Kleingesellschaften in verschiedenen Dimensionen und Qualitäten.
Die Antwort auf die Flüchtlingskrise ist die Frage nach uns selbst. Viele machen sich in diesen Tagen ein Bild von Deutschland und den Deutschen; Deutsche und Ausländer, Biodeutsche und Neudeutsche mit Migrations-Hinter- oder –Vorder-Grund (absurd!), Einheimische und Zugewanderte, Normale und Radikale. Auch seine Interpretation ist vieldeutig.
Neue deutsche Gelassenheit titelte Juliane Schäuble. Deutschland sei sich seiner sicher, dass es nicht mehr um seine Identität fürchte und gelassen gegenüber neuen Mitbürgern aus anderen Kulturkreisen sein könne. In ihrem Kommentar als Frage, hier infrage gestellt. Die Synonyme von „Gelassenheit“ spannen weit, von stoischer Ruhe über besonnener Beherrschung bis zu Gleichmut. Sie drücken aber viel klarer die mehrheitliche Stimmung im Land aus, wenn es sich um die Aufnahme der Flüchtlinge handelt. Ihr Grundkonsens ist eine anständige Gesinnung, gespeist aus Mitmenschlichkeit. An seinen aufgewühlten Rändern machen sich breit die Willkommenseuphorie der Sozial- und Unterstützungsindustrie und der Hass des „Lumpenpacks“ (Heinrich Heine!), „…das, um die Herzen zu rühren/ den Patriotismus trägt zur Schau/ mit allen seinen Geschwüren“ dichtet weiter Heine in seinem Wintermärchen.
Wenn es dann aber ans Hausgemachte gehen wird, um die langwierige, komplexe und komplizierte Integration dieser Menschen, reicht keine Gelassenheit. Dann muss verantwortungsvoll von allen betroffenen Seiten geschafft werden, was schon bisher für größere Gruppen nur unvollkommen vollbracht wurde: die Eingliederung in das deutsche Gemeinwesen durch niveauvollen Sprach- und Bildungserwerb, durch qualifizierte Arbeitsplätze und – was oft vergessen wird, aber den Alltag dominiert – durch die sozial-kulturelle Hinführung in die Leitkultur der hiesigen Zivilgesellschaft. Die neuen Zahlen über den mangelhaften Sprachstand der Drittklässler und des Nichtankommens in der dualen Ausbildung nach der Schule besonders von Heranwachsenden aus dem muslimisch geprägten Kulturmilieu unterstreichen dies eindringlich.
Wie es letztlich mit der neuen deutschen Identität aussehen wird, steht noch in den Sternen, jedenfalls nicht im öffentlich bekannten Fokus der Innen- und Zuwanderungspolitik. Bei Heine nennt sich das innere Einheit – die ideelle Einheit im Denken und Sinnen -, die zu seinen Zeiten der Zensur zum Opfer fiel.
Stark und gut, so zeichnete ein Leitartikler in einer großen Berliner Zeitung Deutschlands Bild. Stark und gut, wer möchte das nicht sein. Gut sein ist menschlich und schafft ein wohliges Gefühl, nebenbei: schon das gute Aussehen macht Freude. Wer dann noch stark ist, der hat gleichsam einen Panzer gegen die schlechte Umwelt. Aber Starke können auch ratlos, naiv, blauäugig sein. Selbst Siegfried hatte eine schwache Stelle. Ein Attribut fehlt nämlich; es steckt in einem Bilderbuch ohne Text für Kinder ab zwei Jahren. Es ist die Geschichte von einem starken Auto und seinem guten Fahrer, nennen wir ihn Tim.
Sie geht so: „Stolz fährt Tim bei strahlendem Sonnenschein mit seinem Auto ins Grüne. Unterwegs wedelt ein herrenloser Hund mit dem Schwanz und Tim nimmt ihn mit. Am nächsten Gewässer stoppt er, weil er einen zahmen Storch, vielleicht flügellahm, einlädt. Bald ist sein Auto voll und fährt nur noch mühsam auf platten Reifen. Denn auch der Bär, der sich vor dem Regen fürchtet, und die Schweinemama mit ihren süßen, aber müden Kindern steigen ein. Das Fahrzeug ächzt unter der Last und wird immer langsamer. Plötzlich steht ein entlaufener Elefant auf der Straße. Als Tim dessen große, runde Kulleraugen sieht, denkt er nicht mehr an sein Auto und seine Insassen. Der Elefant steigt auf und das Auto zerbricht. Alle Mitfahrer rennen weg, der Storch fliegt pfeilschnell in die Weite. Tim steht ganz klein, allein und verdattert und ratlos zwischen den Resten seines zerborstenen Autos.“ (frei erzählt nach „Nimm mich mit“ von Thomas Schleusing)
„Das schöne Auto“, rief nach dem Erzählen mein kleiner Enkel. Er versteht schon, wie hilfsbereit und gut Tim ist. Aber er ist noch nicht alt genug, um zu sagen, dass es auch dumm ist, wenn man sein Auto überlastet. Und noch später wird er erkennen, dass man seine Freunde sorgfältig auswählen muss. Denn dazu muss man klug sein, das dritte Attribut. Deutschland hat Bilderbuchlandschaften, aber es ist kein Bilderbuch für Kleinkinder.
Eine andere Sicht hat die Schriftstellerin Sabine Bergk in ihrem Beitrag zu dem Band „100 Briefe an Deutschland“ aus der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung. Sie sieht das Land in einem zerrütteten Zustand und wendet sich deshalb an den „lieben Heinrich“, denn Deutschland sei im Grunde geblieben wie zu Heines Zeiten: „Ein zerrissenes Land, das sich zwar nach außen, wenn es um wirtschaftliche Vorteile geht, freundlich präsentiert, innen jedoch bis unter den Deckelrand kocht.“ Sein Grundgefühl sei einerseits die Angst vor Verlusten, andererseits stehe das Mitleid hoch im Kurs. Im täglichen Umgang sei es kälter geworden, denn selbst unter Flaschensammlern wachse die Konkurrenz.
Das Bild ist stimmig: Im 19. Jahrhundert war Deutschland lange Zeit politisch zerrüttet und gesellschaftlich zerrissen, heute geht es um den Erhalt der staatlichen Ordnung und um die Sorgen und Ängste vieler Bürger, welcherlei Gestalt Staat und Gesellschaft annehmen werden. Auch ihre genauere Beschreibung bleibt nebulös und rar, eine aktuelle prominente Äußerung dazu stammt von Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur des ZDF: In einer Talk-Show gefragt nach den zukünftigen gesellschaftlichen Veränderungen, sprach er davon, dass es keine Mehrheitsgesellschaft – insbesondere in den Städten – mehr geben werde. Es werden alles Minderheiten sein; beispielhaft die, die schon lange hier leben, so genannte Biodeutsche, die, die schon länger hier und die erst seit kurzem da sind.
Wenn man diese Vorstellung aufnimmt, fallen einem schnell noch ein Dutzend konkreter Minderheiten ein: besser Kleingesellschaften in verschiedenen Dimensionen und Qualitäten, die nur in Teilen parallel – eher diametral – zur Gesamtgesellschaft, ihrem Alltag und/oder ihren Verbindlichkeiten leben. Ihre Aufzählung folgt dem Zufallsgenerator. Arabische Großfamilien mit neuem Zulauf und altem Antisemitismus; mit zwei Pässen und Herzen ausgestattete Bürger; alte und neue Flüchtlinge aus verschiedenen Ursachen mit Bleiberecht, Geduldete, Abzuschiebende, Wiedereingereiste; Hartzer und ihr Nachwuchs, mit hohem Migrantenanteil; ausländische Jugendliche im Wartezustand auf ihre nachziehenden Familien; vagabundierende Illegale in Obdach und Arbeit; sich zeitweilig im Land aufhaltende Banden; islamistische bodenständige und eingesickerte Terrorzellen; formierte Rechts- und Linksextremisten verschiedener Nationalität; so genannte „Reichsbürger“, DDR-Nostalgiker … Unbenannt hier noch die weiter auseinander driftende sozial-materielle Struktur der Bewohner. Daneben die Migranten, für die Assimilation ein Verbrechen ist und die sich nicht von den Traditionen, der Kultur und der Religion ihres Herkunftslandes trennen wollen und können. Daneben die natürlich schwindende Mehrheit der Einheimischen, die seit vielen Generationen hier lebt und die gut integrierten Zuwandererfamilien, für die die Werte der deutschen und europäischen Aufklärung und Kultur und ihrer daraus resultierenden Lebens- und Rechtsauffassungen identitätsstiftend sind.
Mehr Kleinteiligkeit, mehr Diversität, mehr Auseinandersetzungen, mehr Multikulturalismus, mehr Verbände, mehr Religionen, mehr Parteien (allein schon wegen der weiteren Wähleraufsplittung und –verschiebung, denn islamisch orientierte Bürger wählen keine christlich benannte Partei), mehr Verwerfungen, Bunte Republik Deutschland … babylonisch. Wo ist der Anker für die Kommunikation, wenn allein die Sprache und ihr immanenter Geist in vielen Teilen der Bevölkerung nur fragmentarisch beherrscht werden? Veränderungen sind Lebenselixier und Bedrohung zugleich. In jeder stecken Fragen, die beantwortet werden müssen, um Perspektiven aufzubauen.
Mein Deutschlandbild: Deutschland ist weder im Winter- noch im Sommermärchen; der Herbst raunt, irgendwann naht ein Frühling.
Oder im Reim: Denk ich an Deutschlands nette Frau Merkel/bin ich tief besorgt um Kind und Enkel.
Dr. Klaus D. Paatzsch hat als Lehrer für Deutsch und Geschichte und häufig als Klassenlehrer Jahrzehnte Erfahrungen mit migrantischen Schülern des 7.-10. Jahrgangs in Berlin-Moabit gemacht, zuletzt waren nur noch 2 nicht-migrantische Schüler in seiner Klasse.
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