Wie der Totalitarismus den Menschen verschlingt

Der Mensch an sich, in den verschiedensten Situationen, ist Grossmans Thema. Alltag und extreme Herausforderung. Menschliche und unmenschliche Menschen auf beiden Seiten, Sowjetbürger und Deutsche, beidseits Juden im wahrsten Sinne des Wortes zermalmt, weil beidseits diskriminiert und liquidiert. Von Michael Wolffsohn

Ein Jahrhundertroman ist Wassili Grossmans (1905–1964) „Leben und Schicksal“. Es ist ein Epos, eine breitest ausgelegte, höchst verzweigte Geschichte. Den roten Faden verliert der sowjetisch-jüdische Autor dabei nie. Einzelne Geschichten über die handelnden, denkenden und oft ganz und gar unterschiedlich fühlenden Menschen dieser Großerzählung sind inhaltlich verklammert. Geschrieben in den 1950ern, abgeschlossen 1959, auch in der poststalinistischen Sowjetunion verboten, mithilfe von Dissidenten wie Andrej Sacharow in den Westen geschmuggelt und 1980 erstmals posthum veröffentlicht.

Brennpunkt des Geschehens ist Stalingrad zur Jahreswende 1942/43. Die kriegsentscheidende Schlacht also. Ausgang bekannt, oft literarisch erzählt und fachlich, medial oder wissenschaftlich dokumentiert. Und doch ist Grossmans Werk einzigartig, denn er beschreibt Leben und Schicksale der Menschen, Soldaten und Zivilisten nicht nur in und um Stalingrad, sondern sowohl im Verbrechensreich Hitlers als auch Stalins. Stets auf beide Seiten blickend, die sowjetische und die deutsche. Sowie die dritte, die jüdische. Nie schwarz oder weiß, sondern immer mit Zwischentönen.

Der Mensch an sich, in den verschiedensten Situationen, ist Grossmans Thema. Alltag und extreme Herausforderung. Menschliche und unmenschliche Menschen auf beiden Seiten, Sowjetbürger und Deutsche, beidseits Juden im wahrsten Sinne des Wortes zermalmt, weil beidseits diskriminiert und liquidiert. Von der deutschen Seite sechsmillionenfach. Ebenfalls beidseits starke und schwache Charaktere, bei Männern und Frauen, Jung und Alt, Juden ebenso wie Nichtjuden. Atemberaubend. Ganz anders als sonst, wo sich meist nur Gute und nur Böse gegenüberstehen.

Tichys Lieblingsbuch der Woche
An der Schwelle zum Totalitarismus
Atemberaubend ist nicht nur der fiktional erweiterte historische Faktenstoff, sondern die Schilderung der Tragédie humaine. Wahrlich keine Comédie humaine. Der Einzelne in seiner familiären, gesellschaftlichen und vor allem politischen Umwelt. In der Fachliteratur nannte man im Kalten Krieg lange fast unangefochten die politische Umwelt des Hitlerismus und Stalinismus „Totalitarismus“, also den Menschen in seinem gesamten Alltag von der Wiege bis zur Bahre manipulierend, kontrollierend und, wenn er opponierte, meist liquidierend. Unmenschliche Terrorstaaten, nach innen und außen. Schon während des Kalten Krieges wurde „Totalitarismus“ besonders im zunehmend linken und linksliberalen Milieu als zu kaltkriegerisch abgelehnt. Rot sei eben doch anders als braun, eben menschlicher, zumindest im Kern. Wer „Leben und Schicksal“ liest, wird keine Probleme mit dem Totalitarismusbegriff haben.

Vieles hat Grossman als Sowjetbürger und sowjetischer Journalist selbst erlebt, das stalinistisch-sowjetische Zivil- und Militärleben sowie als persönlich, familiär und jüdisch-kollektiv stets von Stalins und Hitlers Schergen bedroht – oder getötet, ermordet. Nicht Grossman selbst, aber Familienmitglieder, Mitbürger und Mitjuden. Literarische Schockikone schlechthin ist die Schilderung der Vergasung in einer NS-Vernichtungshölle: Der Raum, die Menschen, das Entsetzen der Opfer, ihre eigentlich unbeschreibliche und von Grossman meisterhaft schockierend beschriebene Sterbens- und Todesangst. Und die andere Seite: die der Mörder, wo nicht alle Mörder waren oder sein wollten, doch viele es wurden.

Natürlich begegnen die Leser Hauptpersonen, ja einer Hauptperson. Diese trägt auffallend häufig Züge des Autors. Wie andere wirklich gute Autoren kann Grossman an Einzelschicksalen das Allgemeine unvergesslich aufzeigen, ohne dass dabei die jeweilige Individualität verloren ginge.

Die Handlung sei hier nicht wiedergegeben, sondern eingeordnet. Historisch, ideologisch und – fachfremd wildernd – literarisch. Man lese dieses Buch. Vergessen wird es niemand. Wer Angst vor diesem „dicken Wälzer“ hat, schaue sich als Einstieg den nach Grossman-Motiven 1967 von Alexander Askoldow gedrehten Film „Die Kommissarin“ an. Dessen Gegenstand ist neben der kommunistischen, aber eben auch nicht schwarz-weiß gezeichneten Kommissarin das menschliche Leid im Russischen Bürgerkrieg von 1917 bis 1920.

Der Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn veröffentlichte 2022 „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ und 2023 „Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen“.

Wassili Grossman, Leben und Schicksal. Roman. Ullstein Verlag, Taschenbuchausgabe, 1088 Seiten, 21,99 €.


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Kommentare ( 2 )

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Peter Pascht
9 Monate her

Auch nachzulesen schon 1947 in einem Artikel von Prof. Dr. Roman Smal Stocky, Prof. für moderne Literatur an der Marquett Uni. aus Polen stammend, einst in nationalsozialistischen Lagern in Gefangenschaft, in „Die Prometheus Bewegung“. Darin rechnet er mit dem stalinistischen Totalitarimus ab, mit dessen Begründer Stalin. Mit dessen Unterstützung für den Naziterrorismus, die erst diesen geboren hat. Von 1939-1941 unterstützte Stalin das Naziregim mit über 1.000.000 Lastwagons von grundlegenden Warenlieferungen. Der Erschaffer des Totalitarismus war Zar Iwan der Schreckliche, fortgesetzt von Lenin und Stalin. Stalin und sein Totalitarismus waren die wahre Ursache des 2WK, sagt er. Er sagt dass Hitler… Mehr

Moses
9 Monate her

Er war der Erste, der laut gesagt, dass damalige Regime in D. und UdSSR ziemlich identisch bis tief verwandt gewesen waren. Nicht wenige Menschen wie in Deutschland als auch im Russland haben bis heute diese Tatsache nicht klar verstanden.