Der Autoindustrie drohen horrende Ausfälle durch den Ukraine-Krieg

Bei einer Verschärfung des Handelsembargos, einem Stopp der russischen Energielieferungen oder einem lange andauernden Krieg wäre in Deutschland die Autoindustrie ökonomisch Hauptleidtragender. Ausgerechnet dem Motor der deutschen Wirtschaft droht dann der Kollaps.

IMAGO / MiS
Kabelbäume mit orangener Sicherheits-Ummantelung an einem Mercedes-Modell EQ, September 2021.

Die Lage der deutschen Autoindustrie ist ernst, sehr ernst sogar. Die Gefährdungslage für Deutschlands zentralen Industriezweig hat sich durch den Ukraine-Krieg substanziell verschärft.

Bundeskanzler Olaf Scholz charakterisierte den Überfall Russlands auf die Ukraine als Zeitenwende. Europa und die freie Welt wurden zur Gegenwehr gezwungen. In ungewohnter Einigkeit verhängten westliche Staaten diesmal, anders als 2014 bei der Besetzung der Krim durch russische Truppen, einschneidende Sanktionen für Unternehmen und Privatpersonen in Russland, die das Land von internationalen Handels- und Finanzströmen abschneiden.

Diese Maßnahmen gehen vielen nicht weit genug. So sind zum Beispiel Öl- und Gasimporte aus Russland aus Rücksicht auf die Versorgungslage vor allem in Deutschland bisher aus dem Sanktionskatalog weitestgehend ausgenommen. Das Damoklesschwert einer nochmaligen Verschärfung des Handelsembargos oder eines einseitigen Stopps der russischen Energielieferungen nach Deutschland, vor allem aber einer Verlängerung des Krieges in der Ukraine mit allen Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland hängt in der Luft. Hauptleidtragender in Deutschland wäre die Autoindustrie, der Motor der deutschen Wirtschaft.

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Zwar kündigte sich ein Ende des freien Welthandles mit allen schädlichen Wirkungen auf eine so stark exportabhängige Branche wie die Autoindustrie bereits zur Trump Ära an, mit all den Schikanen, Handelsembargos und Sonderzöllen. Damit wurde die Schlüsselindustrie aber fertig, da blieben Zeit und Raum für geordnete und beherrschbare Standortmaßnahmen. 

Doch diesmal hat die Gefährdung eine andere Qualität. Schiebt man die PR- Presseverlautbarungen ausnahmslos aller Hersteller über Rekordgewinne im abgelaufen schwierigen Jahr 2021 und gigantische Investitionsprogramme in und für die Zukunft beiseite und hört auf den „Flurfunk“ in den Führungsetagen der Konzernzentralen, so ergibt sich ein völlig anderes Bild: Noch nie in der Nachkriegszeit, selbst während der Ölkrisen und Sonntagsfahrverbote nicht, war die gesamte Branche über die ganze Wertschöpfungskette hinweg so nahe am kollektiven Kollaps wie zu Frühjahrsbeginn 2022.

Wichtige Zulieferungen drohen zu versiegen

Grund dafür ist Materialmangel durch allmähliches Versiegen bis hin zum totalen Ausbleiben strategisch wichtiger Zulieferungen von Kabelbäumen aus der Ukraine, teilweise auch von seltenen Rohstoffen wie Neon-Gas aus Russland, Letzteres aber irgendwie kompensierbar. Dagegen führt die fortschreitende Unterbrechung der Zulieferung von Kabelbäumen zu einer einzigartigen Bedrohung der gesamten automobilen Wertschöpfungskette in Deutschland – mitsamt zahlreichen Unwägbarkeiten für die gesamte Volkswirtschaft.   

Die amtliche Außenhandelsstatistik und manche Studien suggerieren ein völlig falsches Bild von der Dramatik der Lage. Danach nehmen rückblickend Russland und vor allem die Ukraine mit minimalen Anteilen im einstelligen Bereich an den Bezügen der deutschen Autohersteller – statistisch absolut korrekt – eine völlig vernachlässigbare Position im Liefer- und Wertschöpfungsnetzwerk der deutschen Hersteller ein. 

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Die Wirklichkeit 2022 ist jedoch anders. Und wesentlich brisanter als im Vorjahr, als zunehmende Lieferengpässe aus Asien bei den strategisch wichtigen Speicherchips zwar zu Produktionsunterbrechungen bis hin zu zeitweiligen Werkschließungen und Kurzarbeit geführt haben. Aber eben nur zu Lieferengpässen, und nicht zu totalen Beschaffungs- und Lieferausfällen, wie sie gegenwärtig bei den Kabelbäumen aus der Ukraine drohen. 

Die Speicherchip-Engpässe konnten von der Branche über den Weltmarkt aufgefangen und zum Teil kompensiert werden. Oder die Halbleiter konnten auf der Halde in den fertig produzierten Autos nachgerüstet werden. 

Demgegenüber rührt der drohende kriegsbedingte Totalausfall von Lieferungen von Kabelbäumen aus der Ukraine, anders als bei den Chips, an die Substanz der Branche. Denn Kabelbäume sind keine Standardware, sondern hersteller- und modellspezifisch designte Konfektionsware, wenn auch in Massen hergestellt. 

Kabelbäume sind nicht nachrüstbar. Sind sie nicht vorhanden, können Autos nicht gebaut werden, steht die gesamte Wertschöpfungskette bis zum letzten kleinen Dritt- und Viertstufen-Lieferanten still; und auch beim Bäcker um die Werksecke werden weniger Brötchen gebacken. 

Alternative Beschaffungsquellen stehen kurzfristig keinem deutschen Hersteller offen. Über das herstellerbezogene individuelle eigene Lieferantennetzwerk hinaus sind zusätzliche Zulieferungen ausgeschlossen. Selbst wenn Kabelbäume außerhalb der Ukraine für die deutsche Autoindustrie gefertigt werden könnten, sind die Kapazitäten dieser Zulieferer voll ausgeschöpft, kurzfristige Aufstockung absolut ausgeschlossen!

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Dem Vernehmen nach bezieht die deutsche Autoindustrie als Ganzes „nur“ 80 Prozent ihrer Kabelbäume aus der Ukraine. Einzelne Hersteller von Gewicht allerdings sogar bis zu 100 Prozent, nachdem in den vergangenen Jahren die gesamte Kabelbaumproduktion zum Beispiel aus Nordafrika abgezogen und wegen der niedrigen Stundenlöhne von Euro 2,00 in die Ukraine verlagert wurde. Alle waren daran beteiligt. Eine kurzfristige regionale Rückverlagerung ist ausgeschlossen; und langfristig sind wir alle tot, wie schon Maynard Keynes zu sagen pflegte. Sollten die Lieferungen aus der Ukraine innerhalb der nächsten Wochen langsam völlig zum Erliegen kommen, steht die Produktion in den deutschen Werken über die gesamte Wertschöpfungskette hin still. Die Folgen für Wachstum und Beschäftigung sind nicht absehbar. 

Zusätzlich gibt es Probleme im Logistik- und Transportgewerbe. Der Krieg in der Ukraine sorgt nicht nur in Deutschland, sondern europaweit für Lieferprobleme. Das betrifft nicht nur die geschlossenen Fabriken im Kriegsland, sondern auch den Transport von dort. Rund 100.000 ukrainische Lkw-Fahrer waren vor dem russischen Überfall im europäischen Warenverkehr unterwegs. Allein sieben Prozent aller deutscher LKWs we(u)rden von Ukrainern gesteuert. Damit steht nicht nur die Zulieferung von Teilen in die Autoindustrie, sondern die gesamte Versorgung Deutschlands auf dem Spiel, auch mit Getreide aus den Kornkammern Ukraine und Russland. 

Eine rasche Beendigung des Krieges ist also nicht nur aus ethisch/humanitären Gründen unbedingt zu wünschen, sondern auch im ökonomischen Interesse!

Welche Lehren müssen die deutschen Autohersteller aus dem Lieferdebakel mit der Ukraine ziehen:

  1. Ein gelegentlicher Blick der Jung-Ökonomen auch in die Lehrbücher der Altmeister der deutschen Betriebswirtschaft – ja, so etwas gab es mal –, wie zum Beispiel Guttenberg, Wöhe, Hax etc., wäre durchaus ratsam. Ausbildung nur nach moderner Managementliteratur allein führt in die Irre.
  2. Die Notwendigkeit zur permanenten Kostensenkung und Effizienz-Steigerung im Wettbewerbssystem einer funktionierenden Marktwirtschaft darf nicht dazu führen, politische Beschaffungsrisiken völlig aus dem betriebswirtschaftlichen Gewinn-Maximierungs-Denken auszuklammern. Volkswirtschaftslehre hieß früher einmal „Politische Ökonomie“ – und das mit gutem Grund. Denn: “Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ (Koh. 1,9-11)
  3. Die Globalisierung hat erkennbar ihren Zenit überschritten. Die Autoindustrie muss sich regional neu aufstellen.
  4. Single Sourcing als alleinige Kosten-Zielvorgabe und -Leitlinie in Einkauf und Logistik hat sich als fataler Irrtum herausgestellt. 
  5. Die aktuelle Beschaffungskrise beflügelt die Lernkurve für Vorstand und Einkauf: Kosten sind viel, aber nicht alles!
  6. Risikobewusstsein und Risikoabwägung sowie Denken in Vorsichtskategorien, wie ehemals bei ehrbaren Kaufleuten üblich, sollte bei Grundsatzentscheidungen im Führungscorps wieder einen höheren Stellenwert einnehmen. Versorgungssicherheit war auf Führungsebene kein Thema mehr. Nach dem Motto: Strom kommt aus der Steckdose und Teile sind zu niedrigsten Kosten überall problemlos erhältlich. – Weit gefehlt!

An der aktuellen Gefährdungslage der Branche wird die Umsetzung dieser Erkenntnisse nichts ändern; das dauert. Aber wie der Volksmund schon sagt: „Es kann nichts so schlecht sein, dass es nicht auch für etwas gut ist.“ 

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Kommentare ( 37 )

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A.G.
2 Jahre her

Verschwörungstheorie-Modus auf „ON“: wollte man nicht die deutsche Automobilindustie „zerstören“? es wird doch seit Jahren darauf hingearbeitet den Verbrennermotor und den Individualverkehr zu verteufeln….da „passt“ doch so ein Krieg ganz gut ins Konzept…zumal man nem anderen die Schuld geben kann (Putin ist Schuld). Nebenbei liefert der Kireg vielen weitere Entschuldigungen: Preissteigerungen durch Verschuldung und Corona Politik –> Putin ist schuld. Aufarbeitung von Corona wir verschoben oder fällt gar komlett unter den Tisch –> Putin ist Schuld. Finanzsystem am Ende (Corona kam da auch gerade richtig) –> Einführung digitaler Euro –>Putin ist Schuld. Und so könnte man noch viele Beispiele anführen.

Orlando M.
2 Jahre her

„bis hin zum totalen Ausbleiben strategisch wichtiger Zulieferungen von Kabelbäumen aus der Ukraine“ Dann hätten die eben die Kabelbäume besser in Ostdeutschland fertigen lassen! Dort wären die Menschen dankbar für die Jobs gewesen. Jedoch die Ukraine war ja günstiger. Aber eben auch politisch instabil und sich dann derart einseitig auf diese Lieferungen zu verlassen, ist seit dem Euromaidan keine weise Entscheidung mehr. Kabelbäume sind nun auch nicht das technologische Herz und der anspruchsvollste Teil im KFZ, die kann man an vielen Standorten fertigen lassen. Da die Autobauer weltweit ihre Niederlassungen haben, finden sich sicher Kontakte. Wird halt nicht billiger als… Mehr

ketzerlehrling
2 Jahre her

Ob für den Großteil der Deutschen ein neues Auto derzeit auf der Prioritätenliste ganz oben steht, darf man eher bezweifeln.

Blackholesun
2 Jahre her
Antworten an  ketzerlehrling

Du hast das Problem vollständig erkannt. Respekt.

Mausi
2 Jahre her

Die Tage wurde auch verbreitet, der Krieg sei an fehlenden Schrauben und Nägeln schuld. Was so nicht stimmt. Die fehlen bereits aufgrund der Lieferkettenprobleme verursacht durch die Pandemie. Die Container hängen seit Monagen in China fest.

elly
2 Jahre her

Deutschland: „Seit der Krim-Annexion durch Russland 2014 hat Deutschland die Ukraine laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im zivilen Bereich mit bilateralen Hilfen von 1,83 Milliarden Euro unterstützt. Damit ist die Bundesrepublik neben den USA größter bilateraler Geber in diesem Bereich. Hinzu kommen Finanzmittel, die Deutschland über die EU an die frühere Sowjetrepublik zahlt. Der deutsche Anteil an den gut 17 Milliarden Euro, die von der EU seit 2014 in Form von Zuschüssen und Darlehen an die Ukraine gingen, beträgt laut BMZ fast ein Viertel, also etwa vier Milliarden Euro.“ https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-deutschland-hilfen-100.html alles nur um im Hochpreisland die Löhne & Gehälter niedrig zu halten. Der Wunsch Gretas,… Mehr

Wenzel Dashington
2 Jahre her

Da eine Abhängigkeit von China besteht wurde Ende letzten Jahres, von vielen Seiten, vor der Verknappung von Magnesium gewarnt. Die Reserven für die Aluminiumproduktion waren so gut wie aufgebraucht. Heute vermeldet die Welt
„Größter deutscher Alu-Hersteller muss Produktion halbieren“
In der Begründung werden die hohen Energiepreise durch den Ukrainekrieg genannt. So geht Reinwaschung, nicht die dilettantischen Politiker, die Deutschland in gravierende Abhängigkeiten gebracht haben sind schuld, sondern Putin mit seinem Krieg.

elly
2 Jahre her
Antworten an  Wenzel Dashington

„ sondern Putin mit seinem Krieg.“ nicht dass ich Putins Krieg entschuldigen möchte, aber er ist nicht der alleinig Schuldige. 16.05.2014,“Ukraine-KriseHelmut Schmidt wirft EU Größenwahn vorHelmut Schmidt rechnet mit der EU-Außenpolitik in der Ukraine-Krise ab. Der Altkanzler attestiert den Brüsseler Beamten Unfähigkeit – und warnt vor der Gefahr eines dritten Weltkriegs. (…) Er wirft Brüssel vor, sich zu sehr in die Weltpolitik einzumischen. „Das jüngste Beispiel ist der Versuch der EU-Kommission, die Ukraine anzugliedern“, sagte der Sozialdemokrat in einem Interview mit der „Bild“-Zeitung. Falsch sei auch, Georgien an sich zu ziehen. „Das ist Größenwahn, wir haben dort nichts zu suchen.“ (..)““Nicht von… Mehr

Freige Richter
2 Jahre her

Klar, jetzt kann die Autoindustrie den Zusammenbruch auch den Russen in die Schuhe schieben. Mit dem Zusammenbruch haben die dt.Manager nämlich garnix zu tun. Den Verzicht auf den Bau von Verbrennungsmotoren ab 2025 (Audi) hat bestimmt auch Putin veranlasst.

JamesBond
2 Jahre her

Mc Kinsey & Co sind mit ihren Globalen just in time Lieferketten und dem verordneten Sparzwang gescheitert. Es war vorhersehbar, dazu eine Beispiel aus dem A380 Projekt bei Airbus: Strategische Reduzierung der Zulieferer von Nieten führten zu massiven Engpässen in der Produktion aller Flugzeuge.
Sparzwang und falsch verstandenes Controlling sowie fehlendes Risikomanagement verbunden mit GewinnGier sind die Ursachen. Weiter so!

Exilant99
2 Jahre her

Da müssten Grüne und SPD doch vor Freude im Dreieck springen. Das sind gute Nachrichten. Die Autoindustrie produziert zu viel CO2. Die Klimaziele bis 2030 könnten doch wohl erreicht werden. Gut, ein Teil der deutschen Mittelschicht wird zwar verarmen, aber der Planet ist gerettet. Frieren für die Ukraine. Hungern für die Ukraine und bald arbeitslos fürs Weltklima.

vojo333
2 Jahre her

Die Kabelbäume werden in der Ukraine im Westen produziert. Wurden.
Bisher gibt es keinen Grund die Produktion einzustellen, es sei denn aus niederen Gründen.
Darüber hinaus darf man der Automobilen Industrie vorhalten, ein Haufenrisiko ignoriert zu haben. Aus purer Gier.