufen und auch in der Lage ist, durch eigenes Wissen und Können die Welt neu zu gestalten. Wurden die kalten, eingefrorenen Gesellschaften von Traditionen beherrscht, das heißt vom Gestern, so gibt es für die heiße Gesellschaft nur die Zukunft, der sie bedenkenlos alles Überkommene, alles Vergangene opfert.

Die vollkommene Bürgergesellschaft bleibt ein unerfüllbarer Traum

Menschliche Ungleichheit bleibt in beiden einander so radikal entgegensetzten sozialen System erhalten, aber während sie im Ameisenstaat zu strikt getrennten Klassen, Ständen und Kasten versteinert, wobei für eine Mehrheit von mehr als neunzig Prozent keine Chance besteht, der geburtsmäßig bedingten Rolle jemals zu entkommen, gelten die Unterschiede in der Bürgergesellschaft im Idealfall nur innerhalb eines Menschenlebens, also innerhalb einer Generation – und diese Unterschiede werden im Idealfall auch von allen Bürgern als gerecht bewertet, da sie auf individuellem Wissen, Können und Einsatz beruhen. Unabhängig von der Stellung seiner Eltern und Verwandten wird jedem Menschen die Chance geboten, aufgrund eigener Leistung zum Nobelpreisträger, Filmschauspieler, Bundeskanzler oder Chefarzt zu werden. So lautet zumindest die Theorie.

In der Praxis hat die Bürgergesellschaft, vergleicht man sie mit dem Ameisenstaat, zwar einen vorher undenkbaren Grad an Gleichberechtigung verwirklicht, eine echte Gleichheit der Chancen wurde jedoch niemals erreicht und scheint aus naheliegenden Gründen auch unerreichbar zu sein. Zwar kann man, wie in allen Staaten Europas nahezu seit zweihundert Jahren der Fall, ein verpflichtendes Bildungssystem für alle einrichten, aber um eine vollkommene Gleichheit der Chancen zu erzielen, müsste der Staat dem Rezept Spartas und Platons folgen, indem er die ganze nachwachsende Generation möglichst gleich nach der Geburt in öffentliche Erziehungsanstalten steckt; erst dann würden sämtliche Kinder im gleichen Milieu aufwachsen und nicht die einen im Umfeld der Unterschicht, die anderen unter begünstigten Lebensumständen. Da eine solche Gesellschaft ein Alptraum wäre, die mehr zerstört als sie Nutzen bringt, wird es die vollkommene Gleichheit der Chancen wohl niemals geben – ebenso wenig wie die perfekte Bürgergesellschaft, die eine solche Gleichheit zur Voraussetzung hat.

Hat die Bürgergesellschaft das Böse eliminiert?

In der Urwelt der Jäger und Sammler hatten Neid, Habsucht und Wettbewerb – der Wunsch, die eigenen Mitmenschen zu übertrumpfen – keinen Platz: Sie hätten das Überleben der Gruppe in Frage gestellt; in den hierarchischen Ameisenstaaten machten sie keinen Sinn, weil sie die Kasten- und Klassenschranken ohnehin nicht zu überwinden erlaubten; in der Bürgergesellschaft aber wurde ein sensationeller Schritt vollzogen: Sie erklärten das Böse als gut, sofern es sich zum Nutzen des Ganzen einsetzen ließ. Der einzelne durfte jetzt dem Neid und der Habsucht frönen, er sollte in den Wettbewerb eintreten, sofern das nicht nur seine eigene Lage verbesserte, sondern darüber hinaus der Gesellschaft als Ganzer die Chance bot, reicher, erneuerungsbereiter, mächtiger zu werden.

Das Kalkül ist aufgegangen. Keine Gesellschaft der Vergangenheit ist – außer durch Raubzüge wie die der Nomaden – in kurzer Zeit jemals so reich und so mächtig geworden wie die modernen Staaten nach der französischen Revolution. Dieser einzigartige welthistorische Erfolg wurde allerdings mit gewaltigen Opfern errungen – auch in den neuen heißen Gesellschaften wurde das Böse keinesfalls eliminiert. Denn Habsucht, Neid und Wettbewerb konnten weiterhin auch für persönliche Zwecke eingesetzt werden, die das Ganze nicht fördern, sondern im Gegenteil von innen zersetzen. Der Grund, warum das Wort Wettbewerb heute fast nur noch negative Assoziationen beschwört – obwohl der Reichtum der modernen Gesellschaft ohne dieses Grundprinzip der heißen Gesellschaft gar nicht zu denken wäre – liegt genau hier: Der Wettbewerb wird in zunehmendem Maße nur noch mit persönlichem Egoismus und persönlicher Gier gleichgesetzt. Das Böse wird von einzelnen, wenn es ihnen einen Vorteil verschafft und sie keine Strafe zu fürchten haben, in der neuen Bürgergesellschaft ohne Skrupel betrieben.

Und noch in anderer Form hat sich das Böse in die Bürgergesellschaft eingeschlichen. Wettbewerb zwischen Menschen bedeutet zwangsläufig Vergleich, Vereinheitlichung, Messbarkeit, andernfalls würde der Maßstab zu seiner Bewertung fehlen. Die Produktion von Gütern lässt sich messen und vergleichen, ebenso die Arbeit, worauf diese Produktion beruht. Aufgrund des für sie grundlegenden Wettbewerbsprinzip wird die Bürgergesellschaft daher zwangsläufig in einen Materialismus getrieben, der alles, was sich dem Vergleich und der mechanischen Messbarkeit entzieht, als weniger real betrachtet und ihm deswegen auch weniger Wert verleiht.

Das macht die modernen Bürgerstaaten so uniform. Die eingefrorenen Gesellschaften – das alte Indien, Japan und selbst das stärker vereinheitlichte China – sind Zaubergärten gewesen, wo die kaleidoskopische Vielfalt der Kasten, Klassen, Stände und ihrer Lebensformen für eine Buntheit sorgten, die uns nahezu restlos abhanden kam. Die Bürgergesellschaft lässt Vielfalt nur dort aufkommen, wo sie die Vergleichbarkeit nicht außer Kraft setzt: in den von ihr massenhaft Jahr für Jahr auf den Markt geworfenen materiellen Produkten. Im Geistigen, in den Gefühlswelten, in der Gestaltung der Städte, der Landschaft und ganzer Weltregionen, geht sie mitleidslos gegen alle noch bestehende Vielfalt vor, die sie entweder durch Aushungern absterben lässt oder im Falle des Widerstands auch gnadenlos niederwalzt.

Die größten Verwüstungen aber hat die Bürgergesellschaft mit der zu ihren Zwecken gelenkten Entfesselung von Habsucht und Wettbewerb gegenüber der Natur angerichtet. Das konnte kaum anders sein, ihr Geheimnis besteht ja darin, diese zerstörerischen Kräfte vom Mitmenschen abzulenken und sie stattdessen auf die Natur zu richten. In der eingefrorenen Gesellschaft, die sich im Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen weitgehend auf die Nutzung eines festen Kontingents erneuerbarer Ressourcen beschränkte, lief die Bereicherung des einzelnen Menschen oder einzelner Gruppen zwangsläufig darauf hinaus, dass einem anderen Menschen oder anderen Gruppen etwas genommen wurde – ein Nullsummenspiel, das der Ameisenstaat deshalb verpönte. In der heißen Gesellschaft wurde diese Schranke zum ersten Mal überwunden: Man konnte seine Mitmenschen überflügeln, ohne dass man ihnen dabei etwas nehmen musste, denn etwas Drittes: die Natur, wurde jetzt zum Objekt der Ausbeutung gemacht. Im Idealfall wurde der Reichtum der einen nicht mit der Armut der anderen (oder anderer Nationen erkauft – wie gesagt, im Idealfall!), sondern mit einer nun schnell ins Grenzenlose auswuchernden Ausnutzung aller nur irgendwie nutzbaren natürlichen Ressourcen.

So stand die heiße Bürgergesellschaft von Anfang an – und im Grunde sogar prinzipiell – auf einem Kriegsfuß mit der Natur. Die alten Hochkulturen hätten mit ihrem Modell der nachhaltigen Nutzung erneuerbarer Ressourcen noch weitere Tausende von Jahren im Frieden mit der Natur leben können. Wir dagegen sehen spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts das drohende Menetekel: So wie bisher geht es nicht weiter. Wir können das Böse, die rücksichtslose Ausbeutung der Natur bis zu ihrem Kollaps, weiter betreiben, da uns dieses Vorgehen ja immer noch immense Vorteile verschafft, aber straflos können wir das nicht länger tun – das haben heute viele Menschen bereits begriffen.

Wie soll es dann aber weitergehen, wenn wir nicht in den Ameisenstaat zurückfallen wollen?

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