Bei Anne Will: Tafel-Gründerin fürchtet, Gesellschaft könne zerreißen

Sabine Werth ist ein Gast, der öfters in Talkshows zu sehen sein sollte. Die Tafel-Gründerin schildert bei Anne Will aus der Praxis und warnt sachlich und eindrucksvoll davor, dass die Gesellschaft auseinanderdriften könnte.

Screenprint: ARD/Anne Will

An Theken gibt es bevorzugte Themen. Am früheren Abend sind das Wetter und Fußball. Ist mehr Bier geflossen, dann erzählen sich die Zecher gerne gegenseitig, wie viele Sexualkontakte sie in ihrem Leben so hatten. Darüber redet in Talkshows niemand. Glücklicherweise. Noch niemand. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat mit seiner Waschlappen-Erzählung die Intimitätsgrenzen im öffentlichen Diskurs schon mal bedenklich verschoben.

Statt über ihre Sexualkontakte reden in Talkshows die Poltiker derzeit über ihre Gespräche mit Bäckern. Nimmt man sie beim Wort, dann ist „Sich mit dem Bäcker unterhalten“ momentan ein fester Punkt in ihrer Tagesordnung. Nun soll man niemandem Lügen unterstellen. Nicht mal den Zechern, die im realen Leben vermutlich deutlich weniger Sexualkontakte hatten, als sie an der Theke so schildern.

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Also sollte man auch dem Fraktionsvorsitzenden der FDP im Bundestag, Christian Dürr, glauben, wenn er sagt: „Wie ich aus meinen Gesprächen mit Bäckern erfahren habe …“ Es klingt ja auch viel besser als: „Wie ich in der Zeitung gelesen habe …“ Oder: „Wie jeder weiß …“ Oder: „Das Ding da mit den Bäckern …“

Es ist auch gar nicht nötig, Christian Dürr Lügen zu unterstellen, um ihn als unglaubwürdig zu erkennen. Es reicht, den FDP-Mann reden zu lassen. Wenn er heute die Ampel lobt, weil sie den Gaspreis mit Steuergeldern – bis zu 200 Milliarden Euro – deckeln will. Und Anne Will einen Archivbeitrag einspielt. Da sagt Dürr noch: „Der Staat, die Gemeinschaft der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen, der kann diese Energiepreise nicht einfach schultern, das würde die staatliche Gemeinschaft in Deutschland überfordern.“

Ein FDP-Funktionär, der einknickt. Eine seltsam vertraute Erzählung dieser Tage. Doch Dürrs Rechtfertigung ist pures Comedy-Gold. Als er im Bundestag gesagt habe, dass die Energiepreise nicht durch Steuern gedeckelt werden könnten, sei das etwas ganz anderes gewesen. Die CDU habe damals einen Vorschlag gemacht, der auf Schulden basiert habe. Die Ampel spanne jetzt einen „Schutzschirm“ auf.

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Wo denn der Unterschied zwischen Schulden machen und Schulden basiertem Schutzschirm sei, will Anne Will wissen. Ob es nicht einfach daran liege, dass jetzt Wahlen in Dürrs Heimatland Niedersachsen anstünden? Nein, es sei ein Schutzschirm und vielleicht würden ja nicht die vollen 200 Milliarden Euro abgerufen. Wenn der Staat Schulden aufnimmt und diese Schulden „Schutzschirm“ nennt, dann sind das also keine Schulden? Für so dumm hält ein FDP-Funktionär die Zuschauer tatsächlich.

Die Diskussion bei Anne Will krankt aus zwei Gründen. Die Parteivertreter nutzen die Sendung zum Schaulaufen. Vor allem aber steht noch gar nicht fest, wie die 200 Milliarden Euro verteilt werden. Und ob sie überhaupt voll ausgezahlt werden. In diesem Punkt ist Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zwischen Donnerstag und Sonntag auch schon teilweise wieder zurückgerudert.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe mit der „Gaspreisbremse“ nur eine Überschrift geliefert, ein Ziel formuliert, sagt Andreas Jung. Er ist energiepolitischer Sprecher der Union im Bundestag. Scholz sei mit seiner Initiative recht spät gekommen, jetzt da die Heizperiode bereits angefangen hat. Und der Kanzler sei auch noch Antworten auf die Frage schuldig, wie denn die „Gaspreisbremse“ konkret umgesetzt werde.

WummsWummsWumms
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Das wird gar nicht so einfach, sagt Sabine Werth. Die Gründerin der Berliner Tafel, 1993 der ersten in Deutschland. Sie erklärt das am Beispiel Wohngeld. 1,4 Haushalte sollen mehr Wohngeld erhalten. Das sei schön. Aber ob sich jemand klar sei, was das bedeute, wenn 1,4 Millionen Anträge gestellt, bearbeitet, genehmigt und ausgezahlt würden? Selbst SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert räumt ein, dass von einem Instrument wie der „Gaspreisbremse“ auch Menschen profitieren würden, die das gar nicht nötig hätten: Wolle man das Geld nur Bedürftigen auszahlen, müsste man eine Behörde schaffen, die Millionen von Stromrechnungen prüfe. Das wäre „super gerecht, aber dann haben wir 2027 und alle Leute sind in der Privatinsolvenz“.

Politisch ist spannend, dass Dürr (FDP) und Kühnert (SPD) sich einig sind, dass jetzt wirklich alles ans Netz müsse, was Strom produziere. Auch über 2023 hinaus. Es wird also deutlich, dass es der grüne Koalitionspartner allein ist, der das ausbremst. Vor allem bei der Atomkraft. In der Frage, wie aus der Überschrift „200 Milliarden Euro für die Gaspreisbremse“ ein konkretes Verfahren wird, kommt die Runde aber keinen Schritt weiter.

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Ein ganzes Leben lang die Maske tragen
Ansonsten ist es deutlich interessanter, Sabine Werth zuzuhören. Sie schildert aus dem Alltag der Tafeln: dass seit Corona eine andere Klientel komme. Dass unter den Bittstellern jetzt auch Unternehmer und Solo-Selbstständige seien, die in Konkurs gegangen sind. Damals hatte auch Scholz, seinerzeit als Finanzminister, Wumms-Überschriften geliefert. Versprechen abgegeben, der Staat werde jedem in Not Gekommenen helfen. Nur scheint das Geld längst nicht bei allen Bedürftigen angekommen zu sein, so wie Werth schildert.

Anne Will fragt, wie sich die Mischung aus steigenden Preisen und zweifelhaften Versprechen an der Basis auswirkt. Ob die Wucht dieser Ereignisse die Gesellschaft auseinanderreiße. Es ist ein für Talkshows selten spannender Moment. Werth lässt sich Zeit, antwortet betont behutsam: „Es scheint der Fall zu sein.“ Sie macht das an dem Beispiel Ukraine-Krieg fest. Die Solidarität gegenüber den Flüchtlingen nehme zum Beispiel bei den Empfängern der Tafel ab.

Das ist nicht schön. Aber es ist ehrlich. Es wäre wünschenswert, wenn in Talkshows mehr Frauen und Männer aus der Praxis säßen, so wie Sabine Werth. Politiker wie Christian Dürr, die Zuschauern unterjubeln wollen, dass Schulden ja keine Schulden seien, wenn man sie „Schutzschirm“ nennt … – solche Politiker braucht kein Mensch. Am Sonntagabend.

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Kommentare ( 59 )

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59 Comments
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Jens Frisch
1 Jahr her

Es ist ja nicht nur der „Schutzschirm“ von 200 mrd. Euro. Das kommt das „Sondervermögen“ für die Bundeswehr nochmal oben drauf.
Nicht zu vergessen: Als Herr Rohwedder die Treuhananstalt übernahm, bezifferte er „den ganzen Salat“ auf 600 mrd. DM. Noch heute zahlen wir für den „Erblastentilgungsfond“ der damals mit 250 mrd. DM zu Buche schlug.
Es ist so, wie Roland Baader schrieb:
„Noch erfolgreicher als der Marsch durch die Institutionen war der Marsch durch die Definitionen.“

Waldorf
1 Jahr her

Nicht nur am Sonntagabend… Solche Quacksalber und Hütchenspieler, bzw Wortvergewaltiger braucht niemand, von Montag bis Montag, nie! Und das meint nicht nur wenig hilfreiche Pöstchenjäger, sondern auch und ganz besonders die ganze, zeitgeistige Vulgärlinke, die sich heute Grüne, Klimaaktivist, Indentitätslinke oder Minderheitenflüsterer nennen. Niemand vergewaltigt Worte, Begriffe und die allgemeine Logik mehr, als die Lieblinge der Medien, die zu 90% zeitgeistig links ticken. Man kann heute Frau, schwul, jüdisch etc sein und von „den Korrekten“ 100x straflos Nazi, Rechst etc betitelt werden. Was waren und sind nicht alles Krisen… Was ist nicht alles angeblich „phob“, „anti“, „istisch“, selbst wenn es… Mehr

W aus der Diaspora
1 Jahr her

Zur Tafel:
Sie wurde ursprünglich gegründet um Lebensmittel zu retten, damit diese nicht weggeworfen werden.
Das erlaubte H-4-Beziehern, sich auch mal Zigaretten und/oder sonst was extras zu kaufen.
Inzwischen stehen sich Bürgergeldbezieher, mit zwei Kindern, vielfach besser als Arbeitende der unteren Mittelschicht und profitieren zusätzlich noch von den Tafeln. Das können die, die so dumm sind und arbeiten gehen nicht.
Ja, das zerreist die Gesellschaft. Vor allem, wenn immer mehr arbeitslos werden, weil Produktion gestoppt oder gleich ins Ausland verschoben wird.

Medienfluechtling
1 Jahr her

Die Politik redet nur noch davon wieviel Geld zur Verfügung gestellt werden soll. Auf die eigentlichen Probleme wird nicht eingegangen und werden nicht gelöst. Sollen anscheinend auch nicht mehr gelöst werden, wenn sie nicht Klima-, Gender- und Migrantengerecht sind.

powerage
1 Jahr her

Der Autor hat leider vergessen, dass die Tafel-Gründerin ganz systemkonform natürlich nicht vergessen hat, vor den bösen Rechten zu warnen, die die vielen Zugewanderten, die in Konkurrenz zu den armen Deutschen um die weniger werdenden Nahrungsmittel konkurrieren, zu instrumentalisieren. Der Chef der Essener Tafelhat das vor ein paar Jahren thematisiert und wurde sofort in die Rechte Ecke gestellt. Wenn zukünftig auch die Mittelschicht auf die Tafel angewiesen sein wird, dann sollte klar sein, welch explosives Konfliktpotiental da noch lauert. Wir haben leider keine Politiker wie z.B. Salvini, der vor ein paar Jahren gesagt hat, dass er sich zuerst um die… Mehr

Klaus D
1 Jahr her

Tafel-Gründerin fürchtet, Gesellschaft könne zerreißen Das denke ich nicht denn dafür ist der anteil armer in deutschland viel zu niedrig. Man muss hier auch nicht auf die armen bzw die unterschicht schauen sondern auf die mittelschicht. Eine gesellschaft wird IMMER von der MITTE getragen also der mittelschicht und so lange es der gut geht zerreißt eine gesellschaft nicht. Und wir können ja auch jetzt beobachten wie die ampel die mittelschicht bedient während die unterschicht kaum was bekommt. Wenn die unterschicht nicht über 30% kommt also viele aus der mittelschicht nach unten rutschen wird hier gar nix passieren. Die unterschicht also… Mehr

Der-Michel
1 Jahr her
Antworten an  Klaus D

Diese Meinung teile ich nicht. Es gibt in unserer Gesellschaft Gruppen, die mittlerweile in einer Stärke im Land sind, die die Stärke der Sicherheitsbehörden deutlich übersteigt und mit unseren „Almosen“ sicherlich nicht langfristig zufrieden sind. Wenn es immer länger dauert bis diese Gruppen in eigene Wohnungen ziehen können, wenn diese Gruppen bei den Tafeln Konkurenz bekommen….

Astrid
1 Jahr her

Es ist eine Schande für Deutschland und das schon seit Jahren, dass es eine Tafel überhaupt geben muss. Was hat das mit Menschenwürde zu tun? Der links-grün-versiffte Regierungskindergarten schwingt sich auf die ganze Welt zu retten und lässt große Teile der Gesellschaft zurück, die ohne die Lebensmittelausgabe nicht mehr über die Runden kommen. Pfui Teufel! Besteht der Sozialstaat nur noch für die Leute, die darin einwandern? Allein die Minirenten mit denen ein Großteil unserer Bevölkerung abgespeist wird, ist unterirdisch und asozial. Das Problem liegt aber wie immer darin, dass alle weggeschaut haben, statt für den sozialen Zusammenhalt auf die Straße… Mehr

Der nachdenkliche Paul
1 Jahr her

Sorry, aber ich kann mir so eine Talkshow mit der Beteiligung von drei Politik „Profis, die alle nur ihre eigene Partei in den Vordergrund schieben möchten, einfach nicht mehr ansehen. Es ist einfach nur noch entsetzlich. Kurz zum Thema Gasumlage die plötzlich niemand mehr wollte. Das Geld wird den Bürgern trotzdem erst mal vom Konto abgebucht, angeblich nicht mehr zu stoppen gewesen. Die Rückbuchung auf das Konto der Bürger wird sich bestimmt schwieriger gestalten, darauf wette ich. Die Bürger werden nach Strich und Faden an der Nase herumgeführt und die Masse lässt das alles mit sich machen. Das ist die… Mehr

Kuno.2
1 Jahr her

Die leichte innere Krise könnte durchaus gelöst werden wenn die Regierung von ihrem hohen Podest des Belehrenden runter kommen würde.
Die Kritiker sind ohnehin noch deutlich in der Minderzahl, die Regierung ahnt aber dass sich das ändern könnte und greift dankbar die Stichworte der Journalisten auf.

Deutscher
1 Jahr her

„Tafel-Gründerin fürchtet, Gesellschaft könne zerreißen“

Oh – ich dachte, sie sei schon….