Merkel & Erdogan: Allen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann

In der politischen Öffentlichkeit hat die Kanzlerin sich nicht vor die Presse- und Kunstfreiheit gestellt. In den Augen der türkischen Pro-Erdogan-Gemeinde hat sie dem Sultan nachgegeben.

Screenshot: Phoenix

Ein Anblick des Jammers, deutlich in ihre Gesichtszüge geschrieben: doppelte Kapitulation. In der politischen Öffentlichkeit hat die Kanzlerin ihre Entschuldigung zurückgezogen, sich nicht vor die Presse- und Kunstfreiheit gestellt. In den Augen der türkischen Pro-Erdogan-Gemeinde hat sie dem Sultan nachgegeben. Die Verzierungen in ihrer Erklärung ändern nichts an dieser Doppelbotschaft. Politik hat meist mehr mit Symbolen als mit Paragraphen zu tun. Das Symbol der Unterwerfung ist verheerend. Der Sultan hat sich durchgesetzt. Der türkische Macho siegt; nicht nur auf dem Pausenhof, auch in der großen Politik. Frau Merkel hat sich zwischen alle Stühle gesetzt.

Das hätte Angela Merkel gleich tun können: die Justiz ihres Amtes walten lassen. Der Paragraph zur Majestätsbeleidigung hatte schon seinem Verursacher Wilhelm II das Gegenteil des Beabsichtigten eingebracht: Spott und Hohn. Im Rechtsstaat hat ein Sonderstrafrecht für Majestäten und Präsidenten nichts zu suchen.

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Zur Staatsaffäre hat die Kanzlerin die Provokation des Satirikers aus eigenem Verschulden gemacht. Dass mit Erdogans Ansinnen nach Recht und Gesetz verfahren wird, hätte ein Sprecher eines Ministeriums mitteilen können: ob der einschlägige Paragraph die Strafverfolgung erzwingt auch.

Frau Merkel hätte tun können, was sie meistens tut: schweigen. Jeder kann sich selbst ausmalen, dass sie sich entschuldigte, um bloß den Türkei-Deal nicht zu gefährden. Wenn die Vereinbarung EU-Türkei an solchen Dingen hängt, ist sie nichts wert. Hat Erdogan tatsächlich mit 100.000 zusätzlichen Flüchtlingen gedroht, die er uns schickt? Man will es nicht glauben. Hat er wohl nicht. Manche Regelungen haben ihre eigene Mechanik der Selbsterfüllung.

Zu den Grundregeln des legendären chinesischen Strategen Sūnzǐ zählt: Begib dich nie in ein Gelände, das du nicht  jederzeit und ohne Verluste wieder verlassen kannst. Clausewitz hat Sūnzǐ studiert, das Kanzleramt wohl nicht.

Bei den Anhängern ihrer Position in der Migrationsfrage außerhalb des Unionslagers verliert die CDU-Vorsitzende mit der heutigen Entscheidung die nächsten Kohorten, nachdem diese Absetzbewegung seit dem Dichtmachen der Grenzen in Mazedonien und dem Türkei-Deal schon begonnen hatte.

Allen wohl und niemand wehe ist keine politische Grundlage, die trägt.

Das einzige konstruktive Ergebnis der überflüssigen Wochenerregung wird die Abschaffung des Paragraphen der Majestätsbeleidigung sein. Was für ein Aufwand.

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