Die ersten Opfer des Gasmangels in der deutschen Industrie

Die bisherige Reduzierung der Gaslieferungen hat Folgen: Erste deutsche Unternehmen geben bereits auf oder drosseln die Produktion. Andere EU-Länder haben schon politisch reagiert.

IMAGO / Frank Ossenbrink
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in der Aluminiumhütte von Trimet in Hamburg, 18.01.2022. Das Werk hat die Produktion stark gedrosselt.

Am heutigen 11.07. beginnen die Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1. Für zehn Tage sollen die Gaslieferungen unterbrochen werden. Doch schon seit Wochen reduziert Russland die vereinbarten Liefermengen. Die Gasflüsse aus Nord Stream 1 liegen derzeit bei etwa 40 Prozent der Maximalleistung. Grund seien Reparaturarbeiten. Unterdessen steigen und steigen die Energiepreise – mithin auch die Gaspreise. Das hat bereits Folgen für die Unternehmen.

Der traditionsreiche Fliesenproduzent Villeroy & Boch schließt sein Stammwerk im saarländischen Mettlach zum Jahresende und will die gesamte Produktion in die Türkei verlagern: „Extrem hohe Kosten für Energie, Transporte, Verpackung und Rohstoffe sowie das hohe Lohnniveau in Deutschland machen die Produktion von Fliesen wirtschaftlich unattraktiv“, teilte V&B Fliesen GmbH mit. Allein die Kosten für Gas seien in der Spitze um 500 Prozent gestiegen, so eine Sprecherin des Unternehmens. Ob Letzteres den Tatsachen entspricht, sei dahingestellt.

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In Nordrhein-Westfalen und Hamburg ist der größte deutsche Aluminiumhersteller betroffen. Das Familienunternehmen Trimet in Essen und Voerde fährt seit Herbst 2021 die Produktion um 50 Prozent herunter, in Hamburg um 75 Prozent. Grund für die Einschränkungen: Trimet könnte ohne die Produktions-Drosselung die Stromkosten nicht mehr begleichen. Denn mit dem Anstieg der Gaspreise sind die Strompreise gestiegen. Sollten demnächst die Gaslieferungen ganz ausbleiben, wäre das der Super-Gau, so Trimet-Chef Philipp Schlüter. Dann müsste der Traditionsbetrieb seine Werke komplett schließen. Bekanntlich ist Gas für die Aluminiumherstellung unverzichtbar. Und im Winter könnte Energie selbst zu Höchstpreisen nicht mehr uneingeschränkt verfügbar sein.

Und auch die DMV Deutsche Metallveredelung GmbH in Lennestadt ist insolvent. Knapp 100 Beschäftigte verlieren ihre Jobs. Der Grund: die gestiegenen Strom- und Gaspreise.

Für den Fall einer kompletten Einstellung der Gaslieferungen aus Russland rechnen Ökonomen mit einer schweren Rezession – mit dem Einbruch zwischen sechs und zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung.

Blieben noch LNG-Lieferungen aus Übersee, also Flüssiggas, das über Terminals in den Niederlanden oder Belgien angeliefert und nach Aufbereitung über das europäische Ferngasleitungsnetz weitergeleitet wird; doch die benötigten Mengen werden nicht ausreichen, zumal es nicht nur hohen Bedarf in Deutschland gibt.

Bisher liegt der Anteil der Gaslieferungen aus Russland – Stand 2021 – bei 52 Prozent. Aus Norwegen kommen 30 Prozent, aus den Niederlanden acht Prozent und Deutschland selbst fördert fünf Prozent, weitere fünf Prozent kommen via LNG.

Die Anteile am Erdgas-Bezug betragen laut einer Statistik des Handelsblatts für die Haushalte 30,8 Prozent, für Gewerbe, Handel und Dienstleistungen 12,8 Prozent, für die Stromversorgung 12,6 Prozent, für Verkehr und Fernwärme 6,9 Prozent und für die Industrie mit dem höchsten Anteil knapp 37 Prozent.

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Und was die Preise angeht: Die Kurve zeigt weiterhin steil nach oben, sowohl für Haushalts- als auch Industriekunden. Sollte Ende Juni tatsächlich kein Erdgas mehr via Nord Stream 1 kommen, wird es wohl noch mal einen deutlichen Aufschlag geben. Matthias Fifka, Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Erlangen-Nürnberg sagte in einem Gespräch bei „Phoenix der Tag“ am 08.07.: Von März 2021 bis März 2022 haben sich die Energiekosten verdoppelt.

Und dann gibt es noch die Gasweiterleitungsverpflichtungen Deutschlands innerhalb der EU. Laut einer Grafik des Handelsblatts lässt es sich wie folgt aufschlüsseln: Derzeit liegt der Füllstand in den Erdgasspeichern bei 63,2 Prozent. Liegen die Lieferungen wie seit etwa Mitte Juni nur noch reduziert bei 40 Prozent und bleibt es ganzjährig dabei, so leitet Deutschland deutlich weniger Gas an die Nachbarländer weiter. Die Bundesnetzagentur schreibt: „Sollten die russischen Gaslieferungen über Nord Stream 1 weiterhin auf diesem niedrigen Niveau verharren, ist ein Speicherstand von 90 Prozent bis November kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar. Von der Reduktion ist die Weitergabe von Gas in andere europäische Länder wie zum Beispiel Frankreich, Österreich und Tschechien betroffen.“

„Was tun andere EU-Staaten, um den steigenden Preisen und Versorgungsrisiken zu begegnen?“ titelt das Handelsblatt. Beispiel Frankreich: In Frankreich ist bereits seit einigen Wochen Realität, was Deutschland noch fürchtet: Die Pipelines, aus denen zuvor Gas aus Russland strömte, sind versiegt. Nach der Drosselung der russischen Lieferungen nach Westeuropa hatte der französische Netzbetreiber GRTGaz Mitte Juni die „Unterbrechung des Gasflusses zwischen Frankreich und Deutschland“ festgestellt. Allerdings ist Frankreich weniger abhängig von Russland. Es importiert nur 17 Prozent seines Erdgas-Bedarfs. Dafür springt Norwegen ein.

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Spanien: Anfang Juni hat die EU-Kommission auch Spanien und Portugal erlaubt, den Gaspreis für die Stromerzeugung ein Jahr lang künstlich zu deckeln. Der Preisdeckel wird im Jahresdurchschnitt bei 48,80 Euro pro Megawattstunde (MWh) liegen, ist aber über die Laufzeit gestaffelt: In den ersten sechs Monaten beträgt er 40 Euro pro MWh und steigt dann jeden Monat um fünf Euro an, bis er im letzten Monat der Deckelung 70 Euro pro MWh erreichen wird. … Rund 20 Prozent der spanischen Stromproduktion basiert auf Erdgas. Die EU-Kommission schätzt die Kosten des Gaspreisdeckels auf 6,3 Milliarden Euro.

Portugal: In Portugal, dessen Energienetze eng mit den spanischen verbunden sind, gilt seit Mitte Juni derselbe Gaspreisdeckel wie im Nachbarland.

Italien: Vor einem Jahr noch deckten die Importe aus Russland gut 35 Prozent des italienischen Gasbedarfs ab. Im ersten Quartal dieses Jahres lag dieser Wert nur noch bei 21 Prozent. Das liegt vor allem an den Importen aus Algerien, die schon vor Beginn des Ukraine-Kriegs stark zugelegt haben. Italien trifft derzeit Notmaßnahmen, um die nächste Wintersaison zu überstehen. Die Gasspeicher sollen schneller befüllt werden als sonst. Derzeit stehen sie im Schnitt bei 55 Prozent, bis November will Italien auf mindestens 90 Prozent kommen.

Und was hat es mit der Gasturbine auf sich, die in Kanada gewartet wird? Kanada liefert nun doch die Gasturbine, obwohl dies womöglich ein Verstoß gegen die Sanktionierung Russlands ist. Die kanadische Regierung unter Justin Trudeau hat Selenskyjs Drängen ignoriert. Die Ukraine hatte versucht, Kanada von dieser Entscheidung abzuhalten. An den hohen Gaspreisen wird der Einsatz der reparierten Gasturbine künftig vermutlich nichts ändern.

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Kommentare ( 87 )

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maria2105
1 Jahr her

„…..doch die benötigten Mengen werden nicht ausreichen, zumal es….“
Die benötigten Mengen würden schon ausreichen, aber die zur Verfügung stehenden nicht! :-)) 

F.Peter
1 Jahr her

„Der traditionsreiche Fliesenproduzent Villeroy & Boch schließt sein Stammwerk im saarländischen Mettlach zum Jahresende und will die gesamte Produktion in die Türkei verlagern“ Auch wenn das hier wiederholt wird – im ursprünglichen Bericht zu dem Thema wurde der Fehler klammheimlich korrigiert – ist es immer noch falsch! V&B schließt weder sein Stammwerk in Mettlach noch verlagert es dieses in die Türkei. Einzig die Fliesenproduktion, die in Merzig angesiedelt ist und schon seit längerer Zeit zu dem türkischen Unternehmen gehört, wird geschlossen und in die Türkei verlagert. Dass auch das Stammwerk demnächst wahrscheinlich nach Frankreich verlagert wird – dorthin hat V&B… Mehr

Iso
1 Jahr her

Sanktionen werden immer von den Ländern bezahlt, die sie erlassen haben.

Gruger1
1 Jahr her
Antworten an  Iso

Vor allem wenn Sie gegen die falschen erlassen werden die am längeren Hebel sitzen. Man kann nicht behaupten das Putin nicht alles probiert hat die letzten 20 Jahre, leider ist man als transatlantischer Vasalle nicht darauf eingegangen. Jetzt wird’s zu ersten mal richtig weh tun. Gut so!

jopa
1 Jahr her

Warum auf die Turbine warten? Neben Nordstream 1 liegt Nordstream 2 betriebsbereit. Wenn man will, kann das Gas weiter fließen, dann muß Putin die Hose runterlassen. Wenn die beste Regierung aller Zeiten dies aus Borniertheit nicht tun, hat sie keinen Grund über den Gasmangel zu jammern, denn anscheinend habne wir genug davon. Und wenn ich schon dabei bin; So dämliche Sprüche wie mit Atomstrom kann man nicht heizen, dann muß ich den IQ der besten Regierung aller Zeiten unter dem von Knäckebrot einordnen. Denn 1. Schon mal was von Elektrospeicherheizungen oder Heizlüftern gehört? 2. Wir verbraten Gas in Gaskraftwerken. Wenn… Mehr

dobbi
1 Jahr her

Selenski arbeitet vl hinter den Kulissen schon für Russland. Deutschland, der Westen, die EU & NATO etc sollen existentiell geschwächt werden. Das passiert grade. Spätestens wenn wir im Winter im Bürgerkrieg versinken, können die Russen durchmaschieren (wenn sie nicht schon längst da sind->open border). Bis dahin hat Selenski die Fahne gewechselt. Sein Militärberater Oleksiy Arestovych hat schon vor Wochen unverblümt von diesem Szenario gesprochen. Und die daraus resultierende Schlagkraft einer solchen russisch-ukrainischen kampferprobten und ( mit westlichen Waffen) hochgerüsteten Armee gelobt. Synergie halt. Business as usual. Übernahme.

johndoe19
1 Jahr her
Antworten an  dobbi

„Selenski arbeitet vl hinter den Kulissen schon für Russland.“ Nicht vielleicht für Russland sondern sicher für die USA, denn die haben ein vitales Interesse an diesem Konflikt. Und das die deutsche und auch andere Teile der europäischen Volkswirtschaften dabei Schaden nehmen, ist kein Zufall. Damit schrumpft nämlich ein großer Konkurrent auf den Weltmärkten. Und wenn es so weiter geht, dann wird Deutschland sein 2%-Ziel für die Militärausgaben locker erreichen, ohne das Budget dauerhaft zu erhöhen. Die Bundesregierung schafft es nämlich, dass BIP dauerhaft zu reduzieren. Als Kollateralschaden nimmt sie die Rückkehr Deutschlands in die Rolle des „Kranken Mannes in Europa“ gerne in… Mehr

Mausi
1 Jahr her

„Trimet könnte ohne die Produktions-Drosselung die Stromkosten nicht mehr begleichen.“

Verstehe ich nicht. Sinken damit die Stromkosten je Produktionseinheit?

Mir weiterhin unverständlich: Drosselung von Gaslieferungen nach F etc. Welche Pipelines führen direkt in diese Länder? Ohne Gaslieferverträge innerhalb der EU?

Last edited 1 Jahr her by Mausi
ahgee
1 Jahr her
Antworten an  Mausi

Zu Trimet: die Fa. bekommt aus dem EEG Entschädigungen für nicht bezogenen Strom. Damit wird der Preis der verbliebenen Produktionseinheiten subventioniert.

Donostia
1 Jahr her
Antworten an  ahgee

Wow!!!! Ist das wirklich so? Wenn ja dann ist das Planwirtschaft erster Güte. Man wird für das Nichtstun bezahlt. War ja in der DDR auch so. Sobald kein Material da war wurde halt nicht mehr gearbeitet. Die Leute trotzdem bezahlt und niemand entlassen. Wohin das geführt hat wissen die meisten Bürger.

A rose is a rose...
1 Jahr her

Ich fürchte nur, dass die vielen jungen Männer, die sich an die bedingungslose Rundumversorgung gewöhnt sind, wenig Verständnis dafür haben werden, wenn es plötzlich kalt und dunkel bei ihnen in der Wohnung wird und das monatliche Geld reduziert wird oder sogar ausbleibt.

J.Thielemann
1 Jahr her

https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/kanada-gasturbine-nord-stream-101.html Die Bundesregierung zeigte sich erwartungsgemäß erfreut – sie hatte sich in den vergangenen Wochen intensiv um die Freigabe der Turbine bemüht. Eine- nochmal zum Mitscheiben: EINE Gasturbine ist vakant- und die Folgen sind so gravierend, dass sich die Regierung explizit für die Lieferung bedankt. Wenn unsere ganzen kritischen Infrastrukturen so gestrickt sind, na dann gute Nacht. Blick in die Zukunft: Wir haben heute den 13. Februar 2023. Die Bundesregierung bedankt sich ausdrücklich für die Elektroheizung und das Dieselaggregat fürs Kanzleramt. Die Staatsempfänge der letzten anderthalb Monate können jetzt nachgeholt werden. PS: https://www.bz-berlin.de/berlin/vortrag-abgesagt-so-redet-sich-der-praesident-der-humboldt-uni-raus Frage an Radio Eriwan: Kann die Humboldt-… Mehr

Alrik
1 Jahr her

Zur DMV Deutsche Metallveredelung GmbH: diese Firma verzinkt Bauteile und/oder beschichtet sie mit einem kathodischen Tauchlack, beides Prozesse die viel elektrischen Strom benötigen.
Schon seit Jahren ist dieser Markt starken Preisdruck durch die Kunden (u.a. die Automobilindustrie) ausgesetzt, und in der Branche wurde gescherzt das man als Verzinkerei drei Schichten fahren muß: die erst Schicht um die Löhne zu bezahlen, die zweite Schicht um die Lieferanten zu bezahlen und die dritte Schicht um den Bankkredite zu bedienen…
Auch hier haben die steigenden Strompreise zugeschlagen, und auch Firmen die bislang weniger Preisdruck hatten werden davon betroffen sein.

Alrik
1 Jahr her

Zu Trimet: nicht das Gas dürfte das Problem sein, sondern der Strombedarf für die Elektrolyse von Aluminium aus der Salzschmelze. Bei den nötigen hohen Temperaturen dürfte die Schmelze vermutlich auch elektrisch geheizt werden. Zudem hat Trimet einige insolvente Aluminiumproduzenten aufgekauft, die Probleme in der deutschen Aluminiumindustrie bestehen also schon länger, und Trimet ist der lezte große Überlebende der jetzt durch die steigenden Strompreise den Todesstoß erhält.