Hubertus Knabe: „Mit Entnazifizierung hatte das wenig zu tun“

Hubertus Knabe, profilierter Historiker zur Geschichte des Kommunismus, war acht Jahre leitender Wissenschaftler der Stasi-Unterlagenbehörde und Gründungsdirektor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die er achtzehn Jahre leitete. Im Stasi-Unterlagen-Archiv traf er sich mit Maximilian Tichy zum Interview.

Tichys Einblick: Herr Knabe, Sie haben ein neues Buch veröffentlicht im Langen Müller Verlag: „Tag der Befreiung?“, mit dem wichtigen Hinweis eines Fragezeichens versehen. Und Ihre These ist, dass Ostdeutschland 1945 nicht befreit wurde, sondern nahtlos in eine andere Diktatur übergegangen ist. Wie konnte das funktionieren?

Hubertus Knabe: Ja, ich habe mich immer gewundert, wie man dazu kommen konnte, die Installierung einer neuen Diktatur als Befreiung zu kennzeichnen. Das hat die DDR zur Genüge getan. Dort war der 8. Mai ein Feiertag. Die meisten Leute empfanden das eigentlich als Zynismus pur: eine Diktatur, in der ich nicht sagen kann, was ich will, als Befreiung zu bezeichnen und die, die diese Diktatur gebracht haben, auch noch als Befreier zu feiern. Das ist das eigentliche Thema dieses Buches, wie die Zerschlagung des Nationalsozialismus nahtlos überging in die Installierung einer neuen Diktatur.

Und viele wissen eben nicht, dass das mit Entnazifizierung wenig zu tun hatte, sondern dass dieselben Methoden in Polen, der Tschechoslowakei, in der Ukraine, im Baltikum und anderswo angewandt worden sind, zur Gleichschaltung dieser Gesellschaften: Massenverhaftungen, Lager, Hinrichtungen und so weiter.

Tichys Einblick: … in großem Maßstab. Sie schreiben schon in der Einleitung von 10.000 Erschießungen, Ermordungen, 2 Millionen Vergewaltigungen, Plünderungen, hunderttausende Millionen von Deportationen; ganze Bevölkerungen wurden von Osten nach Westen vertrieben. Ist da ein entscheidender Unterschied in der Systematik zum Unrechtsregime des Dritten Reiches oder ist das Grauen in der Tat gleich?

Hubertus Knabe: Also alle Diktaturen sind irgendwo anders. Es gibt keine identische Kopie einer Diktatur. Im ehesten vielleicht noch im Ostblock. Aber selbst da gab es Unterschiede, wenn man an Ungarn denkt, Gulasch-Kommunismus und dann Ceauşescu, dieser üblen Diktatur da. Aber was, glaube ich, Stalin und Hitler sehr miteinander verbunden hat und was auch dazu geführt hat, dass Stalin Hitler im Grunde bewunderte, war diese Gnadenlosigkeit und dass man über ganze Völker einfach entscheidet und sagt, die müssen weg hier und die müssen vernichtet oder deportiert werden. Deportieren ist eigentlich schlauer, wenn man so will, weil man sie dann noch als Arbeitssklaven benutzen kann. Töten, da sind sie eben weg. Und diese Ähnlichkeit im Umgang mit Menschen, dieser Zynismus: der ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen.

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Bei Stalin ist es vielleicht noch so gewesen, dass diese Ideologie mehr verfangen hat, trotz des Terrors, dass es eben Leute gab, die begeistert waren davon, das Himmelreich auf Erden zu errichten – vermeintlich. Während das, glaube ich, bei Hitler doch irgendwie für jeden denkenden Menschen auf der Hand liegt, dass das keine besonders anziehende Ideologie war, dieser deutsche Herrenstolz. Jeder der in seiner Bekanntschaft einen nicht-deutschen Freund hat, weiß, dass das eigentlich Quatsch ist.

Tichys Einblick: Sie beschreiben auch, wie die Sowjetübergangsregierungen von Anfang an darauf hingearbeitet haben, sowjetische Diktaturen in Ostdeutschland und in Osteuropa zu errichten. Wie genau ist man da vorgegangen? Wie war der Prozess? Oder gab es gar keinen Prozess und man hat es einfach gemacht?

Hubertus Knabe: Also es gab eine Step-by-Step-Entwicklung, die man übrigens schon in Spanien ausprobiert hatte während des Bürgerkrieges. Da hat Stalin ja die Republikaner unterstützt und praktisch eine Stalinisierung Spaniens eingeleitet. Und das war dann bei den sogenannten Volksdemokratien eben auch der Fall. Die Kommunisten haben die Schlüsselstellungen in den Sicherheitsapparaten besetzt. Die bürgerlichen Politiker dienten als Staffage, wurden noch eine gewisse Zeit geduldet und dann entweder eingesperrt oder zur Flucht gezwungen oder gleichgeschaltet, weil sie sich dann angepasst haben, und das Ganze begleitet von unglaublichen Massenverhaftungen.

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1946 saßen 150.000 Leute im Lager, ein Drittel davon ist dort verhungert – also ein Terror, der eben doch auch in den Alltag, in die Orte hineinwirkte. In jeder ostdeutschen Stadt gab es mindestens einen sogenannten GPU-Keller [Gossudarstwennoje Polititscheskoje Uprawlenije – Staatliche Politische Verwaltung – Anm. d. Red.], das heißt, eine alte Villa oder eine Polizeistation, in der unten, im Keller, die Leute verhört und gefoltert wurden. Diese Wucht des Terrors hat natürlich maßgeblich dazu beigetragen, diese Diktatur dann auch durchzusetzen. Mir steht immer vor Augen, wie zum Beispiel der CDU-Abgeordnete Franz Schleusener im Brandenburgischen Landtag im Gefängnis in Potsdam zu Tode geschlagen wurde.

Tichys Einblick: Wir stehen vor den Akten, die hier ausgestellt werden im Stasi-Archiv. Welche Warnung an die Zukunft geben sie uns?

 Hubertus Knabe: Das soll jetzt nicht platt klingen, aber die Demokratie ist wirklich fragil und höchst gefährdet und ist aber außerordentlich wertvoll, weil jeder, der so leben will, wie er das möchte, ist darauf angewiesen, dass man ihn auch so leben lässt. Von daher ist das doch, finde ich, sehr wichtig aus der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen und das bezieht sich auch auf Russland. Da ist nämlich ein interessanter Unterschied zwischen Deutschland und Russland. Deutschland hat seine Verbrechen in großem Maße aufgearbeitet, über Jahrzehnte hinweg, auch die seiner Wehrmacht …

Tichys Einblick: … auch sehr schmerzhaft …

Hubertus Knabe: … Ja, ich weiß. Der sogenannte Traditionserlass der Bundeswehr, wie lange da diskutiert wurde, ob man sich wirklich so strikt von der Wehrmacht loslösen soll. In Russland hat das nie stattgefunden.

In Russland wird immer noch die rote Armee verherrlicht. Das sind entweder Helden oder manche auch Opfer, aber nie Täter. Und dann kann man natürlich auch nicht daraus lernen und sagen, das und das geht nicht. Man kann nicht ein 13-jähriges Mädchen in Ostpreußen vergewaltigen. Egal was die Machthaber, die über ihr stehen, vorher verbrochen haben. Das geht einfach nicht. Und dieser Aufarbeitungsprozess ist eben in Russland nicht nur nie zustande gekommen, sondern wird gerade massiv zurückgefahren.

Mein Freund Roman Romanow vom Gulag-Museum in Moskau ist im Januar entlassen worden. Das Museum ist zu, daran kann man schon vieles sehen.

 Tichys Einblick: Herr Knabe, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Dieses Gespräch wurde ursprünglich als Video aufgezeichnet. TE dankt dem Stasi-Unterlagen-Archiv ausdrücklich für die kurzfristige Genehmigung der Dreharbeiten und empfiehlt allen Lesern einen Besuch der Dauerausstellungen – wo es zwar viel Bedrückendes aber auch viel Spannendes und Lehrreiches zu sehen gibt.

Hubertus Knabe, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland. LMV, Klappenbroschur, 390 Seiten, 25,00 €.


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Kommentare ( 8 )

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Aegnor
1 Monat her

„Während bei Hitler doch irgendwie für jeden denkenden Menschen auf der Hand liegt, dass das keine besonders anziehende Ideologie war, dieser deutsche Herrenstolz.“ Ich denke das war sogar im Gegenteil eine besonders anziehende Ideologie. Wer hat es nicht gern, wenn man ihm attestiert, qua Geburt ein überlegenes Wesen zu sein? Und gerade die Deutschen, deren Nationalstolz in Versailles von Franzosen, Briten und gerade auch den Polen so perfide gedemütigt wurden, waren dafür mit Sicherheit sehr empfänglich. Dazu kam ja noch die wirtschaftliche Komponente, sprich Gier, denn man konnte sich am Hab und Gut der Entrechteten wunderbar bereichern. Letzteres war ja… Mehr

Michael Dornberger
1 Monat her

Persönlicher Hass , Ärger und Niedertracht tröpfelt aus BRD “ Historikern “ wie diesem Hubertus Knabe nicht mehr nur heraus , sondern es beginnt alles , was seit langem in seinem schlammig , stinkenden Seelenkeller lagert , ungebremst hochzusprudeln . Nun leben solche Typen ihren blinden Hass gegen Russen, Trump und u.a. uns Bürger der Deutschen Demokratischen Republik ungebremst verbal offen aus. Was für ein ekelhaft übler revanchistischer Menschenschlag . Was ist das nur ? Was stimmt mit denen nicht ? Lasst Euch bloß mal behandeln oder gleich einweisen !

Laurenz
1 Monat her

Herr Tichy, also ich weiß nicht, was sagt denn Ihr Herr Vater zu diesem Interview? Am 08.05. erschien bereits ein ausführlicher Artikel von Herrn Knabe auf der Achse des Guten, „Kein Tag der Befreiung“. Ich (& viele andere) hatte den Artikel ausführlich verrissen & es ging auch durch. Auf der Achse kommentiere ich unter meinem Klarnamen, hatte sich so ergeben. Knabe ist 66 Jahre alt. Also entweder entscheidet man sich in diesem Alter, die Wahrheit zu schreiben, ein plausibles Bild abzugeben, oder man läßt es, nutzlose Bücher zu schreiben. Als ob im Westen nach dem Kriege weniger Deutsche verreckt wären.… Mehr

Peter Pascht
1 Monat her

Der Titel ist falsch !!! Es muss heißen:
„Das brutale Vorgehen der Roten Armee in Deutschland und Osteuropa, gegen Polen, Ukrainer, Rumänen,Ungarn“
Selbst Juden sind davor geflohen. Allein 20.000 nur aus der Nordbukowina.
Quelle: sh. „Biografie Paul Celan“ – deutscher Lyriker einer deutschen Mutter und eines jüdischen Vaters, geflohen 1943 aus seiner Heimat für immer, vor der anrückenden Sowjetarmee, deren brutaler Ruf ihnen vorauseilte.
Der unter den Soldaten zirkulierende Ruf war:
„Napriot sa Gibraltara“ – Vorwärts bis Gibraltar – Aussage meines Vaters.
Nur der Vormarsch nach Osten der Westalliierten hat sie daran gehindert.

Last edited 1 Monat her by Peter Pascht
Peter Pascht
1 Monat her

Befreiung ? Damit sie die Dimension der Lüge verstehen, erzähle ich euch mal etwas aus der Geschichte jener Zeit, was ihnen die deutsche „kulturelle Hegmonie“ verschweigt. Ich stimme der Veröffentlichung zu. Meine Mutter war im Alter von 17 Jahren (also 12 bei Kriegsbeginn) zusammen mit 140.000 Personen (nur ein Kontingent) nach dem Krieg 1945 deportierte in ein russisches Arbeit-KZ, 6 Jahre lang, abgeholt nachts von Polizei und Militär. Weil sie zum „ethnischen Volk der Deutschen Täter“ gehörte. Deportiert wurden alle die bei 3 nicht auf den Bäumen waren, auch Jugendliche, Mütter von kleinen Kindern und alte Menschen, um die Planzahl… Mehr

Logiker
1 Monat her

Ich liebe es, wenn Blinde über die Farbe reden. Man stelle sich vor, ein Journalist und ein Historiker, beide geboren und sozialisiert in der DDR, sitzen 35 Jahre nach der Wende öffentlich über die alte BRD zu Gericht. Ich denke, Herr Knabe hätte auch heute immer noch genug zu tun, über die gescheiterte Entnazifizierung im Westen zu forschen und zu sinnieren. Es gibt einige charakteristische Eigenschaften, die nur den sogenannten „Wessis“ zu eigen sind – bis heute: a) vorauseilender Gehorsam b) Unfehlbar- und Unbelehrbarkeit c) mit dem Finger immer auf andere zeigen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die beiden Protagonisten des… Mehr

Last edited 1 Monat her by Logiker
Peter Pascht
1 Monat her
Antworten an  Logiker

Noch einer welcher das DDR Paradies mit seiner Menschenverdummung nicht vergessen kann.
Es gibt Dumme verdummte Menschen, abgesehen von Ausnahmen.
Sie gehören offensichtlich nicht zu den Ausnahmen.

Last edited 1 Monat her by Peter Pascht
Logiker
1 Monat her
Antworten an  Peter Pascht

Ich habe keine inhaltliche Wertung vorgenommen – falls Ihnen das aufgefallen ist. Es geht einzig und allein um das Muster der (west-)deutschen Selbstermächtigung, sich anzumaßen über andere richten zu müssen und mit dem Finger auf diese zu zeigen. Noch dazu, wo man im konkreten Falle in mehrerlei Hinsicht selbst mehr als genug Dreck am Stecken hat. So gesehen, haben Sie wie immer bei dieser Problematik nichts verstanden, so wie viele ihrer landsmannschaftlichen Brüder und Schwestern. Nichts für ungut – aber kein Grund sich über die krisen in Deutschland aufzuregen. Mit dieser Denke tragen Sie aktiv dazu bei. In diesem Sinne… Mehr