Großer Bruder Twitter

Die Zensur eines New-York-Post-Artikels über Biden durch die Plattform ist nur ein Detail. Was käme heraus, wenn die großen Tech-Konzerne mit der politischen Macht verschmelzen? Ein Totalitarismus, den wir noch nicht kennen.

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Nach ihrer Auflage steht die New York Post auf Platz vier der großen Zeitungen in den USA. Ihre Veröffentlichungen über die vermeintliche oder tatsächliche Verquickung von Amtsgeschäften Joe Bidens als Vizepräsident und der Tätigkeit seines Sohns Hunter Biden als Berater der ukrainischen Erdgasfirma Burisma hätte also in jedem Fall Aufmerksamkeit gefunden. Stattdessen spielt die Enthüllung einer E-Mail – die laut NY Post aus einem Datenbestand von Hunter Bidens Laptop stammen soll – inzwischen fast eine Nebenrolle.

Der 14. Oktober 2020, als der Autor der NYP-Geschichte Sohrab Ahmari und Tausende andere feststellten, dass sie den Link zum Artikel über Bidens mutmaßliche Geschäfte nicht per Twitter veröffentlichen konnten, markiert möglicherweise einen historischen Wendepunkt. Ein Unternehmen, das nach eigener Definition nur Plattform für den Informationsaustausch sein will, entschied, dass ein bestimmter Medieninhalt, der dem Präsidentschaftsbewerber Joe Biden schaden und dem Amtsinhaber Donald Trump nutzen könnte, über seine Kanäle nicht mehr verbreitet werden durfte.

Damit verwandelt sich der Kurznachrichtendienst in etwas, was er offiziell nicht sein will, nämlich ein Medium, das weniger eigene Inhalte beisteuert, sondern bestimmte Meinungen und Informationen aussortiert. Allerdings eben nicht in ein Medium unter vielen, sondern eins, das faktisch ein Monopol auf dem Gebiet der Kurznachrichtenverbreitung besitzt.

Es entsteht also kein Medienmonopolist, wie wir ihn kennen, sondern ein Hybrid mit außerordentlicher medialer und technologischer Macht. Um das alte Bild von Medien als Gate Keeper, als Torwächter zu gebrauchen: Ein Hybrid dieser neuer Art kontrolliert eben nicht mehr nur ein Tor. Sondern ein ganzes Straßennetz. An einem Tor kann jemand vielleicht noch vorbeischlüpfen.

Die Techniker von Twitter gingen so gründlich vor, dass sie nicht nur die öffentliche Verbreitung des Artikels über Biden über ihren Kanal blockierten. Selbst Twitter-Nutzer, die den Link als Direktnachricht an einen anderen Nutzer verschicken wollten, bekamen eine Fehlermeldung. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa.

Twitter ging damit einen entscheidenden Schritt weiter als Facebook: das Netzwerk kündigte nur an, die Verbreitung der Geschichte über Joe Biden und Sohn einzuschränken.

Der Autor des New York Post-Textes Sohrab Ahmari schrieb, was hier passiere, sei ein „Putsch der großen Tech-Plattformen, ein digitaler Bürgerkrieg („This is a Big Tech information coup. This is digital civil war“).

Bei seiner Biden-Geschichte selbst handelt es sich nicht, wie die NYP schrieb, um den rauchenden Colt, den definitiven Beleg für eine Korruptionsverwicklung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten.

Das Material fällt zweifellos in die Kategorie all the news that’s fit to print. Bei genauerer Betrachtung erweist es sich als relativ dünn. Die Enthüllung besteht neben einigem Beiwerk aus einer Mail, die Wladim Pozharskiy, damals der wichtigste Berater der ukrainischen Erdgasfirma Burisma, am 17. April 2015 an Hunter Biden schickte, der damals in einer Spitzenposition für Burisma arbeitete. Darin bedankt sich Pozharskiy „für die Gelegenheit, deinen Vater zu treffen und einige Zeit miteinander zu verbringen. Es ist wirklich eine Ehre und ein Vergnügen.“ (siehe: hier)

Allerdings geht aus der Mail nicht hervor, ob das Treffen Pozharskiys mit dem Vizepräsidenten tatsächlich stattgefunden hatte. Die Formulierung lässt offen, ob es sich möglicherweise um eine erst geplante Begegnung handelte. Schon gar nichts ergibt sich über den Inhalt eines möglichen Gesprächs.

Sollte der Burisma-Berater auf Vermittlung von Hunter Biden tatsächlich Joe Biden getroffen haben, dann würde das trotzdem die Glaubwürdigkeit des Präsidentschaftskandidaten ramponieren – denn Biden Senior hatte immer versichert, sich von den Geschäften seines Sohnes ferngehalten zu haben. Biden-Sprecher Andrew Bates sagte, aus den offiziellen Aufzeichnungen von Joe Bidens Besuch in der Ukraine 2015 ergebe sich kein solches Treffen; mehrere aktive und ehemalige Regierungsbeamte, die ihn damals begleitet hatten, versicherten, sie wüssten von einer solchen Begegnung nichts („we have reviewed Joe Biden’s official schedules from the time and no meeting, as alleged by the New York Post, ever took place.”). Das beweist freilich noch nicht, dass es sie nicht gegeben hatte. Der Biden-Sprecher ließ auch die Möglichkeit offen, dass beide aufeinandergetroffen sein könnten, allerdings dann nur flüchtig („cursory“).

Die Mail und anderes Material stammt nach Angaben der New York Post aus einem Laptop von Hunter Biden, den er wegen eines Wasserschadens zur Reparatur gebracht, aber nie abgeholt haben soll. Von dem Reparaturunternehmen gelangten Rechner und eine externe Festplatte zum FBI, und – vermutlich – von dort durch ein Leak an die Zeitung.

Fotos eines höchstwahrscheinlich Crack rauchenden Hunter Biden, die aus der gleichen Quelle stammen sollen, überraschen niemand in der amerikanischen Öffentlichkeit. Dass Biden Junior ein Drogenproblem hatte, ist bekannt, Joe Biden erwähnte das auch in der TV-Debatte mit Donald Trump.
Es geht also um eine durchgesickerte E-Mail, die einen Verdacht begründet, aber keinen Beweis für Korruption liefert.

Twitter argumentierte wie Facebook, das Unternehmen habe die Verbreitung der Geschichte verhindert beziehungsweise – bei Facebook – gebremst, weil die Quelle unklar sei. Facebook erklärte, „unabhängige Faktenprüfer“ müssten die Angelegenheit erst untersuchen. Allerdings, und darauf weist die New York Post hin, gab es in der vergangen Jahren immer wieder schlecht bis gar nicht belegte Negativgeschichten über Donald Trump. Keine einzige wurde auf Twitter blockiert.

Dazu gehört ein so genanntes „Dossier“ von 35 Seiten über eine angebliche Begegnung Trumps mit einer Prostituierten in Moskau, das ausschließlich aus Behauptungen besteht, und, nachdem etliche andere Medien abgewunken hatten, schließlich 2018 von der Plattform Buzzfeed veröffentlicht wurde, worauf andere die Geschichte dann breit kolportierten. Die Anschuldigung, Trump habe bei einem Besuch in Frankreich die 1944 in der Normandie gefallenen US-Soldaten als „Trottel“ bezeichnet, gehört sogar zu den Wahlkampfhits der Demokraten. Für den Ausspruch gibt es bislang weder namentliche Zeugen noch andere Beweise. Die Ungleichbehandlung der Fälle durch die Tech-Plattformen ist also offensichtlich.

Die Blockade durch Twitter und die Bremse auf Facebook verschafften dem NYP-Artikel deutlich mehr Aufmerksamkeit, als er ohne die Eingriffe gefunden hätte.

Bestsellerautor Nassim Taleb twitterte ironisch, das Blatt gehöre normalerweise nicht zu seiner Lektüre, er habe den Text ausschließlich wegen des Twitter-Blocks gelesen.

Twitter-Chef Jack Dorsey schrieb eine kurze Mitteilung: die Kommunikation des Unternehmens über die Sperre des Biden-Artikels sei „nicht großartig“ gewesen, es sei „unannehmbar“, dass Twitter sie nicht besser erklärt habe.

— jack (@jack) October 14, 2020

Aber, siehe oben: Die Auseinandersetzung über einen wahlkampfrelevanten Artikel verstellt eher den Blick auf das ganze Bild, als dass es ihn schärfen würde.

Der New York Post-Beitrag war selbstverständlich weiter über Google zu finden. Er wurde häufiger gelesen als ohne Gegenmaßnahmen. Was wäre also so einschneidend daran, wenn sich Twitter (und Facebook, möglicherweise als nächstes Google) sich zu Medien mit einer bestimmten politischen Tendenz wandeln würden?

Es wäre kein Problem, wenn es zehn oder besser zwanzig etwa gleichwertige Plattformen wie Twitter, Facebook und Google nebeneinander gäbe. Bekanntlich ist das nicht nur nicht der Fall. Einen Markt der freien Konkurrenz wird es in der Informationstechnologie in absehbarer Zukunft nicht geben.

Wenn sich Twitter und andere Tech-Plattformen in Medien verwandeln, die Nachrichtenlage kuratieren, bestimmte Informationen vergrößern, andere wegfiltern und möglicherweise demnächst die Suche nach bestimmten Dokumenten erschweren, dann werden sie zu Monopolisten der Aufmerksamkeitsökonomie, die alte Medienkonzerne wie Hearst zu seinen besten Zeiten weit hinter sich lassen. Sie können politische Aufmerksamkeit gezielt schaffen, vor allem aber auch unterbinden.

Ihnen gehört nicht nur ein Zentrum wie Hearst, sondern jeweils ein globales Netz, das gleichzeitig als Kommunikationsweg von Millionen Kunden untereinander dient.

Um einen Vergleich zu bemühen, der nicht ganz, aber halbwegs trifft: Was hier als Möglichkeit der großen Plattformen aufscheint, wäre etwa so, als hätten sich im Papierzeitalter drei bis vier Medienkonzerne nicht nur den größten Teil des Marktes unter sich aufgeteilt, sondern auch die Verkaufsstellen für ihre Zeitungen und Magazine, als hätten sie zusätzlich Post und Telefonnetz unter ihre Kontrolle gebracht und damit begonnen, Briefe und Pakete mit einem bestimmten Inhalt nicht mehr zu verschicken und Telefonate zu unterbrechen, sobald bestimmte Schlüsselbegriffe fallen.

In einer Welt, in der Tech-Plattformen wie Twitter, Facebook und Google ihre Möglichkeiten ausspielen, könnten kleine Medien und Plattformen sogar weiter bestehen. Sie blieben ohne Reichweitenverstärkung marginale Erscheinungen, die noch Vielfalt suggerieren, wo längst neue Mächte den Ton angeben.

Was geschieht, wenn Joe Biden die Wahl gewinnt? Die Unternehmensführungen von Twitter und Facebook dürften sich dann kaum auf politisch neutrale Position zurückziehen oder sich sogar Oppositionsunterstützern verwandeln. Dazu dauert der Kulturkrieg zwischen der urbanen Priesterkaste, die sich selbst als „erleuchtet“ sieht, wie die frühere New York Times-Redakteurin Bari Weiss schrieb, und dem basket of deplorables (Hillary Clinton) schon zu lange an. Und er betrifft nicht nur den basket of deplorables, die unerleuchtete Unterschicht, sondern eigentlich alle außerhalb des moralisch selbstermächtigten Zirkels, zu dem auch ein früherer Twitter-Manager zählt, der vor kurzem deutlich machte, wer seiner Meinung nach alles besser an die Wand gestellt werden sollte.

Was also, wenn technologisch-mediale Quasi-Monopole mit einer politischen Agenda und klassische politische Macht demnächst in dasselbe Lager fallen? In der westlichen Welt passierte das bisher noch nie. (Vor vier Jahren sah die Welt noch etwas anders aus, sowohl politisch als auch in der Plattformökonomie). Bisher existiert diese Fusion von IT-Schlagkraft und herkömmlicher Machtkonzentration nur in einem Land: China. Die dortige Führung war luzide genug, um früh zu erkennen, dass die Macht im 21. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich aus den Gewehrmündungen und den Druckmaschinen der Zentralbanken kommt, sondern auch mehr und mehr aus Plattformen der Informationstechnologie. Wer alles zusammen in den Händen hält, der errichtet eine Herrschaft, die kaum jemand ernsthaft erschüttern kann.

Es fällt mit etwas Phantasie nicht schwer, sich diese Dystopie auszumalen. Eine neue US-Administration sorgt dafür, dass große Tech-Unternehmen ihr Plattformprivileg behalten und die Fiktionen aufrechterhalten können, sie seien keine Medien. Auf der anderen Seite lässt sich eine bestimmte, aber nie wirklich definierte Sorte von Botschaften nicht mehr über Twitter und Facebook weiterverbreiten und auch nur noch eingeschränkt per Suchmaschine finden. Die so eingedämmten Medien könnten sogar in formaler Freiheit bestehen bleiben. Sie fänden sich in einer ähnlichen Position wieder wie ein mittelalterlicher Panzerreiter gegenüber einer KI-gesteuerten Drohne. Der Ritter dürfte als folkloristisches Element vorläufig weiterreiten. Schließlich gibt es zur Belustigung des Publikums heute auch Mittelaltermärkte.

Zur Plattformmacht kommt das direkte Engagement von Mäzenen aus diesem Kreis. Jeff Bezos, der 2013 die „Washington Post“ kaufte, könnte Nachahmer finden. Die Bill und Melinda Gates-Stiftung betätigt sich schon jetzt als Unterstützer klassischer Medien.

In dieser Welt würde Thomas Jeffersons berühmter Satz, eingelassen auf dem Fußweg der 41. Straße in New York, nicht mehr so gelten wie früher: „Where the press is free and every man able to read, all is safe.“

Dieser Weg führt, dystopisch verlängert, nicht in einen neuen Sozialismus, wie es manche im US-Wahlkampf und anderswo auf eine griffige Formel bringen, sondern zu etwas Neuem: einen hochtechnisierten Neofeudalismus.

Die Sperren und Löschungen auf Facebook und Twitter, die jetzt schon vorkommen, wirken wie vorübergehende Kontrollpunkte und Straßenblockaden, unterscheiden sich aber gründlich von einer potentiellen Dauerkontrolle, deren Proportionen sich nach dem New York Post-Block auf Twitter ungefähr ahnen lassen.

So muss es nicht kommen. Es könnte aber auch sein, dass das Jahr 2020 in zehn Jahren zur goldenen Ära der Freiheit gerechnet wird, zumindest bei Bürgern mit gutem Gedächtnis.

Als der liberale Jurist Louis Brandeis in den USA ab den 1890er Jahren begann, Monopole zu bekämpfen und eine Anti-Trust-Gesetzgebung auf den Weg zu bringen, tat er das, weil er übergroße Unternehmen lieber institutionell begrenzen wollte, statt darauf zu setzen, dass sie aus besserer Einsicht ihre Macht nicht missbrauchen. Der Begrenzungsmoment für die großen Tech-Konzerne ist vorübergezogen. Wann genau? Irgendwann in den vergangenen zehn Jahren.

Jetzt lässt sich tatsächlich nur noch hoffen, dass es nicht ganz so schlimm kommt.
Angela Merkel hatte in einer Pressekonferenz vor einiger Zeit die Formel verwendet, sie hoffe, Deutschland (und die EU) müssten sich nicht zwischen den USA und China entscheiden. Darin liegt eine tiefere Wahrheit. Plattformen, die eine öffentliche Sphäre durch ihre schiere Größe verformen können wie Riesensterne den Raum, residieren in den USA oder, von Weibo bis Alibaba, in China. In dieser Liga spielt nur ein europäisches Unternehmen, SAP, das weltweit für Unternehmen wichtig ist, aber kaum für die Formierung von Öffentlichkeit.

Was immer demnächst in den USA passiert, geschieht deshalb auch uns Mitteleuropäern.

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